Tierwohl erfährt derzeit eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Rund 40 % der Verbraucher äußern sich kritisch zur Tierhaltung, extreme Positionen dazu häufen sich. "Jenseits der meinungsstarken Äußerungen gibt es aber auch wissenschaftliche Bemühungen, sich dem Thema zu nähern", so Professor Dr. Achim Spiller von der Universität Göttingen laut einer aid-Meldung. In seiner Einführung zur Präkonferenz "Tierwohl zwischen Markt und Moral" im Rahmen der 54. Jahrestagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus in Göttingen berichtete er über seine Arbeit zum Thema Zukunft der Tierhaltung.
Im Rahmen eines Gutachtens für den Wissenschaftlichen Beirat im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erarbeiten Spiller und Professor Ute Knierim von der Universität Kassel-Witzenhausen Leitlinien für eine Tierhaltung im Jahr 2035. Sie nähern sich den Fragen sowohl unter fachwissenschaftlichen bzw. tierethologischen als auch gesellschaftlichen Gesichtspunkten. Dabei geht es ihnen darum, den Landwirten ein Stück Planungssicherheit zu geben und Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung aufzuzeigen sowie "ein Stückchen Versöhnung der Gesellschaft mit der modernen Tierhaltung" hinzubekommen.
Stallklima
Im Jahr 2035, so prognostizieren die Wissenschaftler, haben alle Nutztiere Zugang zu verschiedenen Klimazonen (Außenklima). Gesellschaftlich wird eine reine Stallhaltung von Tieren emotional abgelehnt. Wichtig sei es, dass "Tierhaltung wieder sichtbar wird", so Spiller. Die Ablehnung von Schweine- und Geflügelhaltung sei auch deshalb so groß, weil man die Tiere nicht mehr sieht. Milchviehhaltung wird von Verbrauchern durchweg positiver wahrgenommen. Bei Betrachtung aus fachwissenschaftlicher Sicht führen verschiedene Klimazonen bzw. der Zugang zu Außenklima bei den Tieren zum Abbau von Stress. Laut Knierim ist auch denkbar, verschiedene Klimazonen innerhalb des Stalls zu schaffen. Auf diese Weise ließen sich arbeitswirtschaftliche und hygienische Bedenken, die gegen eine Außenhaltung sprechen, abfangen.
Bodenbeschaffenheit
Darüberhinaus sollte jeder Funktionsbereich im Stall mit verschiedenen Bodenbelägen ausgestattet sein. Diese sind thermoableitend und haben einen hohen Liegekomfort. "Liegeschäden durch unzulängliche Bodenbeschaffenheit werden vermieden", so die fachwissenschaftliche Sicht. Sichere Fortbewegung und Wahlmöglichkeiten für das Tier erhöhen das Wohlbefinden. Einstreu – vor allem Stroh – wird mit Wärme und Komfort assoziiert. "Das Sich-Kümmern" wird so mehr in die Gesellschaft kommuniziert, so Spiller.
Beschäftigungsmaterial
Auch Beschäftigungsmöglichkeiten stünden in 2035 jedem Tier zur Verfügung. Nach heutigen Erkenntnissen gehen Verhaltensstörungen zum Teil daraus hervor, dass die Tiere keine Gelegenheit haben sich zu beschäftigen. Daraus ergibt sich die Forderung nach mehr Platz pro Tier, folgert Knierim. Denn Tiere bräuchten Auswahl; auch die Auswahl sich voneinander zu entfernen und Artgenossen auszuweichen. Gleichzeitig ginge mit dem höheren Platzangebot eine bessere Körperkondition der Tiere einher.
Medikamenteneinsatz
Bis 2035 wird der Arzneimitteleinsatz minimiert. Aus gesellschaftlicher Sicht ist der Arzneimitteleinsatz das wichtigste Kriterium für die Ablehnung der modernen Tierhaltung, wobei der Einsatz zur Krankheitsbekämpfung akzeptiert wird. Derzeit würden aber häufig Managementfehler durch Medikamenteneinsatz ausgeglichen, so Knierim. Tierhalter benötigten hohen Bildungs- und Kenntnisstand für ein gutes Management, denn „das Management ist Dreh- und Angelpunkt".
Fazit
Alles Illusion? In der Legehennenhaltung, führte Prof. Spiller als Beispiel an, habe die Abkehr von der Käfighaltung 10 bis 15 Jahre gedauert. Dies sei durchaus ein überschaubarer Zeitraum, in dem eine Umstellung der gesamten Tierhaltung gelingen könne. Der Knackpunkt sei das Geld für die nötigen Investitionen. Der Göttinger Wissenschaftler sieht das Potential hierfür in den deutschen Aufwendungen für die EU-Agrarpolitik. Jährlich würden hierfür ca. 6,5 Milliarden Euro ausgegeben, allerdings nur 100 Mio. € für den Tierschutz (Zeitraum 2007 bis 2013).
Nicht zuletzt müsse die emotionale Diskussion zum Thema Tierwohl durch wissenschaftlich belegbare Fakten begleitet werden. Dann werde auch nicht mehr aneinander vorbei geredet und die gesellschaftliche Aussöhnung könne gelingen, so Spillers Fazit.