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Angelernt auf lange Sicht

Lesezeit: 7 Minuten

Carl Niehues ist erleichtert. Victor ist jetzt Auszubildender auf seinem Betrieb. Nach sieben Monaten Flucht und einem halben Jahr Ungewissheit. Und er bleibt, auch nach der Ausbildung.


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Dass Victor Okeibunor bleiben darf war ein Drahtseilakt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte den Asylantrag des 29-jährigen Nigerianers abgelehnt und wollte ihn zurück in seine Heimat schicken. Dabei hatte er gerade auf dem Ackerbau- und Schweinebetrieb von Carl Niehues (31) in Sendenhorst-Albersloh Fuß gefasst. Doch noch bevor das BAMF zur Anhörung einläd, starten Niehues und Victor durch. Mit Geduld und viel Unterstützung aus der Gemeinde schaffen sie es durch den deutschen Bürokratiedschungel.


Victor ist jetzt Auszubildender bei Carl Niehues. Für die Zeit der Ausbildung und zwei weitere Jahre danach ist er sicher. Vorausgesetzt er bleibt bei Niehues auf dem Betrieb. Und das ist der Plan. „Ich brauche Victor als festen Mitarbeiter“, sagt der Betriebsleiter.


Gute Arbeitskräfte sind Mangelware. Mit der Flüchtlingswelle sind rund 1,5 Mio. Asylsuchende in Deutschland angekommen. Mehr als die Hälfte werden dauerhaft bleiben. Viele Flüchtlinge sind hochgebildet und wollen in Deutschland Fuß fassen. Eine einzigartige Chance für die Landwirtschaft? Für Carl Niehues auf jeden Fall.


Problemlos ins Praktikum:

Bis Januar 2016 schmeißen Carl Niehues und sein Vater den Betrieb mit 1500 Schweinen und 95 ha Ackerbau allein. Schon lange war klar, auf die Dauer geht das nicht.


Ende Dezember 2015 halten zwei Asylsuchende mit Fahrrad vor Niehues Haustür und fragen nach Arbeit. Hals über Kopf kann er sie nicht einstellen, aber ein paar Wochen später fährt er ins nahegelegene Flüchtlingswohnheim Rinkerode. Dort lernt Niehues Victor kennen. Victor ist damals 27 Jahre alt, gelernter Klimatechniker und Elektriker und will unbedingt arbeiten. Schon am nächsten Tag holt Niehues ihn zur Probearbeit ab.


Mit Erfolg: „Victor passt rein“, findet Niehues und stellt ihn zunächst für drei Monate als Praktikanten ein. Dafür muss er die Erlaubnis der örtlichen Ausländerbehörde einholen. Das steht so in Victors Identitätsdokument, das er von der Ausländerbehörde bekommen hat. Denn ob ein Asylsuchender in Deutschland arbeiten darf, hängt von seinem Aufenthaltsstatus ab. Der wiederum ergibt sich aus dem formalen Asylantrag, den der Flüchtling bei seiner Einreise gestellt hat und in einer Anhörung begründet. Die Bearbeitung des Asylgesuchs und die Verleihung des Aufenthaltsstatus übernimmt das BAMF.


Victor hat zu dem Zeitpunkt als Niehues ihn Anfang 2016 kennenlernt den Aufenthaltsstatus „gestattet“. Er hatte bereits seinen Asylantrag gestellt, seine Anhörung stand aber noch aus. Das BAMF hatte also noch nicht entschieden, ob Victor Asyl gewährt wird oder nicht. Für die Arbeitserlaubnis war das vorerst kein Problem. Da Victor schon mehr als drei Monate zuvor seinen Asylantrag gestellt hatte und in seinem Pass kein ausdrückliches Arbeitsverbot aufgeführt war, stimmte die Ausländerbehörde dem Praktikum auf Niehues Betrieb postwendend zu.


Die Anmeldung bei der Versicherung und dem Steuerberater erfolgte wie bei einem deutschen Arbeitnehmer. „Problemlos“, erinnert sich Niehues.


Allrounder mit Geschick:

Niehues bildet seinen Praktikanten zum Allrounder aus. Viel länger als bei inländischen Mitarbeitern hat das nicht gedauert. Im Gegenteil: Schnell fällt Niehues das technische Geschick von Victor auf. Schon nach zwei Wochen befüllt dieser die Annahme der Biogasanlage allein.


Niehues Vater übernahm Victors Ausbildung in der Außenwirtschaft. Auf dem Feld grubberte, pflügte und kreiselte er bald alleine. Auf die Straße darf er nicht. „Trecker fahren macht Spaß, dabei kann man Musik hören“, freut sich Victor. Er passt so gut ins Team, dass sich Vater und Sohn entschieden, ihn nach dem Praktikum auf 450 €-Basis anzustellen.


Ruhe vor dem Sturm:

Weil sich das Arbeitsverhältnis damit änderte, mussten sie erneut die Ausländerbehörde um Erlaubnis fragen. Schließlich hatte Victor nach wie vor nur eine „Gestattung“ mit eingeschränkter Arbeitserlaubnis. Die Behörde kann das Arbeitsverhältnis einschränken, oder die Arbeitsbedingungen auf dem Betrieb prüfen, bevor sie ihre Erlaubnis gibt. Bei Niehues hatte aber niemand Bedenken: „Die Arbeitserlaubnis hatten wir nach drei Tagen. Auch die Ummeldung beim Steuerberater war kein Problem“, erinnert er sich. Im Nachhinein hätte Victor auch in ein sogenanntes Einstiegsqualifizierungsjahr starten können. Das ist ein sechs- bis zwölfmonatiges Praktikum, das von der Agentur für Arbeit bezuschusst wird. Niehues hat diese Förderung nicht in Anspruch genommen. „Ich weiß nicht, wie sicher das für Victor mit seinem Aufenthaltsstatus gewesen wäre“, erklärt er. Dafür beantragt er die Einstiegsförderung für Flüchtlinge bei der Behörde. Mit gut 300 € pro Monat wurde Niehues drei Monate lang unterstützt.


