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Der vorletzte Wille

Lesezeit: 8 Minuten

Wer eine Patienten­verfügung hat, kann mitbestimmen, wie weit die medizinische Behandlung gehen soll. Unter Experten und Patienten ist das Dokument umstritten.


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Mit 82 Jahren wurde bei meiner Mutter Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt, im Endstadium“, berichtet eine 59-jährige Bäuerin aus Süddeutschland. „Obwohl die Ärzte den Tumor für inoperabel und unheilbar hielten, bekam meine Mutter das volle Programm, Chemotherapie und Bestrahlung. Statt friedlich zu sterben, wurde ihr Leiden um ein halbes Jahr verlängert. Ich hätte ihr das am liebsten erspart. Und mir möchte ich so etwas später auch ersparen“, erklärt die Bäuerin weiter.


Trotz dieser eindeutigen Meinung hat sie selbst noch keine Patientenverfügung verfasst. Sie befindet sich damit in guter Gesellschaft: Nur etwa 2,5 Prozent aller Deutschen besitzen überhaupt ein solches Dokument. Dabei könnte es der Bäuerin gute Dienste leisten, sollte sie einmal in die gleiche Situation kommen wie ihre Mutter.


Der Patientenwille zählt


Seit September letzten Jahres sind Ärzte nämlich per Gesetz verpflichtet, sich bei der Behandlung nach dem schriftlich geäußerten Patientenwillen zu richten. Auch wenn das bedeutet, dass der Kranke dadurch stirbt. In der Ärztezunft ist das Dokument und sein Umfang umstritten. Prof. Dr. Junghanß, Leiter der Palliativstation der Uniklinik Rostock, ist ein Befürworter der Patientenverfügung. „Damit bleibt der Patient der Kapitän, auch wenn er sich nicht mehr äußern kann“, begründet der Arzt. Auch für Angehörige kann ein solches Dokument entlastend sein. Zudem erleichtert es das Gespräch mit den behandelnden Ärzten, berichten Bäuerinnen aus eigener Erfahrung. Denn längst nicht alle sind den Patientenwünschen gegenüber so aufgeschlossen wie der Palliativmediziner Junghanß. Oft kostet es sie große Überwindung, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterlassen. Mit Patientenverfügung haben Angehörige einen leichteren Stand.


Den eigenen Tod planen?


Doch eine Patientenverfügung zu verfassen ist alles andere als leicht. Die Grundlage ist schließlich eine Horrorvision: Was soll passieren, wenn man hilflos daliegt, angeschlossen an Maschinen? Wenn man große Schmerzen hat, aber keine Möglichkeit mehr, sich seiner Umwelt mitzuteilen? Möchte man aus diesem Zustand entkommen – auch wenn die Folge der eigene Tod ist? Mit solchen Fragen beschäftigt sich niemand gerne. Gerade jungen und gesunden Menschen fällt es schwer, sich eine Meinung darüber zu bilden, was sie als Schwerstkranke wollen würden.


Neben der grundsätzlichen Scheu, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen, verlangt das Verfassen einer Patientenverfügung viel Know-how und Sorgfalt. Wiebke Cornelius hilft als unabhängige Patientenberaterin der Verbraucherzentrale Rostock Menschen dabei.


Denn mit Sätzen wie „Ich will nicht künstlich beatmet werden“ ist es längst nicht getan. Stattdessen müssen medizinische Laien unbekannte medizinische Situationen vorweg nehmen und bewerten. So wird der Satz „Ich möchte nicht künstlich beatmet werden“ nur durch die Angabe, wann er gilt, also z. B. „wenn ich mich im Wachkoma oder im Endstadium einer tödlich verlaufenden Erkrankung befinde“ für die Ärzte relevant.


Grundsätzlich hilft es dem Arzt, je genauer und detaillierter die Patientenverfügung ist. „Ohne Beratung durch den Hausarzt oder geschulte Patientenberater ist das für Laien nur schwer zu bewerkstelligen“, gibt Wiebke Cornelius zu bedenken. „Und selbst mit Berater wird es nicht gelingen, alle Eventualitäten zu berücksichtigen“, so die Fachfrau weiter. Deshalb empfiehlt sie, auch allgemeine Wertvorstellungen und die Einstellung zum Leben in die Verfügung mit aufzunehmen.


