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Pflanzenschutz: Der Kollaps droht

Lesezeit: 9 Minuten

Die Regelungswut der EU-Kommission aber auch der nationalen Zulassungsbehörden verursachen einen Zulassungsstau bei Pflanzenschutzmitteln. Gehen den Landwirten die Mittel aus?


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Fusarien schädigen das Getreide, gleichzeitig saugen Blattlauskolonien an den Beständen. Der Fuchsschwanz wächst so prächtig, dass vom Weizen kaum noch etwas zu sehen ist – was wie ein Horrorszenario klingt, könnte bald bittere Wahrheit werden.


Bereits jetzt laufen immer mehr Zulassungen von Pflanzenschutzmitteln einfach aus. Die Zeitabstände, in denen die Industrie neue Wirkstoffe entwickelt, verlängern sich zunehmend. Wichtige Wirkstoffgruppen wie die Neonicotinoide, die Jahrzehnte als sicher galten, verschwinden vom Markt. Kürzlich haben die zuständigen Behörden die Zulassung von Schneckenkorn mit dem Wirkstoff Methiocarb widerrufen. Diese Liste ließe sich noch weiterführen.


Hinzu kommt Folgendes: Der Gesetzgeber zieht die Daumenschrauben bei den Anwendungs-Auflagen einiger Mittel teils soweit an, dass sich diese kaum noch einsetzen lassen. Ein Beispiel dafür sind die Auflagen für Clomazone-haltige Rapsherbizide. Woran liegt das?


Chaos im Zulassungs-System:

Mit der neuen Pflanzenschutzverordnung (EG 1107/2009) hat Brüssel mehr „Mitspracherecht“ bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln erhalten. So hat man bei der Mittelzulassung das sogenannte zonale Verfahren eingeführt. Die EU-Mitgliedstaaten wurden dazu in die drei Zonen Nord, Mitte, Süd eingeteilt. Deutschland gehört mit Ländern wie Belgien, den Niederlanden, Österreich, England usw. zur mittleren Zone.


Bei dieser neuen zonalen Zulassung stellt ein Hersteller einen Zulassungsantrag für mehrere Länder in einer Zone parallel. Dabei übernimmt ein Staat die Bewertung der Mittel (bewertender Mitgliedstaat), die anderen Länder können dann auf dieser Basis kommentieren (beteiligte Mitgliedstaaten). Das soll das Verfahren verkürzen.


Ziel dieser EG-Verordnung war es, die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln in der EU zu vereinheitlichen und das Verfahren zu beschleunigen. Eigentlich eine gute Idee, die in der Umsetzung allerdings auf der Strecke bleibt. Derzeit rollt durch die Verordnung eine Aktenflut auf die Zulassungsbehörden zu, die kaum zu stemmen ist.


„Seit Einführung des Verfahrens liegen bei uns aktuell 180 Anträge als bewertender Mitgliedstaat vor“, erklärt Dr. Hans-Gerd Nolting, Leiter der Zulassungsstelle beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). „Zu schaffen sind jährlich 40 Anträge.“ Den Stand der Anträge in der EU entnehmen Sie Übersicht 1. Hauptgrund für diesen Zulassungsstau sind die großen Unterschiede in der Zulassungspraxis der EU-Mitgliedstaaten.


Es klemmt an allen Ecken:

„Probleme gibt es vor allem, weil jedes EU-Land die Mittel bzw. Wirkstoffe nach unterschiedlichen Anwendungskriterien bewertet“, erklärt Prof. Dr. Bernd Böhmer, Leiter des Pflanzenschutzdienstes der LWK Nordrhein-Westfalen. „Wegen die­ser fehlenden Harmonisierung zwischen den EU-Staaten funktioniert die gegenseitige Anerkennung nicht.“ Hier drei Beispiele:


  • Die Indikationszulassung, die z. B. festlegt, in welcher Kultur oder gegen welchen Schaderreger ein Mittel eingesetzt werden darf, ist in den EU-Staaten unterschiedlich geregelt. Bisher hat die Industrie den Indikationsumfang bestimmt und ihn wegen der Kosten an die Bedingungen in den Ländern angepasst. Ist ein Produkt z. B. in England gegen einen wichtigen Schaderreger zugelassen, kann es sein, dass dieser Erreger bei der Zulassungsbeantragung in Deutschland fehlt, da er bei uns weniger relevant ist. „Im zonalen Verfahren mit gegenseitiger Anerkennung darf es diese Unterschiede nicht geben“, so Böhmer. „Denn fehlt eine Indikation in einem EU-Land, müssen die zuständigen Behörden in diesem Land erneut prüfen. Diese doppelte Bewertung verlängert das Zulassungsverfahren deutlich.“
  • Nicht harmonisierte Bewertungskriterien gibt es auch bei der Gewässergefährdung oder bei Nicht-Ziel-Organismen. „Die Beurteilung lässt sich derzeit nicht standardmäßig prüfen“, erklärt Böhmer. Zur Veranschaulichung: Bei der Risikobewertung eines Wirkstoffs auf den „Nicht-Ziel-Organismus“ Regenwurm betrachtet Deutschland eine Bodentiefe von 1 cm, andere Länder dagegen 5 cm. Weil die Ergebnisse nicht übertragbar sind, prüfen die nationalen Behörden nach. Die Folge sind Verfristungen bei Zulassungsübertragungen.
  • Erheblichen Abstimmungsbedarf gibt es auch bei den Anwendungs-Auflagen von Mitteln. So sind die Abstandsauflagen, Bestimmungen zu Abdriftreduzierung oder Einsatzzeiträume in fast jedem EU-Land anders.