Da selbstverständlich auch bei Flüchtlingen der Mindestlohn gilt, arbeitet Victor halbtags. Vormittags besucht er einen Deutschkurs. „Das passt mit den Stunden richtig gut“, freut sich Niehues.


Halbjährige Zitterpartie:

Das BAMF entscheidet im Schnitt nach drei Monaten, ob ein Asylsuchender in Deutschland bleiben darf oder nicht. Obwohl Victor seinen Asylantrag schon im Herbst 2015 gestellt hatte, stand im Frühling 2016 noch nicht einmal der Termin für die Anhörung fest.


Weil Victor aus Nigeria kommt und seine Flucht nicht rein politisch motiviert war, rechneten die Ehrenamtler aus Rinkerode Victor keine großen Bleibechancen aus. Eine Zitterpartie für Niehues und Victor. Sollte das BAMF Victors Asyl tatsächlich ablehnen, würde Victor seine Gestattung verlieren und müsste ausreisen. Wann genau, entscheidet dann die örtliche Ausländerbehörde. Je nach Fall muss die Ausreise nach der Asylablehnung innerhalb eines Monats vonstattengehen.


Niehues wünscht sich eine bessere Lösung von der Politik. „Wir brauchen solche motivierten Leute wie Victor in der Landwirtschaft und wir brauchen Planungssicherheit,“ findet er und nahm das Ganze selbst in die Hand.


Ausbildung als Wildcard:

Bevor das BAMF Victors Asylantrag ablehnen konnte, bot Niehues Victor im Sommer 2016 einen Ausbildungsplatz an. Für die Zukunft hatten Niehues und Victor das sowieso angedacht. „Ohne Abschluss geht’s in Deutschland nicht“, findet Niehues. Das zweite Plus der Ausbildung: Beginnt ein Asylsuchender eine Lehre, ist er für die gesamte Dauer der Ausbildung „geduldet“, egal ob sein Asylantrag in der Zeit abgelehnt wird oder nicht. Übernimmt der Lehrbetrieb den Flüchtling nach der Ausbildung, ist er auch in den ersten zwei Jahren nach der Ausbildung in Deutschland geduldet. Danach ist eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis möglich. „Eine Ausbildung ist wie eine Wildcard“, so Niehues. Und dementsprechend schwer zu bekommen.


Damit Victor seine Ausbildung beginnen durfte, musste wieder die Ausländerbehörde zustimmen. Niehues und Victor mussten dafür unzählige Dokumente vorlegen, u.a. Victors Geburtsurkunde und seine Wahlberechtigung aus Nigeria – aber immer erst auf Nachfrage. „Wie ein Bauantrag: Wenn man nicht dranbleibt, passiert nichts“, erinnert sich Niehues. Zum Glück hatten sie tatkräftige Unterstützung von Frau Markashyna von der Arbeitsagentur Münster-Ahlen , die bei der Kommunikation mit der Behörde half. Dennoch, von Februar bis Juli 2016 ist für Victor alles ungewiss. Zwei Wochen vor Ausbildungsbeginn dann die große Erleichterung: Gerade noch rechtzeitig konnte er Anfang August 2016 seine Ausbildung auf dem Hof Niehues beginnen.


Auch wenn Victor deutsch sehr gut versteht, die Grammatik fiel ihm so schwer, dass Niehues ihn ein Jahr nach Ausbildungsbeginn in die Werkerausbildung zurückstufte. „Die Betreuung in der Werkerklasse ist optimal, es sind nur vier Schüler“, erklärt Niehues den Schritt. Die Umstufung ist nur in wenigen Bundesländern möglich, Nordrhein-Westfalen gehört dazu. Seitdem macht Victor deutliche Fortschritte. „Er hatte in den letzten beiden Tests eine zwei, da sind wir sehr stolz drauf“, freut sich Niehues.


Zu Hause in Rinkerode:

Bei Familie Niehues fühlt Victor sich wohl. Er ist bei jedem Fest, wie an Geburtstagen, zur Kindstaufe oder Ostern, mit dabei. Seine eigene Familie hat Victor seit seiner Flucht 2015 nicht mehr gesehen. Mit zwei von seinen Geschwistern hält er aber über Facebook Kontakt. „Meine Familie wird nicht bedroht“, weiß er seitdem. Das beruhigt. Auch der Ausbildungsvertrag gibt ihm eine Sicherheit, die er lange nicht hatte. „Ich möchte jetzt endlich richtig in Deutschland ankommen“, sagt er. Niehues freut sich, dass der Nigerianer auch nach seiner Ausbildung bleiben wird. Anders als viele andere Auszubildende hat Victor keinen Betrieb zu Hause, auf den er später zurückkehren möchte. „Anlernen auf lange Sicht“, lautet Niehues Motto.


Hanne Honerlagen

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