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topplus Atomausstieg

Der lange Schatten der Atomenergie: Ausstieg ist 2022 noch lange nicht vorbei

Die Energieversorgung wird mit Abschaltung des letzten Kernkraftwerks nicht gefährdet. Aber es gibt politisch noch viele weitere Probleme zu lösen.

Lesezeit: 10 Minuten

Der Atomausstieg in Deutschland verläuft laut Agora Energiewende nach Plan und insgesamt sehr geräuschlos. „Die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Das Stromsystem funktioniert wunderbar auf der Basis von Wind- und Solarstrom, Atomkraftwerke sind dafür nicht nötig“, resümiert Direktor Dr. Patrick Graichen anlässlich des zehnten Jahrestags der Katastrophe von Fukushima am 11. März. „Die letzte Bewährungsprobe findet Ende 2022 statt, wenn die verbliebenen Atomkraftwerke stillgelegt werden. Um die Versorgungssicherheit müssen wir uns da keine Sorgen machen“, ist er überzeugt.

Resümee nach 10 Jahren

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Aber damit auch die dann wegfallenden Atomstrommengen durch erneuerbare Energien kompensiert werden könnten, müsse in den kommenden Monaten der Ausbau von neuen Wind- und Solaranlagen massiv beschleunigt werden. Graichen „Sonst erleben wir kurzfristig steigende CO₂-Emissionen.“

Agora Energienwende hat anlässlich des zehnten Jahrestages ein Resümee zum bisherigen Atomausstieg gezogen:

  • Eine „Stromlücke“ (wie sie beim Atomausstieg befürchtet wurde) hat es nicht gegeben, ebenso wenig höhere Gasimporte als Ersatz.
  • Seit 2010 ist die Stromerzeugung aus Kernkraftwerken um 76 TWh gesunken, während die Erzeugung aus erneuerbaren Energien um 150 TWh gestiegen ist – der Atomausstieg wurde insofern durch die Erneuerbaren weit überkompensiert.
  • Die Stromproduktion aus Erdgas liegt 2020 fast exakt auf dem Niveau von 2010, die Kohleverstromung ist in den letzten Jahren deutlich gesunken.
  • Der deutlich gesunkene Stromverbrauch 2020 hat v.a. Corona-bedingte Gründe – für 2021 ist eher wieder mit einem höheren Stromverbrauch zu rechnen.
  • Entgegen einer oft geäußerte These ist Deutschland aufgrund des Atomausstiegs nicht zum Strom-Importeur geworden – im Gegenteil nahmen die Stromexporte nach 2011 stetig zu.
  • Gerade im Stromhandel mit Frankreich war Deutschland in den vergangenen Jahren immer Netto-Exporteur. Ursache war, dass der Zuwachs an erneuerbaren Energien in Deutschland in Kombination mit niedrigen CO₂-Preisen dafür gesorgt hat, dass deutscher Kohlestrom im Zeitraum 2011 bis 2017 zunehmend an die Nachbarländer exportiert wurde.
  • Eine im Zuge des Atomausstiegs oft geäußerte Befürchtung waren steigende Strompreise. An der Strombörse ist Strom jedoch aufgrund des hohen Erneuerbare-Energien-Anteils in Deutschland sehr günstig – nur die skandinavischen Länder mit ihren hohen Wasserkraft-Anteilen haben noch niedrigere Strompreise. Die energieintensive Grundstoffindustrie, die von Steuern, Abgaben und Umlagen weitgehend befreit ist, genießt daher in Deutschland relativ günstige Strompreise.
  • Der Preisanstieg für Privathaushalte geht auf die EEG-Umlage und nicht der Atomausstieg zurück. Aufgrund der Förderung von Biomasse und damals noch teuren Solaranlagen erhöhte sich diese von 2 auf 6 ct/kWh, ist seit 2014 aber im Wesentlichen konstant.
  • Neue Wind- und Solaranlagen sind mittlerweile konkurrenzfähig mit konventionellen Stromerzeugungstechnologien – und deutlich günstiger als Strom aus neuen Atomkraftwerken.

