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topplus Ein Jahr im Amt

Cem Özdemir im top agrar-Interview: "Ich habe hier noch eine Menge zu tun"

Agrarminister Özdemir blickt zufrieden auf sein erstes Amtsjahr. Er verteidigt seinen Weg für den Umbau der Tierhaltung, die Neuausweisung der Roten Gebiete und spricht über seine Zukunftspläne.

Lesezeit: 16 Minuten

Vor genau einem Jahr wurde Cem Özdemir als Bundeslandwirtschaftsminister vereidigt. Seitdem ist ein Jahr voller Krisen vergangen, die größte davon der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit seinen drastischen Folgen für die Agrar- und Energiemärkte.

In dieser Zeit hat sich der grüne Minister als engagierter Unterstützer der Ukraine hervorgetan, gleichzeitig aber auch den im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbarten Umbau der Tierhaltung vorangetrieben. Ein erster Schritt ist mit dem Gesetzentwurf für eine Haltungskennzeichnung getan.

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Weitere, wie die Sicherstellung einer dauerhaften Finanzierung höherer Haltungsstandards, müssen folgen. Aus den Verbänden und der Branche schlägt ihm dafür viel Kritik entgegen. Viele Landwirtinnen und Landwirte fremdeln bis heute mit dem Minister.

Über seine eigene Bilanz nach den ersten zwölf Monaten im Amt, seine Antworten auf die drängenden agrarpolitischen Fragen und seine Pläne für die Zukunft haben wir in dieser Woche mit Cem Özdemir gesprochen.

Herr Minister, Sie sind am 8. Dezember auf den Tag genau ein Jahr im Amt. Herzlichen Glückwunsch dazu. Viele hatten Sie seinerzeit nicht als Agrarminister auf dem Zettel. Wie haben Sie den Start ins Amt erlebt?

Cem Özdemir: Die Landwirtinnen und Landwirte haben mich sehr offen und interessiert aufgenommen. Dafür bin ich sehr dankbar, denn das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Ein Vegetarier, Kind muslimischer Eltern und dann auch noch Grüner – man fragt sich, was schlimmer ist. (lacht)

Ein Vegetarier, Kind muslimischer Eltern und dann auch noch Grüner – man fragt sich, was schlimmer ist.

Welches Fazit ziehen Sie aus den vergangenen zwölf Monaten?

Cem Özdemir: Es gab sicherlich schon einmal leichtere Startvoraussetzungen. Die Folgen des verbrecherischen Angriffs Russlands auf die Ukraine haben die Fehler der Vergangenheit offengelegt – und teilweise potenziert. Egal ob beim Thema Energieversorgung, Nachhaltigkeit oder Ernährungssicherung – die Versäumnisse hier rächen sich.

Im Gegensatz zu Ländern wie den USA besteht bei uns allerdings Einigkeit darin, dass der Schutz des Klimas und der Biodiversität für uns existenzielle Bedeutung haben.

Schwierig wird es aber dann, wenn es um die konkreten Maßnahmen geht. Als Minister ist es meine Aufgabe, Klimaschutz und Biodiversität und Ernährungssicherheit ins Gleichgewicht zu bringen. Intakte und resiliente Ökosysteme sind die Grundlage für unsere Land- und Ernährungswirtschaft. Über das Ziel, die Rechte künftiger Generationen zu schützen, so wie es das Bundesverfassungsgericht beim Klimaschutz einfordert, ist mit mir nicht gut Kirschen zu essen. Über die Wege lässt sich gerne streiten. Da bin ich nicht beratungsresistent.

Der Krieg in der Ukraine markiert auch in der Landwirtschaft eine Zeitenwende. Wir mussten selbst in Europa lernen, dass eine sichere Lebensmittelversorgung keine Selbstverständlichkeit ist. Global hat die Wahrscheinlichkeit echter Hungersnöte wieder stark zugenommen. Muss das politisch zu der Erkenntnis führen, dass Produktivität und Intensivierung zumindest vorläufig Vorrang vor Ökologisierung und Nachhaltigkeit haben sollten? Bei uns musste und muss niemand Hunger leiden.

Bei uns musste und muss niemand Hunger leiden.

