Die Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel, Prof. Claudia Neu, über die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 in ländlichen Räumen, das Gefühl des Abgehängtseins und die gewaltigen Herausforderungen auf dem Land.
Die Bundestagswahl 2025 hat weitreichende Veränderungen in der Wahlgeographie gebracht
Frau Prof. Neu, Stadt und Land wählen unterschiedlich, wie die Bundestagswahl wieder zu bestätigen scheint. Stimmt die Aussage?
Neu: Die Bundestagswahl 2025 hat weitreichende Veränderungen in der Wahlgeographie gebracht. So hat die AfD nahezu alle Wahlkreise in Ostdeutschland geholt - 47 von 50, die SPD und die Grünen hingegen haben viele Wähler im ländlichen Raum verloren. Besonders in Ostdeutschland kommen die Grünen abseits der Großstädte auf äußerst niedrige Werte im unteren einstelligen Bereich.
Auch in Westdeutschland liegt die Partei auf dem Land deutlich unter 10%. Überraschend war, dass die Linke nicht nur bei den Jüngeren, sondern auch in den ländlichen Räumen des Ostens punkten konnte. Weiterhin gilt aber schon, dass in ländlichen Räumen eher konservativ, in Städten eher SPD und Grüne, jetzt auch die Linke gewählt wird. So haben etwa die Grünen in Münster mit 31,2 % das beste Ergebnis eingefahren. Aber die AfD holt nun auch im Westen auf, etwa im Ruhrgebiet oder in Pforzheim. Im Rems-Murr-Kreis in Baden-Württemberg lag die AfD sogar bei den Zweitstimmen in drei Gemeinden auf Platz eins vor der CDU.
Je ländlicher, je abgelegener und je weiter östlich, desto mehr wählen die Menschen AfD. Ist das so?
Neu: Bei dieser Aussage bin ich vorsichtig. Zumal die genauen Auswertungen hier noch nicht vorliegen. Auch wenn die AfD vor allem auf dem Land Wähler gewinnt, so wissen wir aus den Untersuchungen des Thünen-Instituts der vorletzten Bundestagswahl 2021 und der Europawahl 2024, dass der Zusammenhang nicht so eindeutig verläuft wie möglicherweise erwartet. In der Vergangenheit haben nicht die ganz peripheren ländlichen Räume AfD gewählt, sondern eher die näher an den Städten gelegenen Regionen. Auch aktuell bleibt es trotz hoher Stimmengewinne für die AfD uneindeutig: In einigen ländlichen Wahlkreisen Niedersachsens, etwa Ostfriesland, konnte die SPD ihre starke Position verteidigen. Im Südwesten haben die Grünen ihre Wähler in den ländlichen Räumen, trotz einer grünen Landesregierung, allerdings nur begrenzt halten können und Stimmen an die CDU, die Linke und die AfD verloren.
Welche Ursachen sehen Sie für die hohen Wahlergebnisse der AfD in ländlichen Räumen?
Neu: Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Die hohen AfD-Gewinne in Baden-Württemberg lassen sich sicher, ähnlich wie zuvor in Ostdeutschland, durch die Angst vor einer Deindustrialisierung erklären. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Zulieferbetriebe der Autoindustrie in ländlichen Räumen ansässig sind. Im Osten herrscht Frust. Zudem dürfte Friedrich Merz es auf dem Land schwer gehabt haben mit seinem wenig volksnahen, teils doch sehr überheblichen „Investmentbanker-Getue“. Ganz anders die AfD, die sich als Volksversteherin inszeniert und vorgibt, die Interessen der kleinen, hart arbeitenden Leute zu vertreten - gegen die da oben, die Bonzen, die städtischen Eliten. So versteht es die AfD sehr geschickt, die Sorgen der Menschen vor Wohlstandsverlusten zu nutzen.
Gibt es Unterschiede im Wahlverhalten von Männern und Frauen?
Neu: Dieser Tage hat die FAZ eine Grafik aufgelegt, in der das konträre Wahlverhalten von jungen städtischen Frauen und älteren Männern auf dem Land wunderbar deutlich wird. Junge Frauen im Alter zwischen 18 bis 34 Jahren, die in Städten leben, entscheiden sich mit großem Vorsprung für die Linke - 35%, dann kommen die Grünen mit 20%, abgeschlagen die SPD mit 13%, AfD mit 10% und die Union 9% als Schlusslicht. Ältere Männer auf dem Land hingegen wählen zu 41% die Union, gefolgt von der AfD und der SPD mit jeweils 19%, dann kommen erst die Grünen mit 7% und die Linke mit 4%. Die jungen Frauen zeigen sich also deutlich stärker an Themen wie sozialer Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Klima interessiert als die deutlich konservativeren Männer auf dem Land.
Hat die AfD die Rolle der Kümmererin auf dem Dorf eingenommen, die im Osten früher die PDS/Linke innehatte?
Neu: Die AfD konnte vor allem dort Raumgewinne erzielen, wo die Zivilgesellschaft wenig ausgeprägt ist, sie also mit wenig Gegenwehr aus der Mitte der Gesellschaft rechnen muss.
Die AfD konnte vor allem dort Raumgewinne erzielen, wo die Zivilgesellschaft wenig ausgeprägt ist.
Als Kümmerin konnte sich die AfD da präsentieren, wo demokratische Parteien oder Vereine personell schwach aufgestellt sind, wo öffentliche Begegnungsorte und Infrastrukturen fehlen und die kirchliche Bindung gering ist. Auch da, wo bereits ein konservatives Klima vorherrscht. Dass die AfD diese Chance genutzt hat und den demokratischen Diskurs weit nach rechtsaußen verschoben hat, belegen die Wahlergebnisse mehr als deutlich.
Was raten Sie anderen Parteien, um in solchen Regionen wieder Fuß zu fassen?
Neu: Zuerst müssen wir uns wohl davon verabschieden, dass es sich bei AfD-Wählern um Protestwähler handelt. Die Sympathisanten rechter Parteien wissen, was sie tun. Sie wählen die AfD wegen, nicht trotz ihrer Ausländerfeindlichkeit. Dennoch würde ich strikt davon abraten, dass die Parteien der Mitte sich auf den spaltenden Diskurs der AfD einