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Mehr Wind und Sonne: Droht der Blackout?

Lesezeit: 10 Minuten

Immer mehr Ökostrom drängt ins Netz. Wenn er auf geringe Nachfrage trifft, werden viele Anlagen abgeschaltet. Außerdem droht der Netzkollaps – meinen Kritiker. Doch stimmt das wirklich?


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In den ersten vier Monaten des Jahres 2020 bescherten viel Sonne und ein stetiger Wind den erneuerbaren Energien im wahrsten Sinne viel Aufwind. Laut E.ON-Konzern stellten allein am 22. April Wind- und Solaranlagen zeitweise 60 Gigawatt Leistung bereit und versorgten Deutschland erstmals für Stunden komplett mit Ökostrom.


Mit 52 % deckten die Erneuerbaren im ersten Quartal 2020 acht Prozentpunkte mehr als im Vorjahreszeitraum, zeigen Berechnungen des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoffforschung (ZSW) aus Stuttgart. Auch der gesunkene Stromverbrauch aufgrund der Coronakrise hat dazu beigetragen.


Die Rekordernte löst nicht nur Freude aus. Um Netzprobleme zu vermeiden, müssen in Starkwindzeiten viele Windparks oder Biogasanlagen abgeschaltet werden – in Norddeutschland genauso wie weiter südlich in Hessen, wie Betreiber berichten. In der Zeit produzieren die Anlagen keinen Strom und bekommen daher auch keine Vergütung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Zwar gibt es für den entgangenen Erlös eine Entschädigung. Die Beantragung ist aber sehr bürokratisch und aufwendig. Daher stellen sich viele Betreiber die Frage: Wird der Zustand zunehmen? Und kann das Stromnetz zusammenbrechen?


Hohe Schwankungen


In der Tat führt das Wetter zu stark schwankender Stromerzeugung: Innerhalb weniger Stunden können 30 Gigawatt Leistung wegfallen oder dazu kommen. Derartige Schwankungen sind völlig anders, als es die Energiewirtschaft mit den trägen Grundlastkraftwerken auf Basis von Kohle oder Uran bislang gewohnt war.


Das ruft immer häufiger Energiewende- und EEG-Kritiker auf den Plan, die den Ausstieg aus der Kohle- oder Atomstromproduktion für einen teuren und – aus Skepsis am menschengemachten Klimawandel – für einen unnötigen Irrweg halten. Dazu gehören u.a. der Verein „Vernunftkraft“ (eine Dachorganisation von hunderten Bürgerinitiativen gegen die Windenergie), die Plattform „Windwahn“, das „Europäische Institut für Klima & Energie“ (EIKE) oder der „Stromverbraucherschutzverein“ NAEB.


Die Kritiker vermitteln den Eindruck, die deutsche Energiepolitik würde sehenden Auges in eine Katastrophe rennen. „Die Angstmach-Kampagnen der Energiewende-Gegner haben wieder Hochkonjunktur“, analysiert Energieexpertin Prof. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Zeitschrift „Capital“. Daher lohnt es sich, die Argumente genauer unter die Lupe zu nehmen. Hierzu haben wir nicht nur mit Experten aus der Wissenschaft gesprochen, sondern auch über 20 Studien und Positionspapiere analysiert, die allein in den letzten zwölf Monaten erschienen sind.


Kein Export von Windstrom


Kritikpunkt 1: Die schwankende Einspeisung von Wind- und Solarkraftwerken (von den Gegnern „Zappelstrom“ genannt) führt dazu, dass konventionelle Kraftwerke als Reserve am Netz bleiben müssen. Der Kohle- oder Atomausstieg habe damit fatale Folgen für die Versorgungssicherheit. Auch sei der Klimaschutzeffekt der erneuerbaren Stromerzeuger „gleich null“. Der Beitrag von Wind- und Solarstrom zur Stromversorgung sei zu vernachlässigen und die Angabe eines Anteils von 40 oder 50 % eine Verbrauchertäuschung.


Dagegen zeigen das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) und die Denkfabrik Agora Energiewende unabhängig voneinander, dass Deutschland zwar in Starkwindzeiten viel Strom exportieren muss, dieser aber aus unflexiblen Kohlekraftwerken stammt. Bis zum vergangenen Jahr war es wirtschaftlich, Kohlekraftwerke weiterzubetreiben und Strom notfalls zu geringen Kosten zu exportieren. Im Jahr 2019 stiegen aber u.a. die Kosten für Zertifikate des Europäischen Emissionshandels. Das verteuerte die fossile Stromerzeugung in Deutschland. Daher ging der Export von Kohlestrom von 35 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2018 auf 12 TWh zurück.


Negative preise kein Nachteil


Kritikpunkt 2: Bei viel Wind und Sonne und gleichzeitig wenig Stromverbrauch („Last“ genannt) müsse der erneuerbar erzeugte Strom zu „negativen“ Strompreisen ans Ausland abgegeben („verklappt“) werden. Negativ bedeutet: Netzbetreiber zahlen dem Abnehmer einen „Entsorgungserlös“, für die der Stromverbraucher die Zeche zu zahlen habe (Übersicht 1).


In der Tat nehmen negative Strompreise zu. „Allein bis Ende März 2020 haben wir an rund 130 Stunden negative Preise gesehen, im Vorjahreszeitraum waren es nur ca. 90“, erläutert Tim Steinert, Senior Consultant bei der Berliner Unternehmensberatung enervis. Das sei vor allem darauf zurückzuführen, dass eine hohe Einspeisung vor allem durch Windenergie auf niedrige Stromnachfrage traf. Das könnte sich wegen des Nachfragerückgangs aufgrund der Coronakrise in diesem Jahr verschärfen. Aufgrund der Regelungen im EEG führt das auch zu hohen Erlöseinbußen bei den Betreibern. Denn sie erhalten für alle Zeiträume negativer Spotmarktpreise mit mindestens sechs Stunden Dauer keine EEG-Vergütung.


„Negative Strompreise sind auf mangelnde Flexibilität des konventionellen Kraftwerksparks zurückzuführen“, bestätigte eine weitere Agora-Studie schon im Jahr 2014. Bei dem Kraftwerkspark handelt es sich nicht, wie von Kritikern der Energiewende behauptet, um eine nötige Mindestreserve. Diese umfasst laut Bundesnetzagentur nur eine Leistung von 4 bis 7,5 GW. Der konventionelle Erzeugungssockel machte in den Jahren 2016 bis 2018 dagegen 18 bis 24 GW aus, wie der „Bericht über die Mindesterzeugung 2019“ der Bundesnetzagentur zeigt. Jeder zweite Kraftwerksbetreiber gab darin an, wegen der kombinierten Wärmeerzeugung negative Strompreise in Kauf zu nehmen.


Die Bundesnetzagentur geht davon aus, dass mit der Stilllegung der Atomkraftwerke sowie des Kohleausstiegs gerade die Kraftwerke vom Markt verschwinden, die am wenigsten flexibel auf negative Strompreise reagieren konnten. Investitionen in die Flexibilisierung der Kraftwerke könnten den konventionellen Erzeugungssockel weiter reduzieren. Das ist wichtig: Ohne eine deutliche Flexibilisierung von Kraftwerken und Großverbrauchern werden die Stunden mit negativen Strompreisen drastisch zunehmen, erwartet Agora. „Würden diese Kraftwerke nicht mehr produzieren, wäre das Angebot niedriger und die Preise wären tendenziell höher“, ergänzt Prof. Uwe Holzhammer vom Institut für neue Energie-Systeme der Technischen Hochschule Ingolstadt.


Der Austausch mit dem Ausland führe grundsätzlich zu einer Erhöhung der Nachfrage an Strom. Ohne diesen würde der Börsenpreis z.T. noch weiter ins Negative fallen. Zudem war der Durchschnittspreis des exportieren Stroms aus Deutschland im Jahr 2019 fast 5 % höher als der Durchschnittspreis für den importierten Strom. Daher kann also nicht von einem „Verklappen“ des Stroms ins Ausland die Rede sein.


