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„Die Energiewende wird vor Ort entschieden“

Lesezeit: 11 Minuten

Drei Energiepioniere erklären, wie realistisch die Klimaschutzpläne der neuen Bundesregierung sind und welche Rolle die Landwirtschaft bei der Umsetzung spielt.


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Ein Gefühl, als wenn jemand eine Schleuse öffnet: So beschreibt Christian Andresen sein erstes Empfinden, als er von den Plänen der neuen Regierung zum Ausbau der erneuerbaren Energien erfährt. „Fast ein Jahrzehnt standen die Vorgängerregierungen auf der Bremse. Das ist jetzt wie eine Befreiung“, sagt der 42-jährige Mitgeschäftsführer von Solar-Energie Andresen aus Sprakebüll in Nordfriesland (Schleswig-Holstein).


Drei Pioniere im Gespräch


In einer top agrar-Diskussion hat Andresen mit anderen Pionieren über die Energiewende und ihre Herausforderungen gesprochen. Wir haben bewusst drei Pioniere aus Schleswig-Holstein gewählt: Das Land hat deutschlandweit den höchsten Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch und ist auch in anderer Hinsicht ein Pionierland der Energiewende. Wie unsere drei Gesprächspartner sind viele Energie-Vorkämpfer dort Landwirte:


  • Christians Andresens Vater Hans-Christian hat einen Ackerbau- und Milchviehbetrieb. Er initiierte im Jahr 1998 einen Bürgerwindpark mit fünf Windrädern, der inzwischen durch fünf neue Anlagen mit je 3 MW Leistung ersetzt wurde. Auf dem Hof der Andresens steht zudem eine Biogasanlage mit 1,7 MW, an die drei Wärmenetze angeschlossen sind. Die 2004 von Andresen gegründete Firma Solar-Energie Andresen mit über 40 Mitarbeitern installierte bis heute Solaranlagen auf Dächern und im Freiland mit 125 MW Leistung. Die Firma hilft auch Landwirten bei der Umstellung auf elektrische Maschinen. Nachfolger Christian ist in mehreren Verbänden vertreten, u.a. im Vorstand des Bundesverbandes Windenergie.
  • Hans-Ulrich Martensen (67) hat schon im Jahr 1990 einen ersten Bürgerwindpark mitgeplant und betreibt seit der Zeit eine Vestas-Windenergieanlage mit 200 kW auf dem Betrieb in Sönnebüll. Im Jahr 2004 ist eine Biogasanlage mit heute 1,4 MW Leistung dazugekommen. Martensen war lange Regionalgruppensprecher beim Fachverband Biogas und ist heute im Vorstand des Landesverbandes Erneuerbare Energien. Sein Sohn hat den Sauen- und Mastbetrieb übernommen.
  • Dirk Ketelsen (69) hatte im Sönke-Nissen-Koog einen Bio-Ackerbaubetrieb, der inzwischen verpachtet ist. Auch er plante Anfang der 1990er die ersten Bürgerwindparks. Später gründete er das Unternehmen „Dirkshof“, das heute mit 38 Mitarbeitern Windparks plant und betreibt sowie Dienstleistungen rund um die Technik anbietet. Ketelsen ist Aufsichtsratsvorsitzender der ane.energy, einer Vermark-tungsplattform für Energie.


Rahmen muss verlässlich sein


Für alle drei Gesprächsteilnehmer waren das Stromeinspeisungsgesetz 1991 und das neun Jahre später folgende Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der Schlüssel dafür, dass sich der Anteil von Wind-, Solar- und Biogasstrom am Bruttostromverbrauch von 4,5% im Jahr 2000 auf fast 45% im Jahr 2021 erhöhen konnte. Die feste und verlässliche Einspeisevergütung für 20 Jahre war für die Finanzierung extrem wichtig, da Betreiber und Banken in den ersten Jahren bei der noch jungen Technik ins Risiko gehen mussten.