Ausbau der Erneuerbaren muss weitergehen

Das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, dass es bei der Energiewende akuten Nachholbedarf gibt. Hier ist noch ein Atomreaktor in Neckarwestheim (GKN II) in Betrieb. Spätestens Ende 2022 muss er vom Netz genommen werden. Im Jahr 2020 hat dieses Atomkraftwerk rund elf Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. „Diese Strommenge lässt sich bis nächstes Jahr nicht durch neue regenerative Anlagen ersetzen“, sagt Franz Pöter, Geschäftsführer der Plattform EE BW.Der Anteil der Erneuerbaren Energien steigt zwar auch in Baden-Württemberg kontinuierlich. Mittlerweile stammen 31,5 Prozent der Bruttostromerzeugung (2019) aus Sonne, Wind, Wasserkraft, Biomasse und Geothermieanlagen. „In den vergangenen Jahren wurden gute Erfolge beim Ausbau der erneuerbaren Energien insbesondere im Stromsektor erzielt. Wir müssen den Ausbau jedoch weiter beschleunigen und regenerative Energiequellen auch stärker im Wärme- und Mobilitätssektor einsetzen“, fordert er.

Strahlender Müll

Auch mit dem Abschalten der Atomkraftwerke sind deren Probleme nicht beseitigt. So dauert der Rückbau der Atomkraftwerke mitunter länger als deren Betriebszeit, teilt das Stuttgarter Planungs- und Beratungsunternehmen Drees & Sommer mit. Zu den normalen Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien kommen bei Kernkraftwerken noch Wertstoffe, hochradioaktive Bauteile und gesundheitsgefährdende Abfälle dazu, deren Entsorgung genau geplant sein muss. Insgesamt können von jenem Zeitpunkt, an dem das Kraftwerk vom Netz geht, bis zum Ende des Rückbaus mehrere Jahrzehnte ins Land gehen. Das erste deutsche Kernkraftwerk in Kahl am Main in der Nähe von Aschaffenburg beispielsweise war 25 Jahre in Betrieb, bis es im Jahr 1985 abgeschaltet wurde. Der Abriss dauerte dann länger als der Betrieb und kostete mit 150 Mio. € sogar mehr als der Aufbau. Der Rückbau des Atomkraftwerks Stade, dem ersten Reaktor, der aufgrund des rot-grünen Atomausstiegs vom Netz genommen wurde, ging zwar etwas schneller vonstatten, dauerte aber laut Drees & Sommer immer noch 13 Jahre.

Der Grund für die lange Zeit zwischen Stilllegung und vollständigem Rückbau liegt darin, dass viele strahlenbelastete Teile aufwendig zerlegt und gereinigt werden müssen, bevor sie entsorgt werden können. Und so ein Kernkraftwerk ist groß: So müssen beispielsweise beim AKW Greifswald 1,8 Mio. t Bausubstanz entsorgt werden.

Kleine Reaktoren sind keine Lösung

Neben dem Rückbau der Anlagen gibt es auch noch politisch jede Menge Arbeit. So bereitet die Atomlobby in Deutschland und weltweit unter dem Deckmantel des Klimaschutzes die Rückkehr der Risikotechnologie Atomkraft vor, warnt die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Als Beispiel nennt die DUH den Milliardär und Großinvestor Bill Gates, der modulare Mini-Atomkraftwerke propagiere. Sie werden beispielsweise von der Firma Terra Power entwickelt, an der Gates selbst Anteile hält. Doch sie lösen laut DUH keines der Probleme der Atomtechnik:

  • Jeder neue Reaktor würde Kühlwasser in großen Mengen benötigen und träte gerade in Zeiten des Klimawandels in Konkurrenz um weltweit knapper werdende Wasservorräte.
  • Es entstünde eine Vielzahl kleiner dezentraler atomarer Anlagen, die noch schwerer zu überwachen und vor terroristischen Anschlägen zu schützen wären als bisher.
  • Und die Menge des strahlenden atomaren Mülls würde dadurch dramatisch weiter anwachsen.