Immer weniger „Geisterstrom“


Kritikpunkt 3: Vor allem Windparks würden bei geringer Stromnachfrage abgeregelt, weil das Netz sonst überlastet wäre. Da die Windparkbetreiber für diesen nicht produzierten Strom eine Entschädigung erhalten, sprechen die Kritiker von „Geisterstrom“.


Das entpuppt sich in der Realität auch als nicht so dramatisch, wie dargestellt: Laut Bundesnetzagentur haben netzstabilisierende Maßnahmen zwar mit der fortschreitenden Energiewende seit dem Jahr 2015 an Bedeutung gewonnen. Dazu beigetragen habe der Ausbau der Windenergie, Veränderungen im konventionellen Kraftwerkspark, geänderte Rahmenbedingungen für den Handel mit anderen Staaten und gleichzeitig verzögertem Netzausbau. „Die Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten dürfen jedoch nicht zu dem Missverständnis führen, neu installierte erneuerbare Erzeugungsanlagen könnten nicht mehr ins Netz einspeisen“, unterstreicht die Bundesnetzagentur in dem aktuellen Bericht zu Systemsicherheitsmaßnahmen.


Im zweiten und dritten Quartal 2019 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) wurden knapp 1,6 % der eingespeisten erneuerbaren Energien im Rahmen von Einspeisemanagement-Maßnahmen (EinsMan) abgeregelt. Diese Quote liegt damit auf etwa dem gleichen Niveau wie im zweiten und dritten Quartal 2018, obwohl die Erzeugung der Erneuerbaren im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum gestiegen ist: Die durch Windkraft erzeugte Strommenge lag trotz der Abregelungen im zweiten Quartal 2019 um rund 9 % und im dritten Quartal 2019 um rund 16 % höher als im Vorjahr. Die geschätzten EinsMan-Entschädigungsansprüche der Anlagenbetreiber beliefen sich im zweiten Quartal 2019 auf rund 90 Mio. € (Q2 2018: 102 Mio. €) und im dritten Quartal 2019 auf rund 91 Mio. € (Q3 2018: 78 Mio. €).


Richtig ist, dass die Stromkunden diese Entschädigungen über die Netzentgelte finanzieren. „Allerdings wird ein Teil dieser Kosten durch die geringere EEG-Umlage kompensiert, da abgeregelte Anlagen keine Vergütung oder Marktprämie nach dem EEG erhalten“, teilt die Bundesnetzagentur mit.


Netzbetreiber entspannt


Auch die Energiewirtschaft sieht die aktuelle Situation nicht als dramatisch an, wie das Beispiel des Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz zeigt. Das Unternehmen ist neben Amprion, Tennet und TransnetBW für die Hochspannungsleitungen in Deutschland zuständig. 50Hertz betreibt ein 10400 km langes Höchstspannungs-Stromnetz (220 und 380 kV) in Ostdeutschland, Berlin und Hamburg. Selbst ein Anteil von 85% erneuerbarer Energien im Netz habe im März 2020 nicht zu Problemen geführt. „Am Montag, 23. März, hat 50 Hertz in der Mittagszeit knapp 8500 MW Photovoltaikstrom vollständig und sicher in das Netz integriert und zu den Abnehmern transportiert, ohne ein einziges Megawatt Strom aus Photovoltatik abregeln zu müssen“, teilt der Netzbetreiber mit.


Lösung gegen Dunkelflaute


Kritikpunkt 4: Wenn sich Deutschland weiter von Wind- und Solarstrom abhängig mache, werde die Gefahr eines Blackouts bei einer „Dunkelflaute“ immer größer. Als Dunkelflaute gilt eine Zeit mit wenig Wind und Sonneneinstrahlung. Besonders fatal wäre sie, wenn sie im Winter auftrete, weil hier der Stromverbrauch jahreszeitbedingt höher sei. „Der Begriff Dunkelflaute ist eine weitere Wortschöpfung aus der Welt der Energiewende-Gegner“, erklärt Prof. Claudia Kemfert (DIW).