Die EU-Länder wollen diese Unterschiede in den Bewertungsgrundsätzen beseitigen und entwickeln dafür in Arbeitsgruppen technische Leitfäden. Wie lange die Abstimmung zwischen den Ländern dauern wird und ob man sich überhaupt einigen kann, ist fraglich.


Doch nicht nur bei der Harmonisierung der Bewertung hakt es: Die EU-Verordnung verlangt zusätzlich, sogenannte Substitutionskandidaten zu identifizieren. Das heißt: Produkte, die diese Wirkstoffe enthalten, sollen ersetzt werden, wenn andere als unbedenklicher oder günstiger bewertet werden. „Die vergleichende Bewertung schafft Mehrarbeit für die Behörden und wird den Zulassungsstau noch weiter anheizen“, resümiert Volker Koch-Achelpöhler, Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes Agrar (IVA). „Das gilt vor allem, weil es für die vergleichende Bewertung noch gar kein Verfahren gibt.“


Dazu kommt noch, so Koch-Achelpöhler, dass bei der Genehmigung eines Wirkstoffs jetzt auch die Mittelzulassungen überprüft werden. Bisher hat Deutschland die Mittelzulassung für 10 Jahre erteilt, unabhängig von der Genehmigungsdauer des Wirkstoffs. Jetzt ist es möglich, dass ein in 2012 zugelassenes Mittel wegen der Wirkstoffgenehmigung bereits 2016 wieder zur Prüfung ansteht, obwohl die Mittelzulassung noch bis 2022 gilt. Noch aufwendiger wird es, wenn das Mittel 2 oder 3 Wirkstoffe enthält. „Die zusätzlichen Prüfungen erhöhen nicht die Sicherheit der Wirkstoffe, sondern treiben nur die Kosten und die Dauer der Zulassungsverfahren nach oben“, erklärt er.


Umweltbundesamt als Bremser?

In Deutschland sind an der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln vier Behörden beteiligt. Das BVL lässt die Mittel nach positiven Berichten des Julius Kühn-Instituts (JKI), des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) und des Umweltbundesamtes (UBA) zu. Das UBA hat dabei – seit den „Künast-Zeiten“ – ein Vetorecht und kann somit eine Zulassung blockieren. Welche Aufgaben die jeweiligen Behörden im Zulassungsprozess haben, entnehmen Sie der Übersicht auf Seite 64. Auf diese Behörden kommt die erhebliche Mehrarbeit durch die EU-Verordnung zu.


Wegen des drohenden Zulassungsstaus wollen die Behörden die internen Prozesse optimieren. Dazu haben sie bereits eine Verwaltungsvereinbarung getroffen. Doch dem UBA scheint es nicht daran gelegen zu sein, das Zulassungsverfahren zu beschleunigen. Ganz im Gegenteil: Derzeit sattelt das UBA munter weitere Auflagen drauf und begründet diese als „fachlich gerechtfertigt.“


„Im Laufe der Zeit sind die Anforderungen an die Umweltrisikobewertung in der EU gestiegen – und das ist gut so“, erklärt Dr. Jörn Wogram vom Umweltbundesamt. „Wir beziehen neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein, versuchen aber, den Aufwand gering zu halten. So berücksichtigen wir seit dem Bienensterben 2008 z. B. die Staub-abdrift in gebeiztem Saatgut stärker.“


Auch den Schutz der biologischen Vielfalt will das UBA an die Zulassungsfähigkeit von Wirkstoffen knüpfen. Dazu schlägt das UBA vor, dass Landwirte Blüh-, Feldfrucht- oder Bracheflächen als unbehandelte Rückzugsgebiete für Tierarten bereitstellen sollen. Auch Extensivnutzungen wie Getreide-Dünnsaaten enthält der UBA-Vor­schlag – spätestens jetzt geht jedem Landwirt der Hut hoch. Wie soll man bei der Auflagenflut noch wirtschaftlich arbeiten? Offenbar hat sich das UBA mittlerweile weit von der Landwirtschaft entfernt. An pragmatischen, in der Praxis umsetzbaren Lösungen scheint der Behörde gar nicht gelegen zu sein.


