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Borchert-Kommission: Spiller für Fleischsteuer

Prof. Spiller erwartet noch vor der Bundestagswahl eine Entscheidung über die Finanzierung der Borchert-Pläne zum Umbau der Nutztierhaltung. Eine Verbrauchssteuer auf tierische Erzeugnisse sei nötig.

Lesezeit: 17 Minuten

Klare politische Vorgaben für den Weg hin zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft mahnt der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) vom Bundeslandwirtschaftsministerium, Prof. Achim Spiller, an.

In der Agrarpolitik fehle es „an der großen Linie“, sagt Spiller im Interview mit AGRA-EUROPE. Darin sieht er eine Ursache für die polarisierte Auseinandersetzung etwa über tier- und umweltpolitische Fragestellungen. Dringend notwendig sei „ein Ruck nach vorn“, um den Beteiligten Orientierung zu geben.

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Der Göttinger Hochschullehrer spricht sich aufgrund der damit verbundenen Signalwirkung erneut für eine Verbrauchssteuer auf tierische Erzeugnisse aus, wie sie das Gremium vorgeschlagen hat. Über den Markt allein könne das nicht funktionieren. Auch eine Umschichtung von EU-Agrarzahlungen zugunsten der Tierhaltung reiche nicht aus.

Das Interview

Agra Europe: Herr Prof. Spiller, wie verstehen Sie Ihr Amt des Beiratsvorsitzenden - als das des Chefberaters oder eher des Chefkritikers?

Spiller: Selbstverständlich ist der Wissenschaftliche Beirat ein Beratungsgremium und keine politische Instanz mit der Lizenz zum Notenvergeben. Wichtig dabei: Der Beirat berät interessenunabhängig. Das unterscheidet uns von den meisten anderen Gremien im Agrar- und Ernährungsbereich, und zwar nicht nur national, sondern europaweit. Unsere Legitimation beziehen wir aus unserer wissenschaftlichen Tätigkeit. Das ist eine wesentliche Stärke, denn wir können uns interessenunabhängig eingehend mit Themen beschäftigen. Das kann dann schon mal zwei bis drei Jahre dauern.

Ihre Gutachten, auch die besonders ausführlichen, sind nicht für die Hinterzimmer gedacht, sondern zielen auf Debatten, die in der Öffentlichkeit, zumindest jedoch in der Fachöffentlichkeit geführt werden. Werden Sie dem Beispiel Ihrer Vorgänger folgen und sich aktiv in die politische Debatte eingeschalten?

Spiller: Corona hat noch einmal gezeigt, dass Wissenschaft wichtige Aufgaben in der Gesellschaft hat, nämlich informieren, aufklären und die Konsequenzen von Entscheidungen aufzeigen. Es geht nicht darum, Politik zu ersetzen. Sehr wohl kann Wissenschaft aber Grundlagen für eine zielgerichtete politische Debatte liefern und der Gesellschaft Orientierung geben. Das gilt auch für die Agrar- und Ernährungspolitik. Insofern würde ich gern an meine Vorgänger anknüpfen und mich aktiv einbringen.

Agrarökonomen standen lange in dem Verdacht, dass sie sich lieber in ihren Elfenbeinturm zurückziehen und Modelle rechnen, als sich ins Getümmel öffentlicher Auseinandersetzungen zu stürzen. Gilt das noch?

Spiller: Ich bin nicht sicher, ob das jemals in dieser Form gegolten hat. Denken Sie nur an die Göttinger Professoren Stefan Tangermann und Hartwig de Haen, die schon vor vielen Jahren den Weg von der Hochschule an die Spitze internationaler Organisationen gegangen sind. Natürlich zieht es nicht jeden Wissenschaftler in die Öffentlichkeit, schon gar nicht im Social-Media-Zeitalter, in dem man sehr leicht sehr viele Reaktionen bekommt, darunter nicht nur angenehme. Ein Beispiel ist unser Beiratsgutachten von 2015 zur Zukunft der Nutztierhaltung. Wir waren danach heftigen Angriffen aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt. Da muss man dann durch, wenn man Politikberatung betreiben will.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Sie in der Diskussion politisch instrumentalisiert werden?

Spiller: Diese Gefahr besteht. Wir nehmen sie ernst und müssen das vermeiden. Ich denke, das ist uns bisher auch gelungen. Nehmen wir wieder das Tierhaltungsgutachten, das einige Nichtregierungsorganisationen sehr gern aufgegriffen haben. Weniger angetan waren sie von unserer Aussage, die wir auch öffentlich sehr deutlich vertreten haben, dass nämlich kleine Betriebe per se nicht tier- und umweltfreundlicher sind als große. Ein anderes Beispiel ist unser Ernährungsgutachten vom letzten Jahr. Darin stellen wir fest, dass der Ökolandbau nicht die einzige und zentrale Lösung für die Umwelt- und Nachhaltigkeitsprobleme der Landwirtschaft ist. Das hat ebenso für Kritik gesorgt wie unsere Warnung, das Potential der neuen Züchtungstechnologien nicht zu verschenken.

Warum ist die Auseinandersetzung im Agrarbereich besonders polarisiert?

Spiller: Es ist richtig, dass über Agrarthemen so heftig gestritten wird, wie in kaum einem anderen Bereich, vielleicht mit Ausnahme der Mobilität, wo es ähnlich hart zur Sache geht. Eine Ursache könnte sein, dass der Agrardiskurs sehr auf den Sektor fokussiert ist. Hinzu kommt eine starke Emotionalisierung, wenn es um Lebensmittel, Gesundheit oder Tierhaltung geht. Die extreme Polarisierung findet aktuell seinen Ausdruck in den Bauernprotesten.

Wie sollten Wissenschaftler mit dieser Polarisierung umgehen?

Spiller: Aus meiner Sicht sind zwei Punkte entscheidend: Zum einen sollten wir in der Sache klar Position beziehen. Zum anderen tun wir gut daran, mit allen Beteiligten im Dialog zu bleiben und aktiv das Gespräch zu suchen. Wir müssen uns der Diskussion auch mit denen stellen, die unsere Erkenntnisse kritisch sehen.

Was schlagen Sie vor, um zumindest von der starken Polarisierung wegzukommen?

Spiller: Wir haben in unseren Gutachten dafür plädiert, viele Dialogräume zu schaffen. Aktuell zeigt sich das in der Debatte über einen „Gesellschaftsvertrag“. Wir brauchen unterschiedliche Ebenen des Austauschs, von der Einrichtung einer Enquetekommission des Bundestages, wie wir im Tierhaltungsgutachten vorgeschlagen haben, bis hin zu Zukunftswerkstätten vor Ort. Nur indem wir immer wieder den Austausch von Argumenten suchen, können wir der Polarisierung etwas entgegensetzen, wie wir sie nicht zuletzt in den Echokammern der sozialen Medien beobachten. Der Wissenschaftliche Beirat und seine Mitglieder sind für diesen sachlichen Diskurs besonders geeignet, weil wir eben nicht interessengeleitet agieren.

Wie findet der WBAE seine Themen zwischen den großen Linien, die Sie eben schon angesprochen haben und aktuellen politischen Fragen wie etwa dem Insektenschutz?

Spiller: Indem wir versuchen, die langen Linien der Debatte zu erkennen. Ich habe bereits auf den zeitlichen Aufwand hingewiesen, den unsere Gutachten in der Regel erfordern. Das ist für uns nicht immer befriedigend, weil unsere Empfehlungen erst mit einem gewissen Zeitverzug den Weg in die Öffentlichkeit und zu den politischen Entscheidungsträgern finden. Aber wir versuchen, Zukunftsthemen zu identifizieren und frühzeitig anzupacken.

Mit welchem Thema wird sich der Beirat in den nächsten Jahren befassen?

Spiller: Wir sind noch in der Suchphase. Eine Rolle wird spielen, dass der ernährungswissenschaftliche Part im Beirat weiter verstärkt wurde und wir jetzt noch mehr interdisziplinär zusammengesetzt sind. Das heißt, neben Empfehlungen zur klassischen Agrarpolitik wird es Empfehlungen und Gutachten zur Ernährungspolitik geben. Wir werden zudem versuchen, die Themen Agrar und Ernährung stärker zu verknüpfen. Über konkrete Vorhaben werden wir in den nächsten Wochen entscheiden.

Wie zeitgemäß sind noch umfassende, mehrere hundert Seiten starke Gutachten, wie sie der Beirat in den vergangenen Jahren immer wieder vorgelegt hat?

Spiller: Die vier großen Gutachten, zu erneuerbaren Energien, zur Zukunft der Nutztierhaltung, zum Klimaschutz und zuletzt zur nachhaltigen Ernährung, haben den Beirat viel Kraft gekostet, aber auch eine besondere Wirkung entfaltet. Insofern hat sich die Arbeit gelohnt. Trotzdem werden wir uns jetzt wohl erst einmal auf kürzere Empfehlungen zwischen 20 und 70 Seiten konzentrieren.

Früher hat es im Schnitt 20 Jahre gedauert, bis Beiratsempfehlungen den Weg in die Agrarpolitik geschafft haben, wenn überhaupt. Inzwischen geht das wesentlich schneller. Warum ist das so?

Spiller: Der politische Handlungsdruck ist enorm gestiegen. Der gesellschaftliche Wandel kommt zum Tragen. Viele Probleme dulden nach Auffassung großer Teile der Bevölkerung keinen Aufschub, sondern erfordern raschere Entscheidungen als nach 20 Jahren. Beispiele dafür sind Klimaschutz und Tierwohl.

Sie waren maßgeblich am Tiergutachten von 2015 beteiligt, das bereits vier Jahre später seinen Niederschlag in der Bildung der Borchert-Kommission gefunden hat. Waren Sie überrascht?

Spiller: Ein wenig schon, wenn man bedenkt, dass die ersten Reaktionen auf das Gutachten zum Teil sehr kritisch waren, dieselben Kritiker sich jedoch wenige Jahre später auf ein Konzept verständigt haben, das hinsichtlich des Zielbilds eins zu eins dem entspricht, was der Beirat ausgearbeitet hatte. Maßgeblich dafür sind meines Erachtens der Problemdruck in der Nutztierhaltung, die gestiegenen gesellschaftlichen Erwartungen und die große Verunsicherung der Landwirte. Alles zusammen hat dazu geführt, dass ein von nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen getragener Kompromiss erreicht wurde.

Die Empfehlungen sind fast genau ein Jahr alt. Sind Sie zufrieden mit dem, was seither passiert ist?

Spiller: Ich denke, alle Beteiligten der Kommission hätten sich eine schnellere Machbarkeitsprüfung gewünscht. Eine rechtliche Prüfung der Vorschläge ist notwendig. Angesichts der Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Debatte in diesem Bereich bis hin zu den technischen Entwicklungen bei den Fleisch- und Milchalternativen wären eine frühere Auftragsvergabe und etwas mehr Tempo hilfreich gewesen. Es bleibt aber zu hoffen, dass die Politik noch in dieser Legislaturperiode weitere Pflöcke einrammt.

Dazu zählt die Finanzierung. Die Borchert-Kommission spricht sich eindeutig für eine Verbrauchssteuer-Lösung aus. In der Politik scheint das keine Begeisterung auszulösen, insbesondere in diesem Wahljahr. Kommt die Tierwohlabgabe?

Spiller: Verlässliche Kompensationszahlungen für Tierhalter über die nächsten 20 Jahre sind ein fester Bestandteil des Konzepts. Die Mittel dafür kann man theoretisch aus dem Bundeshaushalt aufbringen, wenn der politische Wille dazu besteht. Eine Verbrauchssteuer hätte demgegenüber aber den Vorteil, dass mit der Erhöhung des Fleischpreises eine Signalwirkung verbunden wäre, dass etwas weniger Fleischkonsum sinnvoll ist. Das ist ohne Zweifel der bessere Weg als eine Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln, da die Kunden dann die externen Kosten sehen.

Was wäre die Folge, sollte es keine Entscheidung vor der Bundestagswahl geben?

Spiller: Das würde einen weiteren Zeitverzug bedeuten und die dringend notwendige Planungssicherheit für alle Wirtschaftsbeteiligten abermals auf die lange Bank schieben. Fest steht allerdings, dass sich die künftige Bundesregierung dazu positionieren muss. Der Umbau der Tierhaltung dürfte daher ein zentrales Thema in den nächsten Koalitionsverhandlungen sein, unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht.

Welche Rolle spielt eine Tierwohl-Kennzeichnung für die Zahlungsbereitschaft der Verbraucher?

Spiller: Kennzeichnungslabel können wichtig sein, um bestimmte Themen anzustoßen. Eine Kennzeichnung allein reicht als politisches Instrument aber nicht aus. Das trifft insbesondere für den Bereich der Fleischwirtschaft und der Tierhaltung zu.

Warum ist das so?

Spiller: Weil die Bürger-Verbraucher-Lücke, nach der die geäußerte und die tatsächliche Zahlungsbereitschaft auseinanderklaffen, im Bereich der Tierhaltung aus mehreren Gründen besonders ausgeprägt ist. So essen die Kritiker der Tierhaltung, die die höchsten gesellschaftlichen Ansprüche formulieren, meistens gar kein oder nur sehr wenig Fleisch.

Diese Bürger können demzufolge mit ihrem Kaufverhalten den Fleischmarkt nicht beeinflussen. Umgekehrt haben diejenigen, die besonders viel Fleisch konsumieren und eher geringere Ansprüche stellen, kein Interesse an Veränderungen. Hinzu kommt, dass lediglich ein Drittel des Tieres als Fleisch auf unserem Tisch oder in die Regalen des Einzelhandels gelangt. Die anderen beiden Drittel gehen in den Export und in die Verarbeitung. Gekennzeichnet wird also allenfalls ein Drittel.

Das reicht nicht aus, den Markt zu verändern. Deshalb sagt die Borchert-Kommission, wir brauchen diese Kennzeichnung, weil wir uns daran ausrichten. Aber wir brauchen eben auch dieses Finanzierungsinstrument, um den Transformationsprozess anzustoßen und schnell in der Breite umzusetzen. Über den Markt allein kann das nicht funktionieren.

Welche Bedeutung messen Sie dem Finanzierungsmodell bei?

Spiller: Die Erkenntnis, dass eine Umschichtung von EU-Agrarzahlungen für eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Tierhaltung nicht ausreicht, sondern neue Finanzierungsquellen erschlossen werden müssen, ist für mich ein zentrales Ergebnis der Arbeit der Borchert-Kommission. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir national die Landwirtschaft nachhaltiger gestalten und trotzdem faire Wettbewerbsbedingungen für die Produzenten sichern können.

Frühere Studien für die 2000er Jahre haben gezeigt, dass die Kosten für Natur-, Umwelt- und Tierschutz damals innerhalb der EU kaum wettbewerbsrelevant waren. Inzwischen stimmt das nicht mehr. Ein Umbau der Kastenstände in der Sauenhaltung ist sehr wohl wettbewerbsrelevant für die hiesigen Ferkelerzeuger. Wenn wir also in Deutschland beim Tierschutz vorangehen wollen, müssen wir die Landwirtschaft finanziell mitnehmen. Das hat die Borchert-Kommission für die Tierhaltung klar herausgearbeitet und das gilt auch für andere gesellschaftliche Leistungen, etwa beim Biodiversitätsschutz.

Ohne zusätzliche Finanzierung wird es nicht gelingen, die Landwirtschaft auf ein neues Nachhaltigkeitsniveau zu heben. Auch die in Zukunft hoffentlich schrittweise umgewidmeten Direktzahlungen werden dafür nicht ausreichen.

Was können andere Gremien wie die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL), der Sie ja auch angehören, aus der Arbeit der Borchert-Kommission lernen?

Spiller: Der Kommissionsvorsitzende Jochen Borchert hat extrem hartnäckig in die Politik hinein kommuniziert. Schon während der Erarbeitung der Empfehlungen, vor allem aber nach der Veröffentlichung im Februar 2020 hat er permanent das Gespräch mit den politischen Parteien und Interessengruppen gesucht, hat immer wieder und mit großem Geschick die Vorschläge und Hintergründe erklärt. Das war sicherlich ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Kommission. Jochen Borchert hat breites Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des Konzeptes aufgebaut.

An die Zukunftskommission Landwirtschaft werden hohe Erwartungen gestellt. Zu hohe?

Spiller: Mein Eindruck aus den Arbeitsgruppen ist positiv. Ein größerer Teil der Mitglieder der Zukunftskommission ist bereit, neue Positionen zu erarbeiten und Kompromisse zu schließen. Ich hoffe sehr, dass sich diese Bereitschaft in der Breite durchsetzen wird.

Ein Teil der Landwirte zeigt nicht die Veränderungsbereitschaft, die auch Sie einfordern. Die Bauernproteste bringen das zum Ausdruck. Wie kann es gelingen, möglichst alle mitzunehmen?

Spiller: Die Demonstrationen haben viele Ursachen. Ich nenne eine allgemeine Preisunzufriedenheit im Sektor, die Wahrnehmung, dass Landwirtschaft zunehmend weniger akzeptiert wird, die Geschwindigkeit des Wandels auch im ländlichen Raum sowie Auseinandersetzungen über aktuelle tier- und umweltpolitische Fragestellungen. Das ist derzeit eine diffuse Gemengelage. Wir brauchen dringend einen Ruck nach vorne.

Sind übergreifende Kommissionen und Runde Tische eine Reaktion darauf, dass die Politik es nicht mehr schafft, gesellschaftlich tragfähige Lösungen zustande zu bringen?

Spiller: Diese Runden Tische sind kein Ausdruck von Politikversagen. Sie sind meines Erachtens wesentliche Instrumente, den Sektor und die gesellschaftlichen Interessengruppen auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit mitzunehmen und dabei innovative Lösungen zu erarbeiten.

Es geht darum, Synergien zu stärken und nicht die Zielkonflikte hervorzuheben. Wie kann Politik steuern, ohne den Bürokratieaufwand immer weiter in die Höhe zu treiben? Welche gesellschaftlichen Anforderungen sind gut umzusetzen, und was geht ökonomisch gar nicht? Antworten entstehen vielfach daraus, dass man die verschiedenen Interessengruppen an einen Tisch bekommt und Vertrauen aufbaut.

Sie arbeiten in Niedersachsen mit bei dem Versuch, einen Gesellschaftsvertrag für die Landwirtschaft zu entwerfen. Was verstehen Sie unter einem Gesellschaftsvertrag?

Spiller: Der Gesellschaftsvertrag ist in erster Linie eine Metapher für die skizzierte Verständigungslinie. Angesichts der unterschiedlichen politischen Ebenen ist es wichtig, dass auf verschiedenen Ebenen diskutiert und nach Lösungen gesucht wird. Am Ende muss es aber in irgendeiner Form zusammengebracht werden. Das zeigt sich beim Insektenschutz. Wenn auf Länderebene Lösungen entwickelt werden, dürfen die nicht durch Bundesregelungen konterkariert werden und umgekehrt. In der Agrarpolitik kämpfen sich die beteiligten Gruppen und Parteien derzeit an jedem einzelnen Thema mit voller Wucht ab, weil es an der großen Linie fehlt.

Sie erwähnten bereits, dass der Wissenschaftliche Beirat seine Ernährungskompetenz gestärkt hat. Ist die Agrarpolitik bisher zu sehr auf die Erzeugung fokussiert?

Spiller: Ja! Das ist aber keine deutsche Besonderheit, sondern es ist Teil einer weltweiten Entwicklung, zukünftig Agrar- und Ernährungspolitik stärker zusammen zu denken. Die Europäische Kommission hat mit ihrem Farm-to-Fork-Ansatz ebenfalls versucht, das zum Ausdruck zu bringen. Das ist sicherlich noch sehr grob. Vielleicht hätte man es anders herum versuchen und mit der Gabel anfangen sollen und von da aus rückwärts denken. Der Begriff „ernährungsbezogene Agrarpolitik“ zeigt, worum es geht. Nur ein Beispiel: Zahlen der EU-Kommission zeigen, dass jeder fünfte Todesfall auf eine ungesunde Ernährung zurückzuführen ist.

Was bedeutet „ernährungsbezogene Agrarpolitik“ konkret?

Spiller: Wir haben in unserem Gutachten „Nachhaltigere Ernährung“ vier zentrale Ziele genannt, nämlich Umweltschutz, gesunde Ernährung, soziale Aspekte und Tierschutz. Diese setzen bei den Präferenzen der Gesellschaft, der Bürger und Verbraucher an und die gilt es im gesamten Ernährungssystem umzusetzen. Kommen wir auf die Bauernproteste zurück. Die richten sich möglicherweise aus guten Gründen stärker an den Lebensmitteleinzelhandel als vielleicht noch beim Milchstreik vor zwölf Jahren. Damals standen die Molkereien, also die eigenen Unternehmen, im Fokus. Inzwischen richtet sich der Unmut gegen den Lebensmitteleinzelhandel, die Forderungen aber auch an die Verbraucher. Den Landwirten ist klar geworden, dass wir Lösungen in der Kette brauchen.

Was ist die Kernbotschaft des Ernährungsgutachtens?

Spiller: Ernährungspolitik muss ausgebaut werden. Diese zentrale Aussage ist angekommen. Wir müssen uns nachhaltiger ernähren. Dafür muss man die Ernährungspolitik als Themenfeld etablieren.

Geht damit die Gefahr einher, dass Landwirte aus dem Blickfeld der Politik geraten?

Spiller: Der Beruf Landwirt ist in hohem Maße sinnstiftend. Der Sinn besteht im Kern nicht nur darin, eine Gesellschaft satt zu machen, sondern sie gesund und nachhaltig zu ernähren. Das wird in der Landwirtschaft immer deutlicher und ist den meisten Landwirten auch klar. Insofern sehe ich da keinen Widerspruch, wenn man versucht, Erzeugung und Ernährung zusammenzubringen.

Slogans wie „wir machen euch satt“ drücken die Breite der neuen Herausforderungen noch nicht aus, aber ich hoffe, das hat eher was mit der Suche nach einem Slogan zu tun. Den meisten Landwirten ist klar, dass eine gesunde Ernährung der Menschen das zentrale Ziel ist.

Sie haben bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass Ernährungsthemen zwar in der Öffentlichkeit sehr präsent sind, in der politischen Debatte aber nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielen. Wie kommt das?

Spiller: Ernährung ist tatsächlich in den letzten Jahren für die politischen Parteien kein großes Thema gewesen. Vielleicht hat das mit den schlechten Erfahrungen der Grünen zu tun, als sie die Einführung eines Veggie-Days gefordert haben. Man scheut sich, stärker den Menschen Unterstützung für eine nachhaltige Ernährung zu geben.

In Deutschland herrscht die Einstellung vor, dass Ernährung in die Verantwortung des Einzelnen und der Familien gehört und der Staat sich herauszuhalten habe. Das bringt auch die Parteien dazu, Ernährungspolitik nicht allzu wichtig zu nehmen. Vielen ist nicht klar, wie zurückhaltend Deutschland international betrachtet im Bereich der Ernährungspolitik agiert. Die Wählerwirksamkeit des Themas wird massiv unterschätzt.

Wir stehen am Anfang des Bundestagswahlkampfs. Haben Sie Anzeichen dass sich das dieses Mal ändern könnte?

Spiller: Der Wissenschaftliche Beirat plädiert in seinem Gutachten sehr stark dafür, das Themenfeld Ernährungspolitik aufzuwerten. Es geht darum, ein größeres Budget bereitzustellen, die Instrumente politisch weiter zu entwickeln, Ministerien zu stärken, sie besser zu vernetzen. Es wäre daher zu begrüßen, wenn zwischen den Parteien stärker darüber diskutiert würde, was denn die richtige Ernährungspolitik sein sollte.

Ernährungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Das geht aus dem Gutachten hervor. Müsste sich das nach der Bundestagswahl letztlich in einem entsprechenden Ministerium niederschlagen?

Spiller: Darüber haben wir länger diskutiert. Unsere Empfehlung ist aber, die Zuständigkeit für Ernährungspolitik im Bundeslandwirtschaftsministerium zu belassen und diesen Bereich querschnittsorientiert zu verankern. Denkbar ist, die beteiligten Ministerien für Landwirtschaft, für Umwelt, für Gesundheit, für Soziales und für Bildung durch eine interministerielle Arbeitsgruppe auf Staatssekretärsebene zur nachhaltigen Ernährung zu vernetzen.

„Warum die Agrarpolitik so ist wie sie ist und nicht so, wie sie sein sollte“ lautete der Titel eines damals wie heute vielbeachteten Beitrags, den der renommierte Göttinger Agrarökonom Günther Schmitt vor vielen Jahren geschrieben hat. Was ist die wichtigste Bedingung, dass Agrarpolitik künftig so sein wird, wie sie sein sollte?

Spiller: Das Thema nachhaltigere Ernährung zeigt noch mehr als die klassische Agrarpolitik auf, dass es wichtig ist, Politik zu betreiben, die auf einer wissenschaftlichen Basis beruht und nicht zu stark interessengeleitet ist. Dabei spielen nicht nur agrarpolitische Interessen eine Rolle, sondern auch die Interessen der Ernährungsindustrie, des Lebensmittelhandels und zunehmend die Positionen von Nichtregierungsorganisationen. Es ist nicht leicht, hier langfristig angelegte Strategien zu verfolgen. Politik läuft Gefahr, nur noch auf Krisen zu reagieren. Deshalb sind unabhängige Think-Tanks wie der WBAE wichtig.

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