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Garantien gibt im Moment niemand

Lesezeit: 10 Minuten

Auch unter Landwirten ist die Sorge vor einem Gaslieferstopp groß. Doch welche Bereiche der Landwirtschaft wären am stärksten betroffen? Und gibt es Auswege aus der Misere?


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Als Robert Habeck Ende Juni die „Alarmstufe Gas“ ausrief, warnte er vor einer „trügerischen Wirklichkeit“, in der wir uns gerade befänden. Deutschland drohe eine Gaskrise ungeahnten Ausmaßes. Noch fließt zwar Gas aus Russland in Richtung Deutschland. Aktuell auch noch so viel, dass wir damit unseren derzeitigen Bedarf decken können. Allerdings kommt weniger Gas als in den Jahren zuvor an, weshalb sich die Speicher für die kalte Jahreszeit viel zu langsam füllen. Und im schlimmsten Fall dreht uns Wladimir Putin den Gashahn schon bald zu. Ob ein Versorgungsengpass oder ein Gaslieferstopp, beides würde große Teile der deutschen Wirtschaft massiv treffen. Auch in der Landwirtschaft ist die Sorge groß (Redaktionsschluss: 11.7.2022).


Landwirte gehören zwar laut Bundeswirtschaftsministerium zur Gruppe der „geschützten Kunden“. Die Bundesnetzagentur wird im Notfall also zunächst industrielle Großkunden vom Verbrauch ausschließen. Doch eine Versorgungsgarantie ist das nicht. Laut dem Präsidenten der Bundesnetzagentur stehe die Lebensmittelversorgung und der Tierschutz zwar weit vorne, feste Zusagen zu Lieferungen kann er jedoch nicht machen. Dementsprechend vorsichtig äußert sich daher auch das Bundeslandwirtschaftsministerium: Der verfassungsrechtlich garantierte Tierschutz werde „angemessene Berücksichtigung“ erfahren, heißt es schmallippig.


Doch neben der Versorgungssicherheit gibt es ein zweites Damoklesschwert, das über den Betrieben hängt – § 24 des Energiesicherungsgesetzes. Bereits in der momentanen Alarmstufe, können die Energieversorger, sofern die Bundesnetzagentur eine „erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen“ feststellt, die Gaspreise in bestehenden Verträgen anpassen. Mit anderen Worten: Verbrauchern und Wirtschaft droht ein Preisschock – womöglich auch denjenigen, die sich ihre Gaspreise eigentlich für einen längeren Zeitraum abgesichert haben. Das soll Insolvenzen bei den Gasversorgern verhindern. Derzeit arbeitet das Ministerium an weiteren Maßnahmen, um Unternehmen in diesem Sektor finanziell zu stützen.


Auf den Höfen


Bleibt noch die Frage: Wie abhängig sind hiesige Landwirte vom Gas? Am kritischsten ist es bei den Geflügelhaltern. Hier hängt bereits das Ausbrüten der Küken am Gastropf. „Müssten wir aufgrund von fehlendem Gas den Brutvorgang unterbrechen, würden wir millionenfach ungeschlüpftes Leben zum Tode verurteilen“, sagt der Vorsitzende des Bundesverbands bäuerlicher Hähnchenerzeuger Stefan Teepker.


In der Schweinehaltung ist das Bild differenzierter. Gas wird hier zumeist zum Heizen der Ställe genutzt. Entsprechend gering ist der Bedarf im Sommer. Außerdem nutzen viele Landwirte Flüssiggas. Das sogenannte LPG besteht großteils aus Propan, einem Nebenprodukt aus der Erdölraffinerie. Es hat daher nicht direkt mit Erdgas (Methan) zu tun. Jedoch spiegelt sich der Gasstreit auch hier in den Preisen wieder. Der Preis für LPG ist rund 50% teurer als vor einem Jahr. Zudem steigt die Nachfrage für Tanks. Viele Gewerbebetriebe, aber auch Landwirte wollen sich offenbar absichern, um im Ernstfall auf LPG umstellen zu können. Matthias Quaing, Geschäftsführer der Gassparte des Schweinehalterverbands ISN, rät Landwirten, ihre Tanks bald zu füllen. Mit Beginn der Heizperiode steigen die Preise in der Regel nochmals an. Milchviehhalter und Ackerbauern verbrauchen zwar nicht direkt große Mengen Gas. Allerdings trifft es sie indirekt über die vor- und nachgelagerten Bereiche. Wir geben einen Überblick über die einzelnen Branchen und die Folgen auf den Höfen.


