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„Eine Aktenflut rollt auf uns zu“

Lesezeit: 6 Minuten

Bei den deutschen Behörden liegen noch fast 250 unerledigte Zulassungsanträge für neue Pflanzenschutzmittel. Über Ursachen und Auswirkungen des Zulassungsstaus sprach top agrar mit Dr. Hans-Gerd Nolting vom BVL.


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Die Praxis klagt zunehmend über einen Zulassungsstau bei Pflanzenschutzmitteln. Wie ist die derzeitige Situation in Deutschland?


Dr. Nolting: Aktuell ist der Schwund an Pflanzenschutzmitteln wohl eher „gefühlt“. Das mag vor allem an dem zweijährigen Verbot der Neonicotinoid-Beizen liegen, die Landwirte bereits in dieser Saison in Raps nicht mehr anwenden dürfen.


Beschlossen wurde dieses Verbot von der EU-Kommission. Daher können wir auch keine Notfallgenehmigungen („Gefahr in Verzug“) nach Artikel 53 der EG-Verordnung erteilen.


Die Zulassungs-Situation in Deutschland ist aus unserer Sicht zurzeit noch gut. So sind aktuell 762 Pflanzenschutzmittel zugelassen. Vor 10 Jahren waren es 689. Auch die Anzahl zugelassener Anwendungen ist gestiegen, sodass die Mittel breiter, d. h. in mehreren Kulturen, einsetzbar sind. Auf Wirkstoffebene gibt es momentan 273 Wirkstoffe in zugelassenen Mitteln. Damit rangiert Deutschland im EU-Vergleich mit Platz 5 im vorderen Feld.


Mit dem neuen Pflanzenschutzrecht wurde die sogenannte zonale Zulassung eingeführt. Ziel war es, die Zulassungen von Pflanzenschutzmitteln in der EU zu harmonisieren und zu beschleu­nigen. Das Gegenteil scheint jetzt aber der Fall zu sein. Drohen jetzt den Landwirten vermehrt Mittel wegzubrechen?


Dr. Nolting: Insgesamt will die EU mit der zonalen Zulassung das Verfahren vereinfachen – soweit die Theorie. In der geltenden EU-Verordnung wurden die Staaten der EU in 3 Zonen eingeteilt (Nord, Mitte, Süd). Deutschland gehört mit Ländern wie Belgien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Ungarn usw. zur mittleren Zone.


Stellt ein Hersteller einen Antrag auf Zulassung eines Mittels bzw. Wirkstoffs, kann er das nun für mehrere Mitgliedstaaten innerhalb einer Zone parallel tun. Ein Mitgliedstaat übernimmt dabei die Bewertung, die anderen sollen dann auf Basis dieser Bewertung die Zulassung in einem verkürzten Verfahren in ihrem Land erteilen. In der Zulassungspraxis stellen sich jetzt aber folgende Probleme:


  • Viele Anträge müssen die Behörden noch nach altem Recht prüfen. Weil die Industrie vor dem Ende des „alten“ Pflanzenschutzrechts noch viele – oftmals unvollständige – Anträge gestellt hat, ist hier ein Stau entstanden. Zurzeit liegen im BVL noch 65 zu bewertende Altanträge vor.
  • Weil in den EU-Ländern in einigen Bereichen noch national unterschiedliche Bewertungsgrundsätze für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln gelten, funktioniert die gegenseitige Anerkennung nicht immer reibungslos. Durch diese Defizite in der Harmonisierung dauern die Verfahren länger.
  • Die EU-Verordnung sieht vor, dass Wirkstoffe, die zwar die Genehmigungsbedingungen erfüllen, aber in bestimmten Merkmalen ungünstiger zu beurteilen sind als andere Wirkstoffe, künftig ersetzt werden sollen. Die EU-Liste dieser Substitutionskandidaten liegt noch nicht vor. Die vergleichende Bewertung wird für die Zulassungsbehörden aber einen deutlichen Mehraufwand bedeuten.
  • Die Mittelzulassungen sind jetzt zeitlich mit der Wirkstoffgenehmigung gekoppelt. Das bedeutet: Wenn ein Mittel 2 oder 3 Wirkstoffe mit unterschiedlichen Genehmigungsfristen enthält, müssen es die Zulassungsbehörden in kürzeren Zeitabständen öfter prüfen. Zudem muss die Industrie mehr Anträge auf Erneuerung stellen.


Müssen die deutschen Behörden nach zonaler Zulassung mehr Anträge bearbeiten als vorher?


Dr. Nolting: Genau das kommt jetzt noch hinzu. Deutschland als „bewertender Mitgliedstaat“ für die zonale Zulassung scheint zusammen mit England sehr attraktiv zu sein. Seit Einführung des neuen Verfahrens vor drei Jahren sind bei uns 180 Anträge als bewertender Mitgliedstaat eingegangen, also im Durchschnitt 60 pro Jahr. Zu schaffen sind momentan jährlich 40 solcher Anträge.


Grund für die hohe Attraktivität ist das „Know how“. Die deutschen Behörden – beteiligt sind neben BVL das BfR, JKI und UBA – liefern Bewertungen von hoher Qualität.


Gibt es Lösungsansätze, um diese Mehrarbeit bewältigen zu können?


Dr. Nolting: Bei den 65 Altanträgen gehen wir davon aus, dass diese Mitte des Jahres 2015 abgearbeitet sind.


Hinsichtlich der Harmonisierung sind die EU-Länder bestrebt, die Unterschiede in den Bewertungsgrundsätzen zu beseitigen. Dazu stehen die Mitgliedstaaten auf mehreren Ebenen in Kontakt. In Arbeitsgruppen entwickeln sie z. B. technische Leitfäden.


Bei den Substitutionskandidaten hatte die EU-Kommission kürzlich eine Wirkstoffliste vorbereitet, dann aber überraschend nicht dem zuständigen Ausschuss vorgestellt. Wir rechnen allerdings demnächst mit einer Liste der Substitutionskandidaten. Pflanzenschutzmittel, die einen Wirkstoff dieser Liste enthalten, unterliegen dann der vergleichenden Bewertung. Wie dieses Verfahren praktisch in die Zulassung integriert werden soll, darüber berät das BVL derzeit zusammen mit den anderen beteiligten Behörden.


Die hohe Zahl der Anträge, die wir als bewertender Mitgliedstaat erhalten, ist derzeit ein Problem, das wir nur mit mehr Personal lösen können. Hier sind wir dabei, die Situation zu verbessern.


Um das Zulassungsverfahren zu beschleunigen, ist aber auch die Industrie gefordert. Häufig sind die Unterlagen unvollständig. Mit der EG-Verordnung hat der Antragsteller 6 Monate Zeit nachzubessern. Ein vollständiger elektronischer Antrag erleichtert die Arbeit wesentlich.


Um die Zusammenarbeit innerhalb der deutschen Zulassungsbehörden zu regeln, haben BVL, JKI, BfR und UBA eine Verwaltungsvereinbarung getroffen. Darüberhinaus gibt es ständig Arbeitsgruppen, um interne Prozesse zu optimieren. Nach außen wollen wir handeln wie eine Behörde.


Die EU setzt aber jetzt noch eins drauf und will im Herbst eine Definition zur hormonellen Wirkung von Pflanzenschutzmitteln festlegen. Je nach Strenge der Auslegung könnten wichtige Wirkstoffe dadurch schleichend wegfallen. Steht das Pflanzenschutzsystem damit endgültig vor einem Kollaps?


Dr. Nolting: Mit der EU-Pflanzenschutzverordnung EG 1107/2009 hat die EU sogenannte Ausschlusskriterien (Cut-off-Kriterien) für Wirkstoffe eingeführt. Dramatisch für den Pflanzenschutz könnte das Ausschlusskriterium „Wirkungen auf den Hormonhaushalt“ (endokrine Wirkung) werden. Die EU will künftig keine Wirkstoffe mehr genehmigen, die im Verdacht stehen, sich schädlich auf den Hormonhaushalt auszuwirken.


Offen ist bislang noch die Definition dieser endokrinen Wirkung. Bei sehr strenger Auslegung könnten wichtige Wirkstoffe oder -gruppen, wie z.B. die Azole, wegfallen. Das hätte gravierende Folgen für die Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln. Voraussichtlich wird die EU-Kommission ihren Vorschlag zur Definition im Herbst vorstellen.


Müssen sich die Landwirte jetzt darauf einstellen, das künftig mehr Behandlungslücken auftreten?


Dr. Nolting: Dem BVL ist daran gelegen, dass möglichst keine Lücken entstehen. Bei Gefahr in Verzug können wir nach wie vor nach Artikel 53 der EG-Verordnung bestimmte Produkte zeitlich befristet zulassen. Jedes Jahr erteilen wir ca. 30 bis 40 solcher Genehmigungen. Das kann und sollte aber keine Dauerlösung sein.


Vielen Dank für das ­Interview.

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