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Agrarökonom Grethe zur Tierhaltungspolitik: „Warme Worte reichen nicht“

Scheitert der Umbau der Tierhaltung, färbt das auf die gesamte Ampel-Koalition ab, warnt Agrarökonom Prof. Harald Grethe. Er rät Agrarminister Özdemir auf den Borchert-Konsens zurückzugreifen.

Lesezeit: 14 Minuten

Herr Prof Grethe, mehr als zwei Jahre nach der Veröffentlichung hat sich die Borchert-Kommission veranlasst gesehen, ihre Empfehlungen zu aktualisieren. Warum?

Grethe: Es gab zwei Anlässe. Erstens ist der Koalitionsvertrag der Ampelparteien in Bezug auf den Umbau der Tierhaltung an entscheidenden Stellen sehr vage, insbesondere beim Finanzierungskonzept und dem Honorierungsmodell. Diese Unklarheit dauert bis heute an. Die Koalition hat sich bisher in dieser essentiellen Frage nicht einigen können. Zweitens wichen die ersten öffentlich gewordenen Ideen des BMEL zur Haltungskennzeichnung stark von den Empfehlungen der Borchert-Kommission ab und standen im Konflikt mit der Weiterentwicklung der privatwirtschaftlichen Tierwohlkennzeichnung seit 2020.

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Zunächst zur Finanzierung: Immerhin sind für die nächsten vier Jahre eine Milliarde Euro in den Bundeshaushalt eingestellt. Ist das nichts?

Grethe: Das ist ein wichtiger erster Schritt, mehr aber nicht. Investitionsförderung allein reicht nicht. Wir brauchen eine dauerhafte Finanzierung laufender Tierwohlzahlungen, wenn sich Landwirtinnen und Landwirte darauf einlassen sollen. Und dafür brauchen wir deutlich mehr als 250 Millionen Euro im Jahr.

Wenn in dieser Legislaturperiode kein Finanzierungsmodell beschlossen würde, wäre das eine agrarpolitische Bankrotterklärung der Koalition.

Die Koalition hat sich bislang nicht auf eine Finanzierung einigen können. Die FDP macht aus ihrer Ablehnung von staatlichen Finanzierungsmodellen keinen Hehl. Gleichzeitig hat Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir den Umbau der Tierhaltung zu seinem wichtigsten Projekt zumindest in diesem Jahr erklärt. Wie bewerten Sie das?

Grethe: Wenn in dieser Legislaturperiode kein Finanzierungs- und Honorierungsmodell für die Anhebung der Tierwohlstandards in Deutschland beschlossen würde, wäre das eine agrarpolitische Bankrotterklärung der Koalition. Der Ball liegt immer noch direkt vor dem Tor. Reinkullern würde reichen. Wenn dafür die Kraft fehlt, wird das auf die gesamte Koalition zurückfallen. Nicht nur auf diejenigen, die für die Agrarpolitik Verantwortung tragen, sondern auch auf diejenigen, die jedes sinnvoll umsetzbare Finanzierungsmodell ablehnen.

Die Borchert-Kommission legt sich auch in ihren aktualisierten Empfehlungen nicht auf ein Finanzierungsinstrument fest. Wofür sind Sie: Verbrauchssteuer oder Umsatzsteuererhöhung?

Grethe: Eine Verbrauchssteuer ist langfristig zielgenauer und besser differenzierbar. Außerdem geht sie zu 100 % in den Bundeshaushalt. Dem steht ein gewisser administrativer Aufwand entgegen, der mit einem neuen Instrument verbunden ist. Das erfordert politischen Vorlauf. Hingegen sind die Vorschläge zur Ausnahme tierischer Produkte vom reduzierten Mehrwertsteuersatz fertig ausgearbeitet und noch in dieser Legislaturperiode einfach umzusetzen. Ein solcher Schritt wäre eine Steuervereinfachung und bedeutet im Kern den Abbau einer Steuersubvention. Schließlich ließe sich der volle Satz für tierische Lebensmittel in eine umfassendere Umsatzsteuerreform einbauen. Dies bietet sich förmlich an als ideales Instrument für einen ersten Schritt in die richtige Richtung.

Warum sind Sie gegen den Vorschlag der Liberalen für eine privatwirtschaftliche Abgabe?

Grethe: Aus meiner Sicht fällt das in die Kategorie „Nebelkerze“ und wird insofern langweilig, als das schon seit Jahren diskutiert, aber aus guten Gründen immer wieder verworfen wurde. Ein solches Modell wäre viel zu aufwändig, und es wird deshalb auch nicht kommen. Das ist inzwischen allen Beteiligten klar.

Der FDP offenbar nicht...

Grethe: Das ist in der Tat erstaunlich, nachdem sich alle relevanten Stakeholdergremien sowie ein Gutachten im Auftrag des BMEL intensiv mit diesem Vorschlag befasst haben und ihn durchweg ablehnen. Ich kann mir die Positionierung der FDP nicht erklären. Fatal wäre, wenn in der Konsequenz jegliches effektive Finanzierungsmodell zum Scheitern gebracht würde. Das wäre den Tierhalterinnen und Tierhaltern gegenüber fahrlässig. Denn, wenn die jetzige Bundesregierung nicht in ein entsprechendes Honorierungs- und Finanzierungssystem einsteigen will, kann der Umbau nicht erfolgen. Dann sollte die Koalition den Mut haben, das offen auszusprechen, damit Tierhalterinnen und Tierhalter sich daran ausrichten können.

Vielleicht passt eine Mehrwertsteuererhöhung angesichts steigender Lebensmittelpreise nicht in die Zeit. Hat man den richtigen Zeitpunkt zur Umsetzung des Borchert-Konzepts verpasst?

Grethe: Es ist in der Tat ein Politikversagen, dass die vorangegangenen Bundesregierungen den offensichtlichen Handlungsbedarf so lange verschleppt haben. Trotzdem können und müssen wir heute handeln. Eine höhere Belastung der Verbraucherinnen und Verbraucher bei den tierischen Produkten sollte mit einer Entlastung an anderer Stelle kombiniert werden, zum Beispiel durch eine Mehrwertsteuersenkung bei ausgewählten pflanzlichen Produkten. Ebenfalls sollte sozialpolitisch flankiert werden. Hierfür in Frage kämen gezielte Transferzahlungen an Haushalte mit niedrigem Einkommen oder eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze. In der politischen Auseinandersetzung werden Nachhaltigkeit in Bezug auf den Klima-, Umwelt- und Tierschutz sowie soziale Gerechtigkeit viel zu häufig gegeneinander ausgespielt. Sie lassen sich aber sehr wohl kombinieren. Entsprechende Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Eine gut gemachte Nutztierpolitik muss sowohl mehr Tierwohl wie auch die Verringerung der Produktion im Auge haben.

Passt die Fokussierung auf Tierwohl überhaupt in eine Zeit, in der Agrarprodukte knapp und Agrarpreise hoch sind?

Grethe: Natürlich, das passt doch zueinander! Wenn wir das Tierwohl deutlich erhöhen wollen, müssen wir die Besatzdichte verringern, also weniger Tiere pro Stallfläche halten. Eine gut gemachte Nutztierpolitik sollte diesen Mechanismus nutzen und muss sowohl mehr Tierwohl wie auch die Verringerung der Produktion im Auge haben. Und natürlich eine Verringerung des Konsums, sonst hilft der Rückbau der Produktion überhaupt nicht! Ein solcher Rückbau von Konsum und Produktion tierischer Produkte wäre sowohl kurz- als auch langfristig sinnvoll, vor allem aus Gründen des Ressourcen- und Klimaschutzes. In der aktuellen Situation kann das auch zur Entspannung auf den internationalen Agrarmärkten beitragen.

In welchem Ausmaß?

Grethe: Nehmen wir folgendes Beispiel: Die ja schon heute stattfindende Haltung von 50 % der Mastschweine in der ITW mit einem zusätzlichen Platzangebot von 10 % geht mit einem Bestandsrückgang von insgesamt 5 % einher; das sind etwa 2,5 Millionen geschlachtete Schweine pro Jahr. Damit werden rund 0,7 Millionen Tonnen Tierfutter weniger benötigt. Davon sind etwa 20 % Abfall- und Nebenprodukte der Lebensmittelindustrie, 60 % Getreide und 20 % Eiweißträger. Es stehen also die Flächenäquivalente für etwa eine halbe Million Tonnen Getreide für die menschliche Ernährung zur Verfügung. Wenn, wie gegenwärtig in der Branche diskutiert, auf 20 % mehr Platz angehoben wird, wäre der Effekt etwa doppelt so hoch - also bei 1 Millionen Tonnen Getreide. Das Potenzial liegt somit bei einem Vielfachen von beispielsweise dem Potenzial der viel diskutierten Freigabe von ökologischen Vorrangflächen.