Gegen die Vorbehalte der großen Energiekonzerne half der Einspeisevorrang für die erneuerbaren Energien. „Sie hätten uns am langen Arm verhungern lassen“, sagt Ketelsen. Für Andresen war das langsame Wachstum der ersten Jahre richtig: „Nach dem Scheitern der Versuchswindkraftanlage ‚Growian‘ 1987 war das Thema erneuerbare Energien für die Konzerne erstmal vom Tisch. Darum konnte sich die Branche in Ruhe entwickeln, bevor uns die Energiewirtschaft wahrnahm.“


Strom wird veredelt


Doch das änderte sich mit dem zunehmenden Erfolg schnell. „Heute vergeht kein Monat, wo nicht ein großes Unternehmen anfragt, ob es nicht Projekte von uns kaufen oder sonst kooperieren kann. Aber wir wollen eigenständig bleiben“, sagt Ketelsen. Die „Gallier“, wie er die Gemeinde Reußenköge mit 300 MW installierter Windenergieleistung scherzhaft bezeichnet, denken selbst darüber nach, wie sie den Strom weiter veredeln können. So haben die Windparkbetreiber Anfang des Jahres die „Reußenköge Netz und Infrastrukturgesellschaft“ gegründet, um das Stromnetz auf 20 kV-Ebene in der Region selbst zu betreiben.


Beteiligung schafft Akzeptanz


Ohnehin sehen alle drei den Einstieg überregionaler Unternehmen kritisch. Kein Wunder: „Mehr als 95% der Parks bei uns sind in der Hand von Bürgern und Bauern“, sagt Ketelsen. Das ist deutlich mehr als im Bundesschnitt, wo Landwirte und Privatpersonen zusammen etwa 40% der Anlagen betreiben (siehe Übersicht auf der nächsten Doppelseite). Die Parks werden in Nordfriesland zu niedrigen Kosten gebaut, verwaltet und gepflegt. Darum werfen sie hohe Gewinne ab. 130000 € pro Anlage und Jahr sind keine Seltenheit. Die Gemeinde profitiert zudem von der Gewerbesteuer.


In anderen Regionen wie z.B. Mecklenburg-Vorpommern beobachtet Ketelsen anderes: Dort verpachten Landwirte Flächen, die Betreibergesellschaft hat ihren Sitz außerhalb der Region. Die Kommune vor Ort profitiert in dem Fall nicht von dem Park, die Bürger können sich nicht mit den Anlagen identifizieren. Das könnte bei dem geplanten Ausbautempo der Bundesregierung in vielen Regionen zum Knackpunkt werden. „Wir müssen die breite Mehrheit der Bevölkerung mitnehmen, sonst gewinnen die wenigen, aber lauten Kritiker vor Ort die Überhand und lassen neue Projekte scheitern“, ist er überzeugt.


Erste Schätzungen zeigen, dass für das geplante Ausbauziel von 130 Gigawatt Windenergieleistung bis zum Jahr 2030 wöchentlich 25 bis 38 Windräder ans Netz gehen müssten. Ob das realistisch ist, wird nicht nur die Akzeptanzfrage entscheiden. „Wenn wir heute mit der Planung anfangen, drehen sich die ersten Rotoren frühestens 2027, dann bleibt nicht mehr viel Zeit“, kritisiert Hans-Ulrich Martensen. Denn ein durchschnittliches Genehmigungsverfahren für einen neuen Windpark dauert fünf Jahre.


Bremsen der Energiewende


Für ein schnelleres Ausbautempo müssten weitere Hürden beseitigt werden:


  • Die Vorgängerregierungen haben seit dem EEG 2012 mit dem starken Absenken der Einspeisevergütung und anderer Auflagen den Ausbau von Solar- und Biogasanlagen massiv gebremst.
  • Bei Biogasanlagen gibt es eine Welle an neuen Vorschriften. „2004 mussten wir 25 Gesetze und Verordnungen beachten, heute sind es über 150“, sagt Martensen.
  • Die Windbranche und allen voran die Bürgerenergie haben mit der Einführung des Ausschreibungsverfahrens im Jahr 2017 anstelle der gesetzlich garantierten Einspeisevergütung einen Rückschlag erlitten. Seitdem ist die Zahl der Genehmigungen eingebrochen. Dazu kommen Probleme mit dem Artenschutz, mit Radarstationen, mit pauschalen Abständen und andere Hürden.
  • Die Bundesregierung hat mit dem EEG 2021 das Ausschreibungsverfahren für Photovoltaik-Dachanlagen mit mehr als 350 kW eingeführt. Das führte zum Einbruch auch in diesem Segment.
  • Der massive Rückgang beim Zubau von Wind- und Photovoltaikanlagen setzte den heimischen Herstellern zu. Viele sind vom Markt verschwunden oder verlagerten Produktionen ins Ausland. Anlagen und Komponenten kommen heute größtenteils aus Übersee, was aktuell für Lieferschwierigkeiten sorgt. „Wir haben im September 2021 vier Windräder aufgestellt, die noch nicht am Netz sind, weil ein kleiner Steuerungscomputer fehlt“, nennt Andresen ein Beispiel.
  • Es fehlen Facharbeiter zum Aufbau von Wind- und Solaranlagen.