Dass einzelne Produkte zeitweise vergriffen waren, lag vor allem an kriegsbedingt gestörten Lieferketten – und Hamsterkäufen. Aber das kennen wir ja schon aus den Anfängen der Corona-Pandemie. Ich warne davor, diese Phänomene in Zusammenhang mit der globalen Ernährungssicherung zu setzen.

Putin setzt Hunger gezielt als Waffe ein, aber den Hunger gab es schon vorher! Und er ist gerade im globalen Süden besonders stark, wo die Klimakrise schon heute mit Dürren und Starkregen besonders hart zuschlägt. Klimakrise und Hunger hängen ursächlich eng zusammen. Vor diesem Hintergrund habe ich schwierige Entscheidungen treffen müssen, insbesondere bei der Fruchtfolge und den Stilllegungsflächen. Die Ausnahmeregelungen haben zur Beruhigung der volatilen Märkte beigetragen, doch dafür zahlen wir einen ökologischen Preis.

Energie hat sich auch in Folge des Angriffskriegs massiv verteuert – die volle Wirkung werden viele Landwirte erst im nächsten Jahr spüren. Die Aufzucht von Geflügel, die Schweinehaltung, Unter-Glas-Anbau oder auch Milchpumpen brauchen dennoch viel Strom und Wärme. Rechnen Sie mit Produktionseinschränkungen in der Landwirtschaft?

Cem Özdemir: Wir tun alles dafür, dass das nicht der Fall ist. Die krasse Abhängigkeit von fossilen Energieträgern rächt sich nun. Die Ampel holt gerade in Windeseile nach, was jahrelang verhindert wurde. Wir lösen die Ausbaubremsen bei den Erneuerbaren. Auch die Landwirtschaft ist dringend auf bezahlbare und sichere Energie angewiesen.

Auch die Landwirtschaft ist dringend auf bezahlbare und sichere Energie angewiesen.

Darum haben wir bereits im Sommer ein erstes Hilfspaket in Höhe von 180 Millionen Euro unbürokratisch an besonders betroffenen Betriebe ausgezahlt. Die Landwirtschaft wird zudem von den Energiepreisbremsen profitieren, die aktuell im Bundesrat beraten werden. Und gleichzeitig müssen wir schauen, wie die Landwirtschaft ihren Beitrag zur Energieversorgung leisten kann – Stichwort: Agri-PV und Biogas.

Die Energiekosten sind das eine, das tatsächliche Angebot muss aber auch da sein. Sind Blackouts, z.B. für die Tierhalter, eine reale Gefahr im Winter und Frühjahr?

Cem Özdemir: Die Bauern leisten schon viel, indem sie Energie sparen oder schauen, wo sie aus fossilen Energien aussteigen können. Das fördern wir auch, beispielsweise durch das Bundesprogramm Energieeffizienz. Damit unterstützen wir Investitionen in energiesparende und energieeffizientere Technologien – allein 2022 mit 48 Millionen. Wir sind für diesen Winter mit vollen Energiespeichern gut aufgestellt.

Klar ist aber auch: Nach dem Winter ist vor dem Winter. Darum dürfen wir beim Ausbautempo regenerativer Energien nicht nachlassen. Jetzt müssen die Christdemokraten – vor allem auch in Bayern – ihre Scheu vor den erneuerbaren Windenergien endlich ablegen.

Die Inflation fiel bei Nahrungsmitteln in diesem Jahr extrem stark aus. Immer mehr Verbraucher kaufen zwangsweise preisbewusst. Bio und ähnliche Produkte werden – überspitzt gesagt – zum Ladenhüter. Werden die erreichten Erfolge beim Aufbau nachhaltigerer Wertschöpfungsketten gerade zunichte gemacht?

Cem Özdemir: Wir sehen aktuell, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher zwar kaum weniger Bio kaufen, dafür aber eben beim Discounter oder die Eigenmarken des Handels. Das hat Folgen für Markenprodukte mit hoher Wertschöpfung, sowohl im Bio- als auch konventionellen Bereich.