Wird die Haltungsformkennzeichnung des Handels und der Initiative Tierwohl überflüssig, wenn die staatliche Haltungskennzeichnung kommt?

Grethe: Nein. Das darf nicht passieren. Das System ist etabliert, bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern bekannt, farblich und numerisch leicht verständlich kodiert und es umfasst mehrere Tierarten. Deshalb sollte die staatliche Haltungskennzeichnung nicht in einen völlig unnötigen Konflikt mit der privaten Kennzeichnung geraten. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass der LEH sich aus der ITW zurückzieht und das bisherige Finanzierungsmodell scheitert. Das wäre verheerend und unnötig. Eine völlig andere Haltungskennzeichnung als die, die wir haben, wäre im besten Fall ein Rohrkrepierer, im schlechtesten ein Rückschritt für die Bemühungen um mehr Tierwohl und eine Preisgabe der bislang erreichten Erfolge in der ITW. Ohne Einstiegsstufe und mit einer nicht kompatiblen Kennzeichnung würden wir viel verlieren.

Eine Verringerung der Besatzdichte um 20 % kann ein Flächenäquivalent von rund einer Million Tonnen Getreide für die Entspannung der globalen Agrarmärkte bereitstellen.

Warum ist eine Einstiegsstufe in der Kennzeichnung so wichtig?

Grethe: Aus einer Reihe von Gründen: Erstens: Heute schon bestehende Verbesserungen des Tierwohls gegenüber dem gesetzlichen Standard müssen sichtbar bleiben. Zweitens: Nur wenn die Stufe „Stall plus“ auch gekennzeichnet wird, besteht ein Anreiz, zusätzliche Betriebe für diese Stufe zu gewinnen und die Bereitschaft des Sektors, einer deutlichen Anhebung der Kriterien in dieser Stufe zuzustimmen, etwa in der Schweinemast auf eine um 20 % verringerte Besatzdichte. Drittens: Wir sollten das genannte Klimaschutz- und Agrarpreispotential einer Verringerung der Besatzdichte unbedingt nutzen. Vergleichen wir ein Scheitern der ITW mit einer in Aussicht stehenden Verringerung der Besatzdichte um 20 %, kann das BMEL durch eine entsprechende Definition der Einstiegsstufe ein Flächenäquivalent von rund einer Million Tonnen Getreide für die Entspannung der globalen Agrarmärkte bereitstellen. Und schließlich wäre es aus meiner Sicht geradezu zynisch, wenn wir sagen, ein Einstieg bringt nichts. Tierwohl ist graduell. Jeder Fortschritt zählt.

Die Borchert-Kommission empfiehlt, bereits die Einstiegsstufe zu fördern. Warum?

Grethe: Das ist in der Tat Stand der Empfehlungen des Kompetenznetzwerks und wäre eine Möglichkeit, sehr schnell voranzukommen. Ein Einstieg in eine solche Förderung wäre 2020 konsequent gewesen, ist aber nicht erfolgt. Gleichzeitig stellen wir fest: Inzwischen werden 50 % der Mastscheine und nahezu 90 % der Masthühner und Puten bereits zu ITW-Bedingungen gehalten, die oberhalb des gesetzlichen Standards liegen. Persönlich kann ich mir sehr gut vorstellen, dass dies auch bei einem verschärften „Stall plus“-Standard funktionieren würde, wenn man die Anforderungen nicht zu stark erhöht. Die Auffassungen hierzu sind in der Borchert-Kommission allerdings unterschiedlich. Ausschlaggebend für die privatwirtschaftliche Finanzierung einer ambitionierten „Stall plus“-Stufe wird der LEH sein. Der hat viel angekündigt; er wird auch liefern müssen. Vor diesem Hintergrund hätte ich Verständnis, wenn das BMEL die knappen öffentlichen Mittel auf die höchsten Stufen 3 und 4 konzentriert, also auf die Schaffung der Haltungssysteme der Zukunft, für die die Borchert-Kommission vorschlägt, sie ab 2040 verpflichtend umzusetzen. Insbesondere bei einer solchen geteilten Verantwortung der Tierwohlfinanzierung wäre eine enge Abstimmung von Staat und ITW wichtig. Da ist noch viel Luft nach oben.

Ich halte das politische Signal einer exklusiven Ökostufe auch für die Grünen für problematisch.

Das Bundeslandwirtschaftsministerium will die Premiumstufe Ökobetrieben vorbehalten. Sie lehnen das ab. Warum?

