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Zeitenwende in der Vieh­vermarktung?

Lesezeit: 7 Minuten

Seit April handelt Tönnies selbst Vieh. Der Handel ist alarmiert, die Landwirte sind verunsichert und die gesamte Branche ­rätselt über die Hintergründe. top agrar hat sich umgehört.


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Deutschlands größter Schlachter wird zum Viehhändler.“ Diese Nachricht sorgt in der Branche seit Wochen für Wirbel. Wer anfangs dachte, Tönnies schnuppert nur mal in den Viehhandel rein, dem haben die Aussagen von Heiner Strömer, Geschäftsführer der Tönnies Livestock GmbH sicherlich die Augen geöffnet: Quasi aus dem Stand soll das neue ­Unternehmen zum drittgrößten Ferkelvermarkter Deutschlands werden. Schlachtschweine, Sauen, Kälber, Fresser, Bullen und Schlachtkühe gehören künftig ebenfalls zum Geschäft. Dafür will man binnen eineinhalb Jahren 20 Mitarbeiter einstellen. Für Beobachter steht die deutsche Viehvermarktung damit vor einem Umbruch.


Tönnies kennt nur groß.

Was Clemens Tönnies anpackt, macht er im großen Stil. Kein Wunder also, dass der Tönnies-Viehhandel zwei Wochen nach dem Start ankündigte, schon bald mehr als 2 Mio. Ferkel handeln zu wollen. Andere Händler brauchen Jahrzehnte dafür. Trotzdem zweifelt kaum jemand in der Branche daran, dass Tönnies seine Umsatzziele erreicht. Denn der Stratege aus Rheda-Wiedenbrück hat kurzerhand den halben Mitarbeiterstab des Westfleisch-Nutzviehzentrums übernommen. Von den sechs Mitarbeitern, die Tönnies Livestock bisher beschäftigt, stammen fünf von der Konkurrenz aus Westfalen. Damit schlägt Tönnies gleich 2 bis 3 Fliegen mit einer Klappe:


  • Die Ex-Westfleisch-Mitarbeiter bringen Kunden und Kontakte mit.
  • Tönnies kauft das Know-how für den Auf- und Ausbau eines Viehhandels ein.
  • Der Konkurrent, der zuletzt mit der Gausepohl-Übernahme und der Gründung der Sauenfleisch Kooperation mit Danish Crown den Tönnies-Konzern ärgerte, wird empfindlich geschwächt.


Handel in Aufruhr:

Den gesamten deutschen Viehhandel versetzen die forschen Ankündigungen Strömers in Alarmstimmung. Bisher hatte Tönnies den freien Viehhandel stets gelobt und die Vorteile der Arbeitsteilung zwischen Viehhandel und Schlachtung betont.


Im Hause Tönnies versucht man zu beschwichtigen: „Wir wollen dem Viehhandel nichts wegnehmen“, beteuert Strömer. Man könne ja nicht alle 17 Mio. Schlachtschweine selbst erfassen. Außerdem sei in Rheda-Wiedenbrück bisher kein eigener Fuhrpark geplant.


Bisherige Lieferanten könnten also zumindest auf Speditions-Aufträge hoffen. Doch den meisten Viehhändlern dürfte das nicht reichen, denn im Speditionsgeschäft sind die Margen sicherlich geringer als im klassischen Handel. Einige wollen sich deshalb nicht degradieren lassen und geben sich kämpferisch: „Die Konkurrenz um die Tiere war bei uns immer groß und die Margen eng. Ich bezweifle, dass das jemand von Rheda aus besser kann als wir vor Ort“, sagt ein Händler aus Südoldenburg.


Kampflos werden Westfleisch, Erzeugergemeinschaften und andere Händler das Feld deshalb sicherlich nicht räumen. Bei Westfleisch möchte man das Wachstum der letzte Jahren sogar fortsetzen. Das sagt zumindest der neue Chef des Westfleisch-Nutzviehzentrums, Jürgen Jungermann.


Der Wettbewerb um Nutz- und Schlachttiere dürfte jedenfalls härter werden. Bei einigen Sauenhaltern sollen die Konditionen für ihre Ferkel sogar schon aufgebessert worden sein.


Nur Mittel zum Zweck?

Tönnies handelt aber nicht plötzlich Lebendvieh, um damit reich zu werden. Offiziell heißt es, man begegne mit der Gründung der Livestock GmbH, den Anforderungen an kettenübergreifende Systeme. Der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) fordert in der Tat Lieferketten, die über alle Stufen hinweg transparent, nachhaltig und sicher sind. Dadurch nimmt der Informationsfluss vom landwirtschaftlichen Betrieb in Richtung Schlachter und Handel stetig zu.


„In Zusammenarbeit mit der Ferkel-erzeugung können wir zudem besondere Anforderungen für Sonderprogramme leichter umsetzen,“ sagt Dr. Wilhelm Jaeger, Leiter der Abteilung Landwirtschaft bei Tönnies.


