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Seltsame Siedler

Lesezeit: 6 Minuten

Sie leben auf dem Land und sind eine Randerscheinung im rechtsextremen Spektrum.Wie gefährlich sind die „Völkischen Siedler“ wirklich?


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Sie waren so nett! Freundlich, sympathisch, hilfsbereit“, erzählt eine junge Landwirtsfrau. „Ich war begeistert, richtig angetan.“ Erst zwei Jahre später wendet sich das Blatt. Im Gespräch auf dem Dorfplatz fallen Worte wie „Rasse“, „Untermensch“ und „die deutsche Volksgemeinschaft“. Zum ökumenischen Osterfeuer sollen Lieder mit rechtspolitischem Hintergrund gesungen werden. Die gute Nachbarschaft zerbricht, als die politische Überzeugung der Zugezogenen zur Sprache kommt.


So oder so ähnlich berichten Nachbarn und Dorfbewohner über ihre Kontakte zu sogenannten „völkischen“ Familien. Diese sind eine in Deutschland statistisch schwer erfassbare Gruppe. Sie beziehen sich auf nordisch-germanische Traditionen, lehnen Feste und Sakramente der christlichen Kirche, z.B. Weihnachten, Ostern, Taufe und Ehe, ab. Handwerklich sind sie sehr versiert, oft bauen sie Bio-Gemüse an und räumen Ökologie und Naturschutz insgesamt einen hohen Stellenwert ein. Ihre Gesinnung wird von Experten als rassistisch und antisemitisch beschrieben. Priorität habe für sie allein die Erhaltung „des deutschen Volksstammes“.


Auf dem Land zuhause:

Völkische Siedler sind aktuell in neun Bundesländern anzutreffen, so die Aussage einer Untersuchung der Berliner Amadeo-Antonio-Stiftung. Etwa 1000 Personen sollen es sein (siehe Übersicht). „Als Selbstversorger ziehen die Siedler stets aufs Land bzw. breiten sich dort aus. Gerne kaufen sie leer stehende Gehöfte, um dort autark, ohne Fernsehen und mit einer großen Ablehnung gegenüber moderner Technik und modernen Medien zu leben. Sie wirken wie Aussteiger, wie Alternative“, sagt die Journalistin Anna Schmidt. „Sie bringen Leben in aussterbende Dörfer, bekommen oft zahlreiche Kinder und setzen sich vor Ort ein. Selbst wenn sie eher zurückgezogen wohnen, engagieren sie sich stark in Kita, Schule, Vereinen und Gremien.“ Schmidt hat für die Amadeo-Antonio-Stiftung eine Untersuchung zum Phänomen von völkischen Gruppen im ländlichen Raum geleitet. Ihre Veröffentlichung förderte das Bundesinnenministerium 2015 im Rahmen des Programmes „Zusammenhalt durch Teilhabe“. (Bitte beachten Sie das ausführ-liche Online-Interview.)


In bestimmten Regionen, z.B. in der Altmark, Prignitz, im Raum Güstrow/Rostock und Ostholstein, ist die Nähe bzw. Nachbarschaft zu völkischen Familien durchaus real und greifbar.


Landwirtsfamilien kommen dort z.B. im Schulalltag, im Elternbeirat oder im Sportverein mit völkischen Siedlern zusammen. Die Bürgermeister dieser Regionen, ebenso die lokalen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus, bestätigen die „Sichtbarkeit“ und Existenz völkisch ausgerichteter Dorf- und Landbewohner. Zudem verweisen sie darauf, dass mehr und mehr völkisch motivierte Veranstaltungen, z.B. Sonnenwendfeiern oder Maitänze, stattfinden.


Einige Beispiele: In einer privaten, evangelischen Dorfschule im Landkreis Rostock sind heute bereits 9 von 60 Kindern völkischen Familien zuzuordnen. In Schleswig-Holstein gab es Versuche, Jugendliche zu völkisch ausgerichteten Zeltlagern einzuladen. In Brandenburg finden auf einem Hof links-alternative Strömungen mit vermutlich rechts-gerichteten Interessen zusammen, es werden öffentliche Thementage und Hoffeste gefeiert.


Bemerkenswert: Die Landfrauen in Sachsen-Anhalt haben, nachdem sie bereits vor Jahren die Notwendigkeit zur politischen Aufklärung sahen, reagiert. Im Rahmen der Schulungsreihe „PowLa“ bilden sich nun Landwirtinnen zu „Demokratie-Beraterinnen“ aus. Sie beteiligen sich vor Ort an Seminaren, Vorträgen und Aktionen für Toleranz.