Wir versuchen zu helfen, indem wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Unternehmen mit mehreren Entlastungspaketen und der Gas- und Strompreisbremse so gut es geht unter die Arme greifen. Der Trend hin zu nachhaltig und ökologisch erzeugten Produkten ist Marktbeobachtern zufolge aber trotz der aktuell geringen Dynamik nicht gebrochen.

Sie erhalten für Ihren Gesetzentwurf zur Tierhaltungskennzeichnung viel Gegenwind. Wie wollen Sie die Kennzeichnung, die zunächst nur für inländisches Schweinefleisch im Handel vorgesehen ist, gegen diese Widerstände durchbringen?

Cem Özdemir: Ich verstehe die Ungeduld, die Tierhaltungskennzeichnung endlich für alle Tiere und alle Vermarktungswege einzuführen. Mein oberstes Ziel ist es, dass wir in Brüssel schnell die grundsätzliche Notifizierung bekommen. Bedenken Sie, dass wir mit einer verbindlichen Haltungskennzeichnung auch in der EU etwas völlig Neues schaffen. Danach kann und muss es zügig weitergehen mit der Gastronomie und verarbeiteten Produkten, anderen Tierarten und dem gesamten Lebenszyklus.

Das will ich ja alles selbst auch. Wer mir aber vorschlägt: ‚Nimm doch jetzt schon alles mit rein‘, der schlägt mir genau das vor, was in den beiden letzten Legislaturperioden schon mal gescheitert ist. Das werde ich sicher nicht machen.

Welche aus Ihrer Sicht berechtigten Kritikpunkte greifen Sie noch auf?

Cem Özdemir: Wir sind hier im engen Austausch mit den Koalitionsfraktionen, wie wir den guten Gesetzentwurf beispielsweise bei den Bezeichnungen noch besser machen können. Ich kenne auch die Sorge, dass ausländische Erzeuger einen Vorteil haben könnten, weil sie ihre Produkte nicht kennzeichnen müssen. Deshalb kämpfe ich in Brüssel dafür, dass neben dem Tierhaltungskennzeichen auch eine Herkunftskennzeichnung kommt.

Deshalb kämpfe ich in Brüssel dafür, dass neben dem Tierhaltungskennzeichen auch eine Herkunftskennzeichnung kommt.

Wir haben in diesen Tagen die Zusage bekommen, dass die EU-Kommission Anfang des Jahres eine Vorlage für eine Ausweitung der europäischen Herkunftskennzeichnung präsentiert. Und wir gehen jetzt national schon einen Schritt, indem wir die EU-Herkunftskennzeichnung auf unverpacktes Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch ausdehnen. Dazu laufen in meinem Ministerium die Vorbereitungen.

Noch steht aber die Finanzierung nicht. Der Haushaltsausschuss hat die Anschubfinanzierung von 1 Mrd. € für vier Jahre gesperrt und auf ein Langfristkonzept hat sich die Ampel bisher ebenfalls nicht geeinigt.

Cem Özdemir: Die eine Milliarde Anschubfinanzierung reicht für den Einstieg in den Umbau der Schweinehaltung! Damit fördern wir nicht nur Investitionen in den Stallumbau bei der Sauenhaltung und der Mast, sondern auch die laufenden Kosten bei den besonders tiergerechten Haltungsverfahren. Das war nicht einfach durchzusetzen und ist ein echter Erfolg.

Nach Abstimmung der Förderrichtlinien werden die Mittel entsperrt. Die Weiterführung der Finanzierung insbesondere auch für andere Tierarten soll eine koalitionsinterne Arbeitsgruppe bis Ende März klären. Wir fangen hier zum Glück nicht bei null an, die Ergebnisse der Borchert-Kommission sind bekannt. Ich rate allen dazu, dort nochmal einen Blick reinzuwerfen. Ich persönlich bräuchte nicht so viel Zeit für die Frage der Finanzierung.

Warum sollten sich Landwirte auf die teuren Umbauten einlassen?

Cem Özdemir: Mit Einführung der verbindlichen Tierhaltungskennzeichnung muss kein Betrieb seinen Stall umbauen. Dennoch kann ich nur raten, sich die Entwicklung der letzten Jahre genau anzuschauen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die deutsche Tierhaltung steckt schon länger in einer Krise.

Die deutsche Tierhaltung steckt schon länger in einer Krise.

Wichtige Absatzmärkte sind weggebrochen, der Fleischkonsum – insbesondere von Schweinefleisch – geht stetig zurück. Das sind krasse Zahlen, was da an Strukturbrüchen passiert. Innerhalb von zehn Jahren hat die Hälfte der Schweine haltenden Betriebe aufgegeben. Ich sage ausdrücklich, dass ich Tierhaltung in Deutschland will.

Als Vegetarier sage ich: Mein Gemüse braucht Tiere – beziehungsweise Wirtschaftsdünger. Dafür möchte ich jetzt gemeinsam mit den Produzenten den Umbau der Tierhaltung voranbringen. Mehr Tierwohl, mehr Klimaschutz und Verbraucherschutz – das sind für mich Bausteine zukunftsfester Betriebskonzepte.

Warum knüpfen Sie alle Änderungen im Baugesetzbuch an die Verabschiedung des Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes? Und warum sollen nur höhere Haltungsformen im Baurecht Erleichterungen erhalten?

Cem Özdemir: Unser Ziel ist auch eine Lenkungswirkung. Wir wollen ermutigen und den Landwirten helfen, auf artgerechtere Haltungsformen umzusteigen, die den gesellschaftlichen Vorstellungen einer tiergerechten Haltung entsprechen. Dazu dienen die Finanzierung, ein geändertes Baurecht und die Anpassungen bei der TA Luft. Das Ganze ist ein Paket.

Wann haben Sie das gesamte Paket geschnürt? Bleibt es bei Sommer 2023?

Cem Özdemir: Beim Baugesetzbuch und bei der TA Luft könnten wir schon im Frühling fertig sein. Beim Tierhaltungskennzeichengesetz arbeiten wir auch mit diesem Zeithorizont. Ich weiß, der Druck ist massiv, die Tierhalter warten darauf. Für viele kommt es leider auch zu spät, das muss man ehrlicherweise einräumen. Ich will bei der Finanzierung dafür werben, dass es sich hier um gut angelegtes Geld handelt. Jeder Euro, den wir in den Umbau der Tierhaltung investieren, ist gut angelegt.

Jeder Euro, den wir in den Umbau der Tierhaltung investieren, ist gut angelegt.

Weniger Tiere besser halten – das bedeutet einen Vorteil für den Klimaschutz und das Tierwohl. Mit dem verpflichtenden Haltungskennzeichen bekommen Verbraucherinnen und Verbraucher erstmals eine echte Wahl für höhere Haltungsformen. Klare Verhältnisse und eine wirtschaftliche Zukunft bieten Vorteile für Hofnachfolgen mit Tierhaltung und stabilisieren den ländlichen Raum. Ich möchte mal aus den anderen Ressorts hören, wo der eine eingesetzte Euro ebenso viele gesellschaftliche Vorteile bringt.

In Brüssel gibt die EU-Kommission gerade der Kritik vieler EU-Mitgliedstaaten an der Pflanzenschutzverordnung nach. Mit einer eher positiven Bewertung des Gesetzesvorschlages wirkte Deutschland weitgehend isoliert. Bleiben Sie dabei, dass die Pflanzenschutzverbote für Landschaftsschutzgebiete nicht kommen werden?

Cem Özdemir: Wir sind nicht isoliert, im Gegenteil. Ich weiß mich da in bester Gesellschaft mit meinen Kollegen aus Frankreich, Spanien, Dänemark, den Niederlanden und weiteren Mitgliedsstaaten. Wer sich in Brüssel auskennt, weiß auch, dass Kommissionsvorschläge am Ende meist anders aussehen.

Wer sich in Brüssel auskennt, weiß auch, dass Kommissionsvorschläge am Ende meist anders aussehen.

Das Ziel, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu halbieren, leitet sich vom Green Deal und der Farm to Fork-Strategie ab. Dazu bekennen wir uns ganz klar. In Baden-Württemberg gilt das übrigens heute schon. In der Umsetzung wiederhole ich mich: Die Flächenkulisse schauen wir uns genau an. Ich lehne es ab, den Einsatz von Pflanzenschutzmittel in Landschaftsschutzgebieten zu verbieten. Wir müssen uns ebenfalls die Referenzjahre ansehen. Auch da gilt: Der Fleißige darf nicht der Dumme sein.

Wann rechnen Sie mit einer gemeinsamen Position der EU-Mitgliedstaaten zum Pflanzenschutz?

Cem Özdemir: In Brüssel bekommen wir gerade mit, dass die Positionen innerhalb der EU-Institutionen sehr unterschiedlich sind. Ich werde meinen Teil dazu tun, damit wir eine Einigung zeitnah hinbekommen. Wenn sich die Verhandlungen über die nächsten Jahre schleppen, sorgt das nicht für Planungssicherheit, die die Betriebe für Investitionen oder Hofübergaben brauchen.

Ab 2023 gelten im ersten Jahr der neuen GAP-Periode bereits Ausnahmen für einige Auflagen. Muss man solche Ausnahmen in Zeiten großer Knappheiten und hoher Nahrungsmittelpreise nicht eher verstetigen als sie zeitlich zu begrenzen?

Cem Özdemir: Ich warne davor, das nun als Hebel zu nutzen, um Klima- und Artenschutz nach und nach hinten runter fallen zu lassen. Wenn wir nicht schützen, was uns ernährt, bekommen wir ein Problem. Die einmaligen Ausnahmeregelungen haben dazu beigetragen, die Märkte zu beruhigen, aber hatten eben auch einen ökologischen Preis.

Landwirte in allen Bundesländern stellen aktuell fest, dass sich die Kulisse für die sogenannten “Roten Gebiete” stark vergrößert. Über die EU-Pläne zum Pflanzenschutz sprachen wir bereits. Drohen in Deutschland „holländische Verhältnisse“?

Cem Özdemir: Ich weiß, dass dies manchen ganz recht wäre. Man kann und sollte die Situation in den Niederlanden aber nicht mit der deutschen vergleichen. Die Niederlande stecken aufgrund einer extremen Tierbesatzdichte in einer massiven Stickstoff- und Ammoniakkrise. In Deutschland geht es um die unzureichende Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie. Ich habe da ein jahrelang verschlepptes Problem geerbt, dessen Lösung jetzt die Landwirtinnen und Landwirte umso deutlicher trifft. Das tut mir sehr leid, denn ich hätte das gerne anders gelöst.

Das Damoklesschwert der Strafzahlungen von bis zu 800.000 € pro Tag schwebte aber zu lange über uns. Ich will so schnell wie möglich das Verursacherprinzip weiter stärken, aber die EU-Kommission hat uns sehr klar gesagt, dass wir dafür zunächst die Datenbasis verbessern müssen. Ich sehe die Sorgen, die viele haben. Ich habe aber auch eine Bitte: Kritisieren Sie nicht den Überbringer der Nachricht, sondern diejenigen, die die letzten Jahre den Kopf in den Sand gesteckt haben.

Wir haben jetzt viel über Herausforderungen und Probleme gesprochen. Wo liegen eigentlich Chancen für die Landwirte?

Cem Özdemir: Ich habe noch keinen Landwirt getroffen, der Ziele wie mehr Tierwohl oder den Schutz der Biodiversität und des Klimas ablehnt. Das braucht aber die richtigen Rahmenbedingungen. Meine Jobbeschreibung in diesem Zusammenhang ist vor allem, für Planungs- und Investitionssicherheit zu sorgen – und zwar nach dem Prinzip: öffentliches Geld für öffentliche Leistungen!

Wir können es uns nicht mehr leisten, die Gewinne von heute auf Kosten von morgen zu erwirtschaften. Wir müssen Landwirtschaft nachhaltiger und damit krisenresistenter machen. Bewährtes erhalten, ohne Neues von vorneherein abzulehnen – das nenne ich Veränderungspragmatismus.

Bewährtes erhalten, ohne Neues von vorneherein abzulehnen – das nenne ich Veränderungspragmatismus.

Wir müssen auch die Verbindung der Landwirtschaft zum Rest der Gesellschaft stärken. Ich bin ein großer Fan landwirtschaftlicher Schülerpraktika. Eine Woche auf dem Hof mitzuarbeiten, würde den Blick vieler junger Menschen auf die Agrarwirtschaft massiv verändern.

Es braucht auch einen höheren Stellenwert der Nahrung und mehr Wertschätzung für Lebensmittel. Dazu trägt ein gutes, bezahlbares Essen in Schulen und Kantinen viel bei. Insgesamt wünsche ich mir ein positives Bekenntnis zur Landwirtschaft und den Lebensmitteln, die sie produziert. Das Wort „Danke“ darf dabei gern häufiger eine Rolle spielen.

Welches positive Zielbild möchten Sie der Branche zeichnen?

Cem Özdemir: Wir müssen die Landwirtschaft gemeinsam für die nächste Generation weiterentwickeln. Nicht im Elfenbeinturm, sondern mit den Praktikern vor Ort. Dafür haben wir gerade das Dialognetzwerk Zukunftsfähige Landwirtschaft gestartet. Es ist toll zu erleben, wie hammermäßig sich gerade die jungen Landwirtinnen und Landwirte da reinhängen. Zur Schau gestellte Übellaunigkeit von manchem Funktionär und Oppositionspolitikern hilft da nicht weiter.

Für den Ausbau der erneuerbaren Energien wird es die Landwirte brauchen. Wie wollen Sie den Zielkonflikt zur Nahrungsmittelerzeugung austarieren? Wie stehen Sie zu Photovoltaik-Anlagen auf dem Acker?

Cem Özdemir: Ich bin kein Freund von Freiflächenanlagen auf guten Standorten. Wir sind bereits in der Vergangenheit viel zu verschwenderisch mit den landwirtschaftlichen Flächen umgegangen. Agri-PV-Anlagen könnten hingegen Stromerzeugung und Lebensmittelproduktion sinnvoll miteinander verknüpfen. Noch mehr landwirtschaftliche Fläche darf aber nicht verloren gehen.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht nur Hand in Hand mit der Landwirtschaft, mit Sicherheit nicht gegen sie. Die Landwirtschaft leistet schon jetzt einen tollen Beitrag zur Energiesicherung, ob mit Biogas als Ersatz für russisches Erdgas oder mit der Wärmeversorgung. Ich bin froh, dass wir hier übermäßige Belastungen für die Anlagenbetreiber verhindern konnten.

Ihre Staatssekretärin Rottmann verlässt sie in diesen Tagen, um in Frankfurt als Oberbürgermeisterin zu kandidieren. In der Branche hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Sie Winfried Kretschmann als Ministerpräsident nachfolgen sollen – und das bereits deutlich vor der nächsten Landtagswahl in Baden-Württemberg. Was ist an den Gerüchten dran?

Cem Özdemir: Ich lasse Manuela Rottmann nur sehr ungern ziehen. Viele unserer Erfolge aus dem vergangenen Jahr tragen auch ihre Handschrift. Was Ihre Frage angeht: Ich habe hier noch eine Menge zu tun. Wenn Sie den Umbau der Tierhaltung als Marathon sehen, dann stehen wir höchstens bei Kilometer Zwanzig. Ich bin hier noch längst nicht am Ende und Winfried Kretschmann ist es genauso wenig. Bis zum Schluss der Legislaturperiode habe ich hier zu tun und er in Baden-Württemberg. Und was danach kommt, das beantworten wir dann.

Wo stehen wir, wenn wir uns in einem Jahr um diese Zeit wiedertreffen sollten? Was sind Ihre Ziele für das zweite Amtsjahr?

Cem Özdemir: Ich wünsche mir, dass wir dann in der Stimmung weitergekommen sind. Dass wir wieder begreifen, dass Ökologie, Klimaschutz, Biodiversität und Landwirtschaft keine Gegensätze sind. Hier brauchen wir wieder einen echten Teamgeist zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft. Insbesondere beim Umbau der Tierhaltung möchte ich mit meinem Ministerium konkrete Ergebnisse präsentieren, genauso wie bei der Ernährungsstrategie, dem Umbau des Waldes und der Moorstrategie. Wir versuchen, das zu halten, was andere versprechen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Stefanie Awater-Esper, Konstantin Kockerols, Marko Stelzer und Matthias Schulze Steinmann.

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