System steuert auf Kollaps zu:

Als ob dieser Regulierungswahn nicht schon genug wäre, setzt die EU noch eins drauf. Zusätzlich hat Brüssel mit der EU-Verordnung Ausschlusskriterien (Cut-off-Kriterien) zur Wirkstoffbewertung eingeführt (siehe auch top agrar 11/2013, ab Seite 60). Neu dabei ist, dass nicht mehr – wie bisher – das tatsächliche Risiko bewertet wird, das von einem Wirkstoff ausgeht, sondern die mögliche Gefahr. Die EU kehrt damit der bewährten Risikobewertung den Rücken und wendet sich jetzt dem Vorsorgeprinzip zu.


Unabsehbare Folgen könnte das Kriterium „Schädliche Wirkung auf den Hormonhaushalt“ (endokrine Wirkung) haben. Zur Definition hat die EU-Kommission einen Vorschlag vorgelegt, den sie in diesem Herbst diskutieren will – geplant war das bereits Ende 2013. Der aktuelle Vorschlag ist äußerst kritisch, weil er vorsieht, dass ein Verdacht auf eine schädliche hormonelle Wirkung für eine Nichtzulassung bereits reicht.


„Das würde das Ende vieler wichtiger Wirkstoffe bedeuten“, so Volker Koch-­Achelpöhler vom IVA. „Ein funktio­nierender Pflanzenschutz wäre dann nicht mehr möglich.“ Eine Folgenab­schät­zung der britischen Zulassungsbehörde kommt zu dem Ergebnis, dass im schlimmsten Fall 75 % der Fungizide, inklusive der Azole, vom EU-Streichkonzert betroffen wären.


Derzeit diskutiert die EU-Kommission in diesem Zusammenhang einen von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vorgelegten Entwurf zur Leitlinie einer Risikobewertung von Insektiziden auf Bienen. „Der Vorschlag definiert Anforderungen, vor allem bezüglich von Feldstudien, die in der Zulassungspraxis schon rein technisch nicht einzuhalten sind“, erklärt Koch-Achelpöhler.


Verheerende Folgen:

„Die kaum überwindbaren Hürden bremsen die Innovationsgeschwindigkeit deutlich“, erklärt Koch-Achelpöhler. Viele neue Produkte enthalten alte Wirkstoffe mit neuen Formulierungen. Neue Stoffe sind kaum noch in der Pipeline (Übersicht 2).


Während zudem die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beim Pflanzenschutz und in der Züchtung weltweit deutlich steigen, sind sie in der EU in den vergangenen 10 Jahren um 15 % gesunken (Übersicht 3). Wegen der hohen Kosten von mittlerweile mehr als 200 Mio. € für die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs und der Planungsunsicherheit in der EU, wird es künftig weniger Wirkstoffe geben. Treffen würde der schleichende Wirkstoffschwund als erstes die „kleinen“ Kulturen, zu denen auch Kartoffeln und Rüben zählen.


Im schlimmsten Fall wären bei strenger Definition der endokrinen Wirkung von Wirkstoffen durch die EU künftig Septoria tritici, DTR, Gelbrost u. a. nicht mehr bekämpfbar.


1. An der zonalen Zulassung ist nicht mehr zu rütteln, denn diese ist bereits geltendes Recht. Wichtig ist jetzt, dass die beteiligten Zulassungsbehörden die Bewertungskriterien schnellstmöglich harmonisieren, um Doppelbewertungen und damit Verzögerungen im Zulassungsverfahren zu vermeiden. Die deutschen Zulassungsbehörden sollten Anforderungen stellen, die auch erfüllbar sind. Denn im „Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutz“ ist nicht nur ein geringerer Wirkstoffeinsatz festgeschrieben, sondern auch, dass zur Sicherung der Nahrungsmittelproduktion ausreichend Wirkstoffe verfügbar sein müssen.


2. Die zuständigen Behörden sollten Personal aufstocken, um eine zügige Bearbeitung der Zulassungsanträge zu gewährleisten. Nur so lassen sich Behandlungslücken vermeiden.


3. Die Verfahrensregeln müssen klar sein. Das Umweltbundesamt darf nicht ständig „draufsatteln“.


4. Die Industrie muss Geld in die Hand nehmen, um Innovation voranzutreiben. Zudem sollten die Zulassungs-Unterlagen bestmöglich aufbereitet sein, damit sie zügig bewertet werden können.


5. Aktiv sollten sich Landwirte und Verbände an der Folgenabschätzung (Impact Assessment) der EU-Kommission beteiligen, die in diesem Herbst stattfinden soll. Hier wird der Vorschlag zur endokrinen Wirkung von Pflanzenschutzmitteln diskutiert. Für die Durchführung hat die EU klare Vorgaben (http://ec.europa.eu/governance/impact/index_en.htm). Hier muss der Berufsstand vehement die eigenen Interessen vertreten und den Nutzen des chemischen Pflanzenschutzes in den Vordergrund rücken.


Matthias Bröker


Auf Seite 62 stellt sich Dr. Hans-Gerd Nolting, Leiter der Zulassungsstelle beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, unseren Fragen.

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