Hinzu kommt: Selbst wenn die technischen Probleme der neuen Mini-Reaktoren gelöst werden könnten, so würde die neue Technologie doch erst Mitte des Jahrhunderts einsatzbereit sein. Gegenüber Sonne, Wind und einer erneuerbaren Wasserstoffwirtschaft kann die Atomkraft deswegen laut DUH auch wirtschaftlich nicht bestehen.

Kernforschung bleibt Vision

Vor kurzem haben die EU-Staaten weitere 5,6 Mrd. € für das Kernforschungs-Experiment ITER im französischen Cadarache beschlossen. „Nach nur 15 Jahren sind für ITER die ursprünglich geplanten Kosten um das Dreifache auf inzwischen 20 Mrd. € angestiegen. Selbst die immer sehr optimistischen Kernfusionsforscher rechnen nun frühestens 2060 mit einem ersten einsatzbereiten Kernfusionsreaktor und es ist anzunehmen, dass auch dieser Zeitplan nicht hält“ sagt Martin Litschauer, Anti-Atom-Sprecher der Grünen in Österreich. Damit sei einmal mehr klar, dass die Kernfusion nicht gegen die Klimakrise helfen kann, weil sie auf jeden Fall zu spät für eine Energiewende käme.

In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts versprachen die Kernfusionsforscher den ersten Fusionsreaktor in nur 30 Jahren, also bis 1980, bauen zu können. 40 Jahre später versprechen die Forscher noch immer, dass sie nun in weiteren 40 Jahren vielleicht einen Reaktor bauen können.

Laut Litschauer bleibt das alles entscheidende und ungelöste Problem eines Kernfusionsreaktors: Ein Material, welches den hohen Belastungen als Ummantelung des Fusionsplasmas standhalten kann. Diese erste Wand muss ein Plasma mit einer Temperatur von 150 Millionen Grad unter einem gewaltigen Druck dauerhaft und sicher einschließen. Dazu kommt die Wucht des Neutronenbeschusses, der auch das belastbarste Material innerhalb kürzester Zeit zerstört und es hoch-radioaktiv macht. „Kernfusion wird vielleicht nie Energie erzeugen. Wir sollten uns deshalb überlegen, mit welcher Priorität Forschungsmittel eingesetzt werden. Jeder Euro, der jetzt in die Kernfusionsforschung fließt, wäre viel besser in die Forschung zu erneuerbaren Energieträgern und Stromspeichern investiert. In der europäischen Forschung zu Akkus und Energie- und Ressourceneffizienz gibt es auch noch sehr viel Luft nach oben“, sagt Litschauer abschließend.

12-Punkte-Plan des BMU

Das Problem hat auch Deutschlands Umweltministerin Svenja Schulze erkannt. „Unsere Arbeit ist mit dem deutschen Atomausstieg Ende 2022 nicht beendet. Im Gegenteil: Mein Ministerium und ich arbeiten mit voller Kraft weiter, um den Atomausstieg in Deutschland konsequent zu vollenden, Atomrisiken in Europa zu reduzieren und die nukleare Sicherheit weltweit zu erhöhen.“

Zur Vollendung des deutschen Atomausstiegs gehört nach Ansicht von Schulze auch die Schließung der hiesigen Atomfabriken in Gronau und Lingen. Ein entsprechender Vorstoß des BMU fand in dieser Legislaturperiode nicht die nötige Unterstützung in der Bundesregierung. Ein reines Exportverbot in grenznahe Alt-AKW ist nicht rechtssicher möglich. „Unser Atomausstieg ist nicht mit der Produktion von Brennstoff und Brennelementen für Atomanlagen im Ausland vereinbar. Die Schließung wurde damals beim Ausstiegsbeschluss versäumt. Sie jetzt nachzuholen ist der rechtssichere und richtige Weg, um diesen Zustand zu beenden“, so Schulze.