Beobachter sehen aber noch einen weiteren Grund, warum Deutschlands größter Schlachter seine Erzeuger stärker an sich binden möchte: Es geht um die Rohstoffsicherung. Bisher ist der Konzern mit dem Gesamtmarkt gewachsen (s. Übersicht S. 124). Doch die Wachstumsjahre sind vorbei. Dr. Albert Hortmann-Scholten von der LWK Niedersachsen rechnet deshalb mit einem Verdrängungswettbewerb. Er rechnet bei den Schweineschlachtungen beispielsweise künftig eher mit 55 Mio. Tieren statt mit 59 Mio. wie bisher. Aus folgenden Gründen:


  • Neue Auflagen beschleunigen den Strukturwandel.
  • Es werden kaum noch neue Ställe genehmigt bzw. gebaut.
  • In bestehenden Anlagen sinkt die Tierzahl durch die „Initiative Tierwohl“.


Tönnies möchte die Schlachtungen trotzdem weiter ausbauen. Für die Interessengemeinschaft der Schweinehalter (ISN) ist es deshalb kein Zufall, dass er über das Ferkelgeschäft in den Viehhandel einsteigt. Die Mitarbeiter der Westfleisch hatten gerade zu ostdeutschen Großbetrieben einen guten Draht. Aber auch in den Niederlanden und Dänemark haben sie Kontakte. Mit vergleichsweise wenigen Betrieben könnte der neue Viehhandel viele Tiere binden und hätte an­schließend auch den Zugriff auf die Schlachtsauen. Außerdem möchte Strömer den Ferkelverkauf mit dem Schlachtschweineeinkauf „geschickt verzahnen“.


Kommt die vertikale Integration?

Die ISN befürchtet Knebelverträge für die Erzeuger. „Das heißt, der Mäster bekommt seine gewünschten Ferkel nur, wenn er im Gegenzug seine Mastschweine liefert!“ glaubt Matthias Quaing, Marktreferent bei der ISN. Mit dem Einstieg von Tönnies in das Viehhandelsgeschäft könnte sich das deutsche Vermarktungsmodell grundlegend verändern. Denn wenn schon bei der Einstallung feststeht, wer die Schlachttiere abnimmt, wird die Fle­xibilität und damit der Wettbewerb stark eingeschränkt. Die Vertrags- und Lohnmast wie im Geflügelbereich würde dann zum neuen Standard.


Für Geflügelhalter ist es normal, sich für eine bestimmte Zeit vertraglich an ein Unternehmen bzw. an einen Schlachthof zu binden. Die Jungtiere werden ebenfalls über diesen „Partner“ bezogen und zum Teil sogar das Futter. Das System wäre auch für den Schweine- oder Rinderbereich nicht völlig neu, denn bei Westfleisch oder Vion sind ähnliche Verträge seit Jahren gängige Praxis. Doch bisher standen das Vertrags-System und die freie Vermarktung in Konkurrenz zueinander, sodass sich jeder Betrieb entscheiden konnte. Wenn nun der Platzhirsch ebenfalls auf Verträge setzt, wäre das eine andere Dimension und der Landwirt hätte am Ende keine wirkliche Wahl mehr.


Für Prof. Dr. Hans-Wilhelm Windhorst von der Uni Vechta ist der Schritt längst überfällig. „Ich erwarte, dass die Schweinebranche in fünf Jahren voll integriert arbeitet, wie die Geflügelwirtschaft!“ Die Vorgaben des LEH an Qualitätssicherung und Rückverfolgbarkeit seien auf Dauer kaum anders zu erfüllen, glaubt er. QS oder staatliche Datenbanken seien im Krisenfall einfach zu träge. Landwirten rät er trotzdem, Ruhe zu bewahren: „Wartet doch erstmal ab, wie die Tönnies-Verträge aussehen!“ Auch die integrierten Systeme stünden in Konkurrenz zueinander. Bei den Hähnchenmästern funktioniere dies schließlich auch. Dort sei es sogar zu einem Wettbewerb der Integratoren Wiesenhof und Rotkötter um die Mäster gekommen. Der Grund: Es gibt im Vergleich zu den Schlachtkapazitäten zu wenig Ställe.


Preisfindung ist in Gefahr!

Die ISN sieht das weniger gelassen. Sie ist überzeugt, dass die stufenübergreifende Zusammenarbeit und Transparenz auch ohne Verträge funktioniert. Das QS-System und die Salmonellendatenbank beweisen dies täglich.


Die ISN-Experten warnen vor den Folgen für die Preisfindung. „Wenn ein Großteil von Schlachttieren an die nachfragemächtigen Unternehmen vertraglich gebunden ist, werden EZGn noch weniger Einfluss auf die Preise nehmen können, als sie es heute schon haben“, glaubt Quaing.


Auch die Westfleisch ist alarmiert – allerdings wohl aus anderen Gründen. Dort ärgert man sich über die „dreiste Abwerbeaktion“ und fürchtet die Übermacht des Marktführers. Das Marktgleichgewicht könne aus den Fugen geraten, heißt es.A. Beckhove

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