Grethe: Weil es dafür keine fachliche Begründung gibt. Ein hohes Tierwohlniveau kann sowohl in der konventionellen wie auch in der ökologischen Landwirtschaft erreicht werden. Das hängt nicht am Ökofutter. Und wir haben ja schon eine staatliche Kennzeichnung für ökologische Produkte. Ich halte das politische Signal einer exklusiven Ökostufe in der Haltungskennzeichnung gerade auch für die Grünen für problematisch. Eine Öffnung für konventionelle Betriebe, die die Haltungsanforderungen erfüllen, wäre ein Signal an die Breite der Landwirtschaft: Alle Betriebe können im Bereich Tierwohl „Premium“ werden! Schließlich würde eine Ökostufe, wenn es bei einer vierstufigen Kennzeichnung bleibt, zu Lasten der Differenzierungsmöglichkeiten im Bereich Außenklima/Auslauf/Freiland gehen. Will man aus politischen Gründen dennoch an einer exklusiven Ökostufe festhalten, sollte sie als fünfte Stufe formuliert werden, zusätzlich zu einer konventionellen Premiumstufe. Es gäbe dann in Bezug auf die staatliche Haltungskennzeichnung sozusagen „Premium konventionell“ und „Öko“. In der Kennzeichnung des LEH könnten beide Stufen in die heutige Stufe 4 eingeordnet werden; Öko dann mit zusätzlichem Biosiegel.

Naturland-Präsident Heigl trägt als einziges Mitglied der Borchert-Kommission die aktualisierten Empfehlungen in ihrer Gesamtheit nicht mit. War das absehbar?

Grethe: Nein. Mich hat das sehr erstaunt. Die neuen Empfehlungen entsprechen im Wesentlichen denen vom Februar 2020, die damals von Herrn Heigl mitgetragen worden sind. Seitdem haben sich die Herausforderungen der Nutztierhaltung im Kern nicht verändert, allerdings die politische Landschaft. Die von Herrn Heigl und dem BÖLW formulierte Ablehnung der Öffnung der Premiumstufe für konventionelle Betriebe teile ich nicht. Ich kann sie aber als kurzfristige Interessenpolitik der Vertretung des Ökolandbaus zumindest nachvollziehen, und man hätte sie als Einzelvotum kenntlich machen können. Das gilt aber nicht für die Ablehnung des Gesamtpakets der Empfehlungen. Eine Transformation der Nutztierhaltung darf nicht ausschließlich auf den Ökolandbau setzen, der im Bereich Fleisch Marktanteile zwischen 2 % und 5 % hat. Stattdessen muss es darum gehen, die Nutztierhaltung insgesamt auf ein höheres Tierwohlniveau zu bringen.

Bröckelt der vielgerühmte breite Konsens für einen Umbau der Tierhaltung?

Grethe: Das hoffe ich nicht, und erwarte ich auch nicht. Ich würde den Schritt des Naturland-Präsidenten nicht überbewerten: Herr Heigl agiert an dieser Stelle als ein Interessenvertreter des Ökolandbaus. Demgegenüber trägt der BUND, der als eine der beiden größten Umweltschutzorganisationen nahezu eine halbe Million Mitglieder vertritt, die aktualisierten Empfehlungen mit, insbesondere auch den Verzicht auf eine exklusive Ökostufe. Das ist, so meine ich, auch die logische Konsequenz, wenn es einem um mehr Klima-, Umwelt-, und Tierschutz in der Breite des Sektors geht, und nicht um Partikularinteressen.

Das 30 %-Ökolandbauziel im Koalitionsvertrag halte ich für reine Symbolpolitik.

Begründet wird die Forderung nach einer Ökostufe insbesondere mit dem 30%-Ökolandbauziel der Ampelkoalition. Insofern orientieren sich die Ökovertreter lediglich an einem vorgegebenen politischen Ziel. Ist das aus deren Sicht nicht nachvollziehbar?

Grethe: Wie gesagt - das ist in Bezug auf die Vertretung von Partikularinteressen nachvollziehbar. Aber darum muss es ja nicht richtig sein. Wir müssen mehr tun, um den Ökolandbau voranzubringen: Seit 2002 haben wir ein „20 %-Ziel“. Gegenwärtig sind wir etwa bei einem Anteil von 10 %. 2002 lagen wir bei etwa 4 % Ökoflächen. Wir haben also in 20 Jahren sechs von 16 Prozentpunkten geschafft und sogar in Bezug auf das alte Ziel noch 10 Prozentpunkte vor uns! Ein Ausbau kann zwar bei hinreichendem politischen Willen schneller erfolgen als in der Vergangenheit; er darf aber auch nicht so schnell erfolgen, dass die Nachfrage nicht mithält und die Ökopreise in teilweise relativ engen Märkten zu sehr unter Druck kommen. Das 30 %-Ziel im Koalitionsvertrag halte ich insofern für reine Symbolpolitik. Wenn man es jetzt aber heranzieht, um damit eine exklusive Ökostufe in einer auf Tierwohl orientierten Haltungskennzeichnung zu begründen, wird es sogar schädlich. Es besteht auch die Gefahr, dass solche wenig realistischen Zielproklamationen für den Anteil des Ökolandbaus als politisches Alibi dafür genutzt werden, nicht die gesamte Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten.

Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir hat den Ökolandbau zu seinem agrarpolitischen Leitbild erklärt. Ist das gerechtfertigt?

Grethe: Ich halte die Bezeichnung des Ökolandbaus als „Leitbild“ für die gesamte Landwirtschaft für problematisch und missverständlich. Die Nachhaltigkeitsziele des Ökolandbaus können als Leitbild dienen. Aber es wäre ja überhaupt nicht sinnvoll, 100% der deutschen Landwirtschaft auf Öko umzustellen. Einerseits ist der Ökolandbau als Pionier für eine nachhaltige Landwirtschaft wichtig und wird aus guten Gründen gefördert. Viele Prinzipien des Ökolandbaus wie weite Fruchtfolgen, Leguminosenanbau für die Stickstoffbindung, biologische Schädlingsbekämpfung und tierfreundliche Haltungssysteme finden ja zunehmend Eingang in die konventionelle Landwirtschaft und sollten das noch viel mehr tun. Andererseits ist die Ertragslücke erheblich, und das hat auch Nachhaltigkeitsimplikationen. Eine nachhaltig erreichte hohe Flächenproduktivität heißt ja auch, dass wir viel Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden und fossile Rohstoffe in der Industrie in stärkerem Maße ersetzen können. Insofern brauchen wir auch eine Ökologisierung der konventionellen Landwirtschaft.

Öko oder konventionell ist die falsche Frage - öko und konventionell können sich gegenseitig befruchten.

Über die Ökologisierung der konventionellen Landwirtschaft wird seit dem Krieg in der Ukraine aber wieder heftig gerungen.

Grethe: Hier geht es darum, in allen Dimensionen nachhaltiger zu werden. Mit deutlicher Verringerung und wesentlich zielorientierterem Einsatz von Insektiziden, Herbiziden und Fungiziden, einer deutlichen Verringerung der synthetischen Stickstoffdüngung, Halbierung der Stickstoffüberschüsse und vielfältigeren Strukturen in Fruchtfolge und Agrarlandschaft. Aber eben ohne den kategorischen Ausschluss von synthetischer Düngung und synthetischem Pflanzenschutz. Eine so transformierte konventionelle Landwirtschaft hätte ein enormes Nachhaltigkeitspotential. Deshalb sollten wir das Nachhaltigkeitsleitbild für die Landwirtschaft nicht an den heutigen Anbausystemen festmachen, sondern an unseren Nachhaltigkeitszielen. Neben einem Ausbau und einer Weiterentwicklung des Ökolandbaus brauchen wir vor allem eine Ökologisierung der „anderen 90 % der Landwirtschaft“. „Öko oder konventionell“ ist die falsche Frage - „öko und konventionell“ können sich gegenseitig befruchten.

Das Bundeslandwirtschaftsministerium will noch in diesem Jahr die notwendigen gesetzlichen Grundlagen für den Umbau der Tierhaltung schaffen. Erwarten Sie, dass das Ministerium und die Ampelkoalition die erneuerten Empfehlungen der Borchert-Kommission berücksichtigen?

Grethe: Mein Eindruck ist, dass die breit getragenen Empfehlungen der Borchert-Kommission zur Haltungskennzeichnung vom BMEL gehört werden und die Überlegungen zur gesetzlichen Haltungskennzeichnung noch nicht abgeschlossen sind. Ich bin gespannt auf das Ergebnis. An einer erfolgreichen Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode werden sich die Akteure messen lassen müssen. Viele Tierhalterinnen und Tierhalter warten auf verlässliche politische Rahmenbedingungen statt auf warme Worte.

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