Eine erste Orientierung können zudem Musterverfügungen und Broschüren von Verbraucherzentrale, Justizministerium oder Hospizvereinen geben. Von Internet-Vorlagen zum Ankreuzen rät Patientenberaterin Wiebke Cornelius hingegen ab. „Wenn man Dinge ankreuzt, deren Bedeutung man nicht genau kennt, können Maßnahmen vorgenommen oder unterlassen werden, die man so nicht gewollt hat“, erläutert die Fachfrau.


Einen Tipp hat Wiebke Cornelius noch: Wer eine Patientenverfügung aufsetzt, sollte unbedingt zusätzlich noch eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung erstellen. Denn im Ernstfall entscheidet nicht allein der behandelnde Arzt über die Umsetzung der Patientenverfügung, sondern muss sich mit einem gesetzlichen Vertreter, also entweder dem Bevollmächtigten oder dem Betreuer, abstimmen. Wichtig ist das etwa, wenn sich die Patientenverfügung als auslegungsbedürftig oder lückenhaft erweist. „Eine Person Ihres Vertrauens kann am besten einschätzen, was Sie gewollt hätten“, sagt Wiebke Cornelius. (Ausführliche Informationen zum Thema Vorsorgevollmacht lesen Sie im Rechtsteil ab Seite 44).


Im Zweifel für das Leben


Die Angst vor einer falschen Anwendung der Patientenverfügung und vor Missverständnissen sitzt bei vielen Menschen tief. Denn im Ernstfall können alle Entscheidungen der Ärzte den eigenen Tod bedeuten.


Das ist umso brisanter, als das neue Gesetz die Verfügung nicht ausdrücklich auf den Sterbeprozess beschränkt. Professor Junghanß nennt ein Beispiel: „Wenn jemand verfügt hat, dass er keine Bluttransfusionen bekommen möchte, z.B. aus religiösen Gründen, bekommt er auch keine. Auch wenn die Entscheidung den Tod nach sich zieht. Alles andere wäre Körperverletzung und somit strafbar“, schildert der Mediziner.


Doch echte Missverständnisse hält er für nahezu ausgeschlossen. Niemand müsse Angst haben, dass er im Notfall nicht die Maximalversorgung erhält, nur weil er eine Patientenverfügung verfasst hat. „Die ersten 24 Stunden gehören dem Leben. Wird ein Notarzt zu einem Unfall oder zu einem Herzinfarktpatienten gerufen, ist er verpflichtet, alles Menschenmögliche zu tun, um ihn zu retten“, bekräftigt der Arzt.


„Erst, wenn im späteren Behandlungsverlauf z. B. eine irreversible Hirnschädigung festgestellt wird, kommt die Patientenverfügung ins Spiel.“ Und Grenzentscheidungen treffe niemand leichtfertig, versichert der Mediziner. „Sie werden vorher ausführlich mit den Angehörigen und dem Ärzteteam diskutiert, um den mutmaßlichen Patientenwillen festzustellen“, so Professor Junghanß weiter.


Das Gefühl, über Dinge zu entscheiden, über die man viel zu wenig weiß, beschleicht insbesondere die Gesunden beim Verfassen der Patientenverfügung. Die Sorge ist nicht ganz unbegründet. Auch Ärzte berichten, dass der Patientenwille sich im Lauf der Erkrankung manchmal ändert. Das Kernproblem: Manche Umstände, die Menschen bei guter gesundheitlicher Verfassung unerträglich erscheinen, können in der konkreten Situation vom Betroffenen ganz anders wahrgenommen werden.


Prof. Dr. Ekkehardt Kumbier, leitender Oberarzt der Psychiatrie der Uniklinik Rostock, berichtet von einem Alzheimerpatienten: „Im Hinblick auf die drohende geistige Verwirrung hat er vor 10 Jahren in einer Patientenverfügung kategorisch alle intensivmedizinischen Maßnahmen ausgeschlossen, wenn er orientierungslos ist und nur noch durch andere versorgt werden kann. So fremdbestimmt wollte er nicht leben“, berichtet der Oberarzt. „Mitt­lerweile ist der Patient schwer dement, macht aber einen lebensfrohen Eindruck“, berichtet der Mediziner weiter.


Solange dieser Patient sich noch äußern kann, ist das kein Problem. Jederzeit kann er die Patientenverfügung mündlich widerrufen. Ist er dazu nicht mehr in der Lage, können die Ärzte nur durch sein Verhalten auf eine Willensänderung schließen. Aber auch das ist laut Gesetz zulässig.


Vom Pflegeheim auf die Intensivstation


Alte Menschen oder Menschen, die schon lange an einer unheilbaren Krankheit leiden, haben oftmals einen leichteren Zugang zum Thema Patientenverfügung. Ihre größte Angst ist es, nicht in Frieden sterben zu dürfen. Deshalb legen sie öfter als andere fest, wie sie in welcher Situation behandelt werden möchten – und wann sie nicht mehr behandelt werden wollen.


Ihre Angst ist nicht ganz unbegründet. Denn schon heute liefern Notärzte am häufigsten Patienten aus Pflegeheimen ins Krankenhaus ein. Bekommt ein chronisch Schwerstkranker alter Mensch dort einen Herzstillstand oder eine Lungenentzündung, ist es üblich, ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus zu verfrachten, zu reanimieren und zu beatmen.


Das geschieht oft, weil weder das Pflegepersonal noch die Familie die Verantwortung für den Tod übernehmen möchten. Also wird gemacht, was medizinisch möglich ist. „Dabei wäre es das Sinnvollste, dafür zu sorgen, dass der Mensch nicht leidet, und alles Weitere zu unterlassen. Aber das passiert nicht. Einfach so zu sterben ist in unserer Gesellschaft nicht mehr vorgesehen“, sagte kürzlich Rettungsmediziner Michael de Ridder dem Spiegel.


Dieses „friedliche Sterben“, das viele alte Menschen sich wünschen, ist jedoch oft nur mit palliativmedizinischer Unterstützung möglich. Das heißt für die Patientenverfügung: „Man sollte nicht nur Behandlungen ausschließen, sondern auch Dinge einfordern“, rät Patientenberaterin Wiebke Cornelius. Bis zuletzt sollen schließlich Symptome und Schmerzen gelindert werden, auch wenn sie im Endeffekt lebensverkürzend wirken.


„Offen drüber sprechen“


Krankenhausseelsorger Rainhard Scheuermann hält die Patientenverfügung in vielerlei Hinsicht für einen Segen. Zum einen entlastet sie den Einzelnen: „Es gehört viel Mut dazu, sich als junger Mensch mit dem Sterben zu beschäftigen. Aber wenn man sich darüber eine Meinung bildet und mit der Familie darüber spricht, kann das sehr entlastend sein“, glaubt der Seelsorger. Und das gilt nicht nur für den Betroffenen: Auch die Angehörigen und Betreuer kann die Patientenverfügung stark entlasten: „Man trifft schwierige Entscheidungen mit besserem Gefühl, wenn man weiß, dass sie dem Willen des Angehörigen entsprechen.“


Manche kirchliche Betreuungsvereine sehen das anders: Sie befürchten, dass die öffentliche Diskussion Druck auf alte Menschen ausübt, sich nicht allzu lange am Leben erhalten zu lassen. Das gelte besonders für einsame Menschen ohne soziales Umfeld, so die Kritik. Pastor Scheuermann sieht es anders: Patientenverfügungen können dafür sorgen, dass das Sterben in der Gesellschaft wieder präsenter wird und ein Dialog darüber erneut in Gang gesetzt wird. „Vielleicht führen sie dazu, dass mehr Menschen so sterben können, wie sie es sich wünschen.“ Kathrin Hingst

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