Auf europäischer Ebene will das Bundesumweltministerium künftig verstärkt den Schulterschluss mit anderen atomkritischen Staaten suchen. Angesichts der anstehenden Laufzeitverlängerungen in mehreren europäischen Ländern kündigte Schulze eine klare internationale Positionierung und eine stärkere Unterstützung der Bundesländer in Grenzregionen an. „Ich respektiere den Grundsatz nationaler Energiesouveränität. Aber mir bereitet die zunehmende Überalterung der europäischen Atomkraftwerke große Sorge. Gegen AKW-Alterung lässt sich nur punktuell etwas machen, nicht umfassend. Darum lehnt die Bundesregierung Laufzeitverlängerungen von AKW ab“, sagte Schulze. Die Bundesregierung könne sie letztlich nicht verhindern, werde sich aber wo immer möglich dafür einsetzen, dass Transparenz hergestellt und Beteiligungsmöglichkeiten der angrenzenden Staaten und deren Bevölkerung gewahrt würden.

Verbindlicher Leitfaden für Laufzeitverlängerung

Im Dezember war es unter deutscher Beteiligung gelungen, im Rahmen der Espoo-Konvention einen verbindlichen Leitfaden zu verabschieden, der festlegt, unter welchen Bedingungen grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) bei AKW-Laufzeitverlängerungen durchgeführt werden müssen. Zuständig für eine Beteiligung an derartigen ausländischen UVP-Verfahren sind in Deutschland die Landesbehörden. Das BMU will künftig diese Behörden fachlich stärker unterstützen, wenn sie sich an diesen Prüfungen beteiligen.

Auf internationaler Ebene wird sich das BMU auch nach Abschaltung der letzten deutschen AKW für höchste Sicherheitsstandards einsetzen. Ähnliches gilt für die Atomhaftung, wo in vielen Ländern – anders als in Deutschland – noch kein Prinzip der unbegrenzten Betreiberhaftung gilt. Wichtige Voraussetzung für ein wirksames Eintreten für höchste Standards ist der Kompetenzerhalt in Deutschland. „Deutschland soll sich auch ohne eigene AKW weiterhin engagiert in den internationalen Atom-Diskurs einbringen können. Es kursieren viele Mythen zur Atomkraft, denen wir mit validen Fakten auf dem neuesten Stand begegnen wollen“, so Schulze.

Eine klare Absage erteilte sie Forderungen, für den Klimaschutz auf Atomkraft zu setzen. „Das wäre ein fataler Irrtum. Kein Klimaschützer sollte sich auf Atomkraft als Lösung für den Klimaschutz verlassen.“ Wenn man Folgekosten und Risiken einrechne, sei sie die teuerste Option zur Stromgewinnung. Neubauprojekte seien nicht nur zu teuer, sondern dauerten auch viel länger als man sich angesichts der Klimakrise erlauben könnte. Zudem produzierten sie Müll für 30.000 Generationen. „Das ist alles andere als nachhaltig – zumal es mit den erneuerbaren Energien wesentlich günstigere, sichere und nachhaltige Energietechnologien gibt.“

Auch Grüne sehen Laufzeitverlängerung kritisch

„Wir begrüßen, dass sich nun auch das BMU für die Schließung der Atomfabriken Urenco und ANF in Deutschland sowie für Stellungnahmen zu Laufzeitverlängerungen und Neubauvorhaben in unseren Nachbarländern einsetzt. Auch die nun deutlich ablehnende Haltung innerhalb der EU zu neuen Förderquellen für die Atomkraft wie etwa Taxonomie oder gelbem Wasserstoff ist zu unterstützen“, sagt Sylvia Kotting-Uhl (Grüne), Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag. Die klare öffentliche Haltung des BMU komme allerdings zu spät, um in dieser Wahlperiode noch Wirkung entfalten zu können.

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