All das führt dazu, dass sich selbst bei den ambitionierten Zielvorgaben der Dampfer „Energiewende“ nach Jahren des Stillstands nur sehr langsam wieder in Bewegung setzen wird. Martensen sieht es daher als Fehler an, dass die Bundesregierung den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen will. Da der Ausbau der Erneuerbaren so schnell nicht möglich ist, müssten viele neue Gaskraftwerke gebaut werden, um die Lücke zu schließen. Diese würden nicht nur den Strompreis immens verteuern, sondern auch die fossile Stromerzeugung für Jahrzehnte zementieren.


Speicher nötig


Eine weitere Herausforderung ist die Stromversorgung. Zwar erzeugen die erneuerbaren Energien in Schleswig-Holstein mit einem Anteil am Bruttostromverbrauch von 114% (Stand 2020) rechnerisch mehr Strom, als benötigt wird. Damit ist das Heimatland unserer drei Pioniere deutlich weiter als der Bundesdurchschnitt, bei dem der Anteil 2020 erst bei 45% lag.


Dennoch finden auch im Norden Erzeugung und Verbrauch nicht gleichzeitig statt. „Wir brauchen also Speicher in Form von Wasserstoff oder Batterien“, sagt Ketelsen. Noch beschränken sich die ersten Projekte auf Prototypen und Pilotanlagen. „Für den Durchbruch fehlt die Wirtschaftlichkeit. Umlagen, Abgaben und Netzdurchleitung müssen an das neue Stromsystem angepasst werden“, fordert Andresen. Zudem müsste es möglich werden, dass private, gewerbliche und industrielle Verbraucher den Stromverbrauch flexibel an das Stromangebot anpassen. Dafür seien flexible Stromtarife und damit auch ein neues Marktdesign nötig.


Weniger Bürokratie


Einen Teil der Aufgaben könnten flexible Biogasanlagen übernehmen. Allerdings ist dafür eine Umrüstung nötig. Christian Andresen beispielsweise würde mit der jetzt 16 Jahre alten Anlage in die Flexibilisierung einsteigen – wenn die vielen administrativen Hürden nicht wären. „Im Vergleich zur Wind- und Solarstromerzeugung ist Biogas arbeitsintensiv, teuer und wird wegen ständig neuer Auflagen immer komplizierter. Das schreckt einfach ab“, sagt er. Von der neuen Regierung wünscht er sich einen deutlichen Bürokratieabbau. Ansonsten könnte es in den nächsten Jahren zu einem stärkeren Ausstieg aus der Biogasproduktion und damit zu einem Rückbau von Anlagen kommen – dem Gegenteil dessen, was die neue Regierung beabsichtigt.


Hierfür müssten die Betreiber aber Entscheidungsträger in der Politik immer mehr aufklären, weil die Zusammenhänge komplexer werden. Das hat Martensen z.B. bei der Diskussion um die „Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen“ (AwSV) gemerkt. Hintergrund ist, dass Biogasanlagenbetreiber nach dem politischen Willen mehr Gülle und Mist aus der Tierhaltung vergären sollen. Wenn sie aber nach der Vergärung Gärreste zurück zu den Tierhaltern bringen wollen, dürfen sie diese nicht in Güllebehälter oder Lagunen pumpen. Denn Gärreste fallen unter „Abfall“. „Wir haben versucht, das unserem Landwirtschaftsminister bei uns auf dem Hof zu erklären. Er hat uns als Lösung vorgeschlagen, einfach einen neuen Gärrestbehälter zu bauen“, sagt Martensen kopfschüttelnd. Es sei den Politikern nicht klar, dass ein 6000 m3-Behälter rund 400000 € kostet und Ausgaben wie diese die Wirtschaftlichkeit von Biogas kontinuierlich verschlechtern.