Kombiniert werde der Begriff gern mit der Behauptung, dass es keine Speicher gäbe – weil das technisch nicht möglich sei oder diese riesig sein müssten. „Zahlreiche Studien haben das widerlegt“, sagt die Energieexpertin.


Ein Beispiel dafür ist die Studie „Kalte Dunkelflaute: Robustheit des Stromsystems bei Extremwetter“ der Energiemarktexperten von Energy Brainpool. Heute sichern konventionelle Kraftwerke, aber auch flexible Biogasanlagen, Speicher und die Verschiebung des Stromverbrauchs („Lastverschiebung“) sowie der europäische Stromaustausch über Grenzkuppelstellen die Versorgung in Zeiten, in denen Wind- und Solarenergie nicht zur Verfügung stehen. Die Studienautoren haben für eine Zeit ohne fossile bzw. atomare Kraftwerke ein „robustes und nachhaltiges Stromsystem“ entworfen, das über Elektrolysegas aus erneuerbaren Energien und Biogas die verfügbaren Gasspeicher füllt, um in Zeiten ohne Sonne und Wind die Versorgung mit klimaneutralen Gaskraftwerken zu sichern. Die dafür nötigen Elektrolyseure würden mit Wind- oder Solarstrom angetrieben. „Ein solches Stromsystem zeigt, dass auch klimaneutrale Technologien Versorgungssicherheit während einer kalten Dunkelflaute zu adäquaten Kosten gewährleisten können“, lautet das Resümee der Autoren.


Option für mehr Flexibilität


„Schon heute haben wir viele Flexibilitätsoptionen, die aber wegen der aktuellen Rahmenbedingungen kaum genutzt werden“, sagt Holzhammer. Dazu gehört, dass es noch zu wenig Anreize für Stromkunden gibt, bei hohem Stromaufkommen mit viel Wind oder Sonne (und damit niedrigen Preisen) den Strom im Haus oder im Betrieb zu nutzen – z.B. mit Wärmepumpen, mit dem Laden von E-Autos oder tauchsiederähnlichen Power-to-Heat-Anlagen. Dazu kommen weitere Optionen:


  • Ausbau des Stromnetzes: Von den geplanten 1800 neuen Netzkilometern sind laut Agora Energiewende erst 850 km realisiert. Nach dem Bundesbedarfsplangesetz, das 2013 in Kraft trat, sollen 43 Höchstspannungsleitungen in Deutschland gebaut sein. Hiervon sind erst 300 km bzw. 5 % umgesetzt.
  • Freileitungsmonitoring: In Abhängigkeit von der Temperatur der Leiterseile kann mehr oder weniger Strom durchgeleitet werden, um bestehende Netze stärker auszulasten.
  • Regelbare Ortsnetztrafos oder intelligente Messeinrichtungen (Smart Meter): Sie können dazu beitragen, das Verteilnetz besser auszulasten.
  • Stärkere Sektorkopplung: Mit Strom lässt sich über die Elektrolyse Wasserstoff als Kraftstoff oder Rohstoff für die Industrie erzeugen.
  • Lastverschiebung in der Industrie: Die Stahl- oder Chemieindustrie könnte einen Teil ihrer Produktion verschieben, auf Strom umstellen oder „grünen“ Wasserstoff aus erneuerbaren Energien nutzen.


Derzeit arbeiten etliche Institute mit hunderten von Wissenschaftlern noch an vielen weiteren Lösungen für die Energiewende. Das macht deutlich: Die Energiewendekritik fußt allein auf dem heutigen Status Quo, der lediglich einen Übergang beschreibt. Die Möglichkeit, auf konventionelle Kraftwerke bis zum Jahr 2050 verzichten zu können, ist dagegen bei vielen Wissenschaftlern, aber auch bei Energiekonzernen und Netzbetreibern unumstritten.


hinrich.neumann@topagrar.com

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