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Corona bei Billiglöhnern

Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche im Fokus

Zwei Pastöre aus dem Münsterland haben es kommen sehen: Die schlechten Arbeitsbedingungen der Arbeiter in den Schlachthöfen und das Behindern von Schutzmaßnahmen führen zur Coronaverbreitung.

Lesezeit: 5 Minuten

Mit voller Wucht ist die Fleischbranche Ende vergangener Woche in die mediale Corona-Berichterstattung gerutscht, nachdem auch bei Westfleisch zu viele Coronainfektionen festgestellt wurden: Über 200 der 1.200 Mitarbeiter tragen das Virus in sich. Die Landesregierung stoppte die Produktion bis zum 18. Mai, das Verwaltungsgericht Münster lehnte einen Eilantrag des Unternehmens ab.

In einer Pressemitteilung führte das Verwaltungsgericht zur Begründung seines Beschlusses aus, die Corona-Pandemie begründe eine ernstzunehmende Gefahrensituation, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertige, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates weiterhin gebiete. Der Betrieb der Antragstellerin sei „zu einer erheblichen epidemiologischen Gefahrenquelle nicht nur für die eigene Belegschaft geworden“.

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Auch die Zahl der bestätigten Corona-Fälle auf dem Vion-Schlachthof in Bad Bramstedt (Kreis Segeberg) und einer Mitarbeiter-Sammelunterkunft in Kellinghusen (Kreis Steinburg) steigt weiter. Wie der Kreis Segeberg jetzt mitgeteilt hat, sind neun weitere Fälle dazugekommen. Damit wurden insgesamt 128 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet. Auch dieser Schlachthof hat seine Produktion bereits eingestellt, die Unterkunft steht unter Quarantäne.

"Zu lange weggeschaut"

Zunehmend kommen nun Kritiker zu Wort, die meinen, die Corona-Pandemie decke eine „weitere dunkle Seite“ der Fleischindustrie auf, die der Ausbeutung von günstigen Arbeitern aus Ost- und Südosteuropa. Selbst als es längst schon staatlich verordnete Hygiene- und Sicherheitsregeln gab, hätten die Schlachtkonzerne so weitergemacht wie bisher oder nur halbherzig Maßnahmen umgesetzt. Das bestätigte auch ein Westfleisch-Mitarbeiter vom Standort Hamm schon Ende April gegenüber top agrar. Demnach existierte Corona für die Werksleitung lange praktisch nicht. Das sei auch so gegenüber den Mitarbeitern kommuniziert worden: „Bei uns gibt es kein Corona“, hieß es. Ähnliches bestätigen nun auch Recherchen des WDR-Magazins "Westpol". So soll es den ersten Corona-Fall schon am 13. März in der Hauptverwaltung von Westfleisch in Münster gegeben haben.

Am Sonntag fand nun in Hamm ein umfangreicher Corona-Test der Belegschaft statt, am Montag folgt der Massentest bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Auch Niedersachen und Schleswig-Holstein wollen gezielt bestimmte Betriebe überprüfen, die Mitarbeiter unternehmensintern über Landesgrenzen hinweg hin- und herschieben.

Wie DER SPIEGEL berichtet, hätten Politiker und Behörden in der Vergangenheit meist weggesehen beim Thema Billiglöhner. Denn ohne die geht seit der EU-Osterweiterung nichts mehr in vielen deutschen Schlachthöfen. Mehr als 600 Beschäftigte in der Fleischindustrie sind nach SPIEGEL-Recherchen bereits positiv auf das Coronavirus getestet worden. In beengten Unterkünften und beim Transport in Bullis zur Arbeit könnten sich die Niedriglöhner kaum schützen vor dem Virus.

Verband wehrt sich

Die Fleischindustrie wehrt sich unterderssen gegen die Kritik. "Aus unserer Sicht sind nicht vor allem die Arbeitsbedingungen Schuld an den Corona-Ausbrüchen", sagt Dr. Heike Harstick, Hauptgeschäftsführerin des Verbands der Deutschen Fleischwirtschaft, am Montag der Süddeutschen Zeitung. Als kritische Infrastruktur habe man die Produktion nicht wie die Autoindustrie einfach stoppen können und weiter gearbeitet, um die Versorgung sicherzustellen. So könne es zu Ansteckungen kommen.

Der Verband warnte vor härteren Auflagen. "Eine schnelle und einfache Lösung gibt es nicht", sagt Harstick. Wenn etwa die Einzelunterbringung von Arbeitern vorgeschrieben und höhere Wohnungsmieten verursacht würden, seien "viele Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig". Teile der Branche würden abwandern, warnt Harstick.

Wenn wegen positiver Corona-Tests viele Betriebe geschlossen würden, wäre das auch ein Problem für die Versorgung. Besser sei es, Betriebe unter Quarantäne zu stellen. Sonst würden auch Engpässe bei den Schlachtkapazitäten drohen. Schweine müssten dann möglicherweise wie in den USA getötet werden, weil Bauern keine Abnehmer mehr finden. "Das wäre ein tragisches Szenario", sagt Harstick.

Pfarrer demonstrieren vor Werkstor

Dass es zu einer Massenausbreitung des Virus kommt, hat Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich seit Wochen kommen sehen. Und das gleich an mehreren Standorten bundesweit, schreibt das Bistum Münster in einer Presseerklärung. Ein Grund sei die schlechte Arbeits-, aber auch die katastrophale Wohnsituation, wie Kossen erklärt. Um darauf aufmerksam zu machen und dagegen zu protestieren, stellte sich der Pfarrer am 9. Mai mit Plakaten vor das Werkstor in Coesfeld.

Die Arbeitsmigranten seien meist zu mehreren in einem Zimmer untergebracht, schilderte Kossen die Lebensbedingungen. Die Räume seien nicht selten eher als „verschimmelte Bruchbuden“ zu bezeichnen. In vollgestopften Kleintransportern würden die Leiharbeiter zu ihren Schichten in die Großschlachterei gefahren. Dazu komme ein Arbeitstag von mindestens zehn, oftmals noch mehr Stunden an sechs Tagen in der Woche: „Alles das sind Risikofaktoren, die ein großes Gefährdungspotenzial haben“, betonte der Pfarrer. Seit vielen Jahren schon prangert er die unmenschlichen Zustände vor allem in der Fleischindustrie an.

Erschwerend komme hinzu, dass viele der Osteuropäer aufgrund der hohen Arbeitsbelastungen selbst nach Jahren in Deutschland keine Zeit gefunden hätten, die Sprache zu lernen: „Damit ist es fast unmöglich, ihnen die Hygieneregeln zu vermitteln.“

Angestellt seien die Arbeitsmigranten bei Personaldienstleistern. Die Strukturen seien bis zur Unkenntlichkeit verwässert, damit so die Sozialgesetzgebung ausgehebelt werden könne.

Was in Coesfeld, aber auch bereits in anderen Bundesländern passiert sei, habe man vor Wochen absehen können, erinnert Kossen unter anderem an seinen Offenen Brief an NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann und den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil, in dem er genau diese dramatische Entwicklung prophezeite.

Kossen fordert einen raschen Systemwechsel: „Ein Mensch, ein Raum – und keine überbelegten Sammelunterkünfte.“ Um in der jetzigen Situation deeskalierend zu wirken, regte er an, den Arbeitsmigranten freie Hotelzimmer zur Verfügung zu stellen. Für die Zukunft appellierte er an die Politiker, klare gesetzliche Vorgaben zu verabschieden, die die Leiharbeiter schützen.

Die von NRW-Minister Laumann angekündigten Corona-Tests bei allen Mitarbeitenden in Schlachtbetrieben bewertet Pfarrer Kossen als ein positives Signal, dem weitere folgen müssten.

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