Flexibler Verbrauch gefragt


Neben Speichern und Biogasanlagen könnten flexible Lösungen helfen, die in Nordfriesland bereits erprobt werden. Denn trotz massiver Netzausbauprojekte werden in Schleswig-Holstein immer noch viele Anlagen im Laufe des Jahres häufig abgeschaltet, weil die Netze den produzierten Strom nicht aufnehmen können. Im Jahr 2020 waren das 2,6 Terawattstunden Strom, die nicht produziert wurden – etwa 11% der insgesamt aus erneuerbaren Energien produzierten Strommenge. Nach dem Motto „Nutzen statt Abschalten“ hat ein Pilotprojekt im Lübke-Koog gezeigt, dass sich der Windstrom auch zum Heizen in Privathäusern eignet. Andere Parkbetreiber setzen auf die Elektrolyse zur Wasserstoffproduktion. Beim Dirkshof fahren 18 Mitarbeiter mit Elektrofahrzeugen als Dienstwagen, zudem wurden 35 mit Wasserstoff betriebene Pkw an die Gesellschafter der Bürgerwindparks vermittelt.


Andresen sieht gerade bei Elektrofahrzeugen noch Potenzial. „Wir haben in Nordfriesland ca. 45000 Zweitautos. Diese wären ein gigantischer Speicher auf vier Rädern, wenn Rückspeisung aus dem Auto ins Haus technisch möglich wird“, sagt er. Denn würden sie mit einer E-Auto-Batterie wie im derzeit häufig gekauften Hyundai Kona mit einer Kapazität von 64 kWh ausgestattet und könnte man ca. 50 kWh davon als Speicher nutzen, wären das in Summe 2,25 Gigawattstunden Speicherkapazität allein in dem Landkreis. Hierfür müsste die Bundesregierung das bidirektionale Laden voranbringen, sowohl technisch als auch rechtlich.


Seiner Meinung nach entwickelt sich der Elektroautomarkt rasant. Wie im Bundesdurchschnitt auch ist mittlerweile jedes vierte neue Auto in Schleswig-Holstein ein Elektrofahrzeug.


Für unsere Gesprächspartner steht als Resümee fest: Die Energiewende wird vor Ort entschieden. Darum nützen große Ziele nichts, wenn sich diese in der Praxis vor lauter Hürden und Vorschriften nicht umsetzen lassen.


Landwirte profitieren


Wertschöpfung auf den Höfen


Die Energiewende schreitet auch in der Landwirtschaft selbst voran. So gibt es auf vielen Stall- und Scheunendächern Solaranlagen, die zur Eigenstromversorgung beitragen können. „Mein Ziel ist es, dass wir auf unserem Betrieb 2030 keinen Liter Diesel mehr verbrauchen“, sagt Christian Andresen. Möglich werden soll das mit elektrischen Hofladern oder E-Hofschleppern. Er erwartet, dass die Landtechnikindustrie bis zum Jahr 2030 auch Lösungen für schwere Maschinen im höheren Leistungsbereich entwickelt.


Parallel dazu sieht er die Entwicklung von solarbetriebenen Feldrobotern wachsen. „Wir haben allein 35 Modelle von unserem ‚Farmdroid‘ verkauft, der automatisch aussäen und Unkraut hacken kann“, sagt er. „Landwirte profitieren enorm von der Energiewende, sie haben Fläche, Rohstoffe und den Willen, Entscheidungen zu fällen“, ergänzt Martensen. In Nordfriesland sind die meisten Landwirte als Anlagenbetreiber oder Beteiligte in die Energiewende eingebunden. „Wir Pioniere müssen jetzt dafür sorgen, den Weg für die nachfolgende Generation zu ebnen“, sagt er.


Für ihn beruhigend ist, dass sein Enkel die Biogasanlage weiterführen will. Auch im Falle Andresen ist der Generationswechsel mit Junior Christian vollzogen. Und Dirk Ketelsen hat seine Nachfolge schon innerhalb der Firma geregelt. „Wir werden uns weiter spezialisieren für die vielen Aufgaben der Energiewende, die immer komplizierter wird“, stellt er in Aussicht.


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