Völkisch gleich rechtsextrem?

Im Raum steht aber die Frage: Ist all dies problematisch, gar bedrohlich? Sind die völkischen Siedler tatsächlich im Rechtsextremismus verankert? Rein optisch – Frauen meist in langen Röcken, Männer in Zimmermannshosen, Hemd und Weste – entsprechen sie mit ihrer tradierten Erscheinungsweise so gar nicht dem (früheren) Bild des Neonazis mit Glatze und Springerstiefeln.


Experten sagen einstimmig: Ja, hier handelt es sich um eine Form von Rechtsextremismus. Völkische Siedler vertreten eine nationalistische Ideologie, die zu großen Teilen auf die Bewegung der „Artamanen“ zurückgeht, die sich in den 1920er-Jahren gründete und 1934 mit ihrer Idee des Reichsarbeitsdienstes in NS-Organisationen aufging. „Völkische Siedler kategorisieren Menschen anhand ihrer Abstammung in mehr oder weniger wertvolle Gruppen. Sie halten sich nicht an demokratische Grundprinzipien“, sagt Elisabeth Siebert, Leiterin des Regionalzentrums für demokratische Kultur der Nordkirche in Rostock. Vor Ort berät und unterstützt die Soziologin und Politikwissenschaftlerin mit ihrem Team Einzelpersonen, Familien und Vereine.


Ebenfalls lehnen die Siedler moderne Lebensentwürfe ab. Anna Schmidt erklärt: „Menschen sind nach ihrer Ideologie nicht frei und gleich. Diese Einstellung ist zutiefst menschenfeindlich. Emanzipation, Homosexualität, Individualität: Vielfalt akzeptieren sie nicht.“


Eine Gefahr für die Provinz?

Wie ist die fragliche Gesinnung demnach einzuschätzen? Wenn Völkische Siedler in der Zurückgezogenheit still und heimlich ihr eigenes Süppchen kochen, sind sie dann von Bedeutung für den ländlichen Raum? Die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Siebert hat eine klare Wertung gefunden: „Völkische Siedler sind eine Randerscheinung. Sie stellen zahlenmäßig keine Bedrohung dar. Bestimmte Regionen stehen auch nicht vor der ‚Übernahme‘ durch völkische Gruppen. Aber – und das ist der bedrohliche Aspekt – sie halten Einzug in die sozialen Bereiche und Gremien auf dem Land. Vor Ort werden sie stark und entscheiden mit.“ Siebert sieht zudem eine zweite Entwicklung mit Tragweite: „Völkische Gruppen verbinden sich untereinander, auch mit anderen rechtsextremen Familien und Sippen und NPD- nahen Personen oder Amtsträgern. Wir sprechen inzwischen von völkischen Netzwerken. Die Verflechtung erfolgt im Stillen, und zwar bundesweit.“


Was heute vielen Bürgern ‚harmlos‘ erscheinen mag, kann in die Zukunft wirken, warnt Siebert. „Was passiert, wenn völkische Netzwerke in vielen Jahren die Überhand gewinnen?“ In der Forschung geht man längst davon aus, dass extreme, radikale, auch esoterische Gruppen an Zulauf gewinnen. Viele Bürger spürten eine große Verunsicherung, Enttäuschung und fehlende Verbundenheit zu den Volksparteien. Zudem würden Krisen in Wirtschaft und Politik diese Tendenz weiter verstärken.


Extremes Denken ist damit auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft. Es scheint riskant, die Gesinnung völkischer Gruppen herunterzuspielen und damit möglicherweise zu unterschätzen. „Schauen Sie vor Ort genau hin, fragen Sie nach! Wenn die Irritation groß ist, suchen Sie örtliche Beratungsstellen auf“, ermutigt Elisabeth Siebert.


Wie schwer und verzwickt das allerdings im Hofalltag sein kann, bringt eine Landwirtin zum Ausdruck: „Die Siedler sind ein Tabu-Thema. Keiner möchte vor Ort Spannungen, ich auch nicht. Die Situation ist bedenklich. Doch man hat immer genug andere Sorgen und mag sich hiermit so wenig wie möglich beschäftigen.“ -rb-

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