Molkereien


Gas ist für Molkereien der mit Abstand wichtigste Energieträger. Laut Dr. Björn Börgermann vom Milchindustrieverband (MIV) decken die Unternehmen rund 80% ihres Energieverbrauchs mit Erdgas ab. Und bei der Milchverarbeitung gibt es viele energieintensive Prozesse: das Pasteurisieren der Milch, die Erzeugung von Heißluft für die Milchpulverherstellung, aber auch zum Reinigen und Heizen der Gebäude nutzen die meisten Erdgas. Entsprechend hart würde die Milchverarbeiter ein Lieferstopp treffen. Die Lagerfähigkeit von Rohmilch ist begrenzt. Den Molkereien bleiben nur ein bis zwei Tage. Entsprechend schnell würden es Landwirte zu spüren bekommen, wenn die Molkereien keine Milch mehr verarbeiten können. Ein schnelles Ausweichen auf alternative Energiequellen gestaltet sich jedoch schwierig.


Zudem würde eine Umrüstung allein mehrere Monate dauern. Und grüne Energien wie Wasserstoff wären maximal in ein paar Jahren in ausreichender Menge verfügbar. Für die umfängliche Nutzung von Solar- und Windenergie sind die Netze vor Ort nicht ausgelegt, denn Molkereien zählen zu den energieintensiven Industrien.


Daher macht sich der MIV bei der Politik dafür stark, dass Molkereien auch als „geschützte Kunden“ eingestuft werden. Aber laut MIV-Geschäftsführer Börgermann wird niemand Garantien geben können, dass im Falle einer Unterversorgung mit Gas, die Milch von den Landwirten auch abgenommen werden könne.


Schlachthöfe


Im top agrar online-Interview äußerten sich die Geschäftsführer des mittelständischen Schlachtunternehmens Steinemann ebenfalls besorgt. Sie nutzen an drei ihrer fünf Standorte moderne Blockheizkraftwerke (BHKW) um Strom und Wärme zu erzeugen – mit Erdgas. Schon in den letzten Jahren haben sie verstärkt auf Energieeffizienz gesetzt, aber irgendwann sind Grenzen erreicht. Ähnlich wie bei den Molkereien wäre hier eine Umstellung auf andere Energieträger zwar technisch möglich, kurzfristig aber nicht umsetzbar.


Rund 60% der Energie wird laut Andreas Steinemann fürs Kühlen genutzt, aber auch die Wurstverarbeitung sei sehr energieintensiv, da die Ware im Prozess erhitzt und wieder abgekühlt wird. Aber die Einsparpotenziale sind auch hier begrenzt. Zudem gibt es Bereiche im Schlachtprozess, wo Gas nicht zu ersetzen ist, wie beim Abflämmen der Borsten. Der Vorstand des Verbands der Fleischwirtschaft Dr. Gereon Schute Althoff dämpft die Sorgen etwas. Gegenüber top agrar erklärt er, dass Schlachtunternehmen gute Chancen haben, bei der Gasvergabe priorisiert zu werden. Die Bundesnetzagentur habe Mitte Mai festgelegt, dass die Fleischwirtschaft aus zwei Gründen beim Gasbezug Vorrang haben sollte. „Lebensmittel und Tierschutz sind priorisiert“, erklärt er. Schulte Althoff sagt aber auch: „Priorisierung heißt nicht Garantie.“


Mineraldünger


Die hiesigen Düngemittelhersteller dürfte es besonders hart treffen. Hauptproduzenten für Stickstoffdünger sind die Werke der SKW Piesteritz (Wittenberg) und Yara (Brunsbüttel und Poppendorf). Sie liefern rund ein Drittel des benötigten Stickstoffs in Deutschland. Die Produktionskosten von Stickstoff gehen zu gut 90% auf die Energiekosten, sprich Erdgas, zurück. Die Rechnung ist daher einfach: „Wird Gas teurer oder fehlt, macht sich das fast eins zu eins im Preis bemerkbar“, sagt agrarfax Marktanalyst Jan Peters. Dadurch könnte die Produktion im Inland unrentabel werden und die Preise würden in die Höhe schießen. Neben Stickstoff wären auch Kalidüngerimporte von den Preissteigerungen betroffen, denn auch hier ist man auf Erdgas angewiesen.


Aber: Viel Dünger wird auch aus Nachbarländern importiert, eine gewisse Versorgung bliebe erhalten.


Landwirte sollten sich, wenn noch nicht erfolgt, mit Vorkontrakten ihre Düngemittel für den Herbst und das nächste Frühjahr sichern. Allerdings gibt es einen Haken: Ruft die Regierung die nächste Stufe des Gasnotfallplanes aus, werden sich die Hersteller vermutlich auf höhere Gewalt berufen und die Vorkontrakte kündigen.


Agrarhandel


Der Transport von Agrargütern ist zwar weniger stark vom Gasmarkt abhängig. Allerdings spielt Erdgas für die Futtermittelproduktion eine große Rolle – gerade bei Pelletproduktion. Hier gibt es laut Agravischef Dr. Dirk Köckler sogar Überlegungen vorübergehend auf die Pelletierung von Futter für bestimmte Tierarten zu verzichten. Aber ein vollständiger Verzicht auf Erdgas ist hier nicht möglich, befindet auch Paula Bukowski vom Deutschen Verband für Tiernahrung. Allein um hygienerechtliche Vorschriften bei der Produktion einzuhalten.


Ähnlich wie die Lebensmittelindustrie galt die Futtermittelerzeugung während der Coronapandemie als „systemrelevant“. Doch bei Gasengpässen sei nicht garantiert, dass die Hersteller prioritär beliefert würden, so Bukowski.


Ein weiterer energieintensiver Aspekt ist die Trocknung von Getreide. Hier kann durch den Einsatz von Säure der Feuchtegehalt leicht höher angesetzt werden. Bei Körnermais ist dies wegen des höheren Feuchtegehalts jedoch nicht möglich. Durch die jetzt schon hohen Energiepreise sollten Landwirte vor Ablieferung die Modalitäten zur Trocknung abfragen, damit es nicht zu bösen Überraschungen kommt.


Agrartechnik


Auf Nachfrage von top agrar erklärten mehrere Landtechnikhersteller, dass man die derzeitige Lage sehr ernst nehme und bereits Vorsorgemaßnahmen treffe, um eine Reduzierung der Gasliefermengen vorübergehend abfangen zu können. Dazu gehöre auch die Prüfung und Vorbereitung anderer Energiequellen wie Öl oder Strom für die an einigen Stellen notwendige Prozesswärme in der Maschinenproduktion. Aktuell würde die Produktion noch größtenteils stabil laufen. Dass sich der Mehraufwand bzw. die höheren Energiekosten auch auf die Preise von Traktoren, Erntemaschinen, Anbaugeräten und Co. auswirken werde, konnte kein Hersteller ausschließen. Man sei aber bemüht, diese im Ernstfall so gering wie möglich zu halten. Auch die weitere Verlängerung von ohnehin schon verzögerten Lieferzeiten konnte kein Unternehmen ausschließen. Angesichts der aktuellen Unsicherheiten und Schwankungen der Märkte betonten alle Gesprächspartner, dass man in einigen Bereichen derzeit nur „auf Sicht fahren“ könnte. Eine kurz- oder mittelfristige Verbesserung der Lage betrachte man als unrealistisch.


Landwirte als Teil der Lösung?


Dass Landwirte auch ihren Teil zur Lösung der Gaskrise beitragen könnten, darauf hat Bauernpräsident Joachim Rukwied kürzlich aufmerksam gemacht: „Aktuell haben viele Biogas-Bauern noch mehr als ausreichend Substratvorräte aus der Ernte von 2021. Diese können im kommenden Winter aktiviert und für die Erzeugung von Strom, Wärme und Biomethan genutzt werden. Die Bundesregierung sollte dafür jetzt den Weg freimachen.“ Tatsächlich hätte der derzeit bestehende Biogaspark in Deutschland die Möglichkeit, kurzfristig die Biogasproduktion zu erhöhen und so die Nutzung von Erdgas zu reduzieren. „Seit dem EEG 2014 ist die vergütungsfähige Stromerzeugung jeder Anlage auf einen fixen Wert der sogenannten Höchstbemessungsleistung begrenzt. Aufgrund der Notsituation ist es daher ein Gebot der Stunde, für 2022 bis 2024 die Begrenzung der Stromproduktion im EEG auszusetzen,“ meint der Präsident des Fachverbandes Biogas, Horst Seide. Kurzfristig ließen sich etwa 20% der aktuellen Leistung des Anlagenbestandes zusätzlich mobilisieren, so Seide.


Wissenschaftler des Deutschen Biomasseforschungszentrums (DBFZ) halten dagegen. Ein direkter Ersatz von Erdgas durch Biogas sei erst nach Aufbereitung zu Biomethan möglich. Dies erfolge derzeit nur in einem Umfang von 1% des Gasmarktvolumens. Die kurzfristige Ausweitung der Biogaserzeugung stünde in keinem Verhältnis zum dafür nötigen Aufwand.


Ein weiterer Debattenpunkt, der dabei neu entbrennt, ist die „Tank oder Teller“-Diskussion. Denn durch den Krieg in der Ukraine ist nicht nur die Energieversorgung ins Wanken geraten. Auch Hungerkrisen drohen durch die Blockaden Russlands. Eine Ausweitung des Anbaus von Energiepflanzen zu Lasten der Lebensmittelerzeugung wäre unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls umstritten.


Es gibt keine einfachen Lösungen für die derzeitige Situation. Momentan ist die Devise, sparen wo man nur kann und die Umstellung auf alternative Energieträger so schnell wie möglich vorantreiben, damit die Abhängigkeit von Putins Gas so schnell wie möglich ein Ende hat. Dann kann auch die Verlässlichkeit in die Märkte zurückkehren. Denn Garantien gibt im Moment niemand.


Ihr Kontakt zur Redaktion:frederic.storkamp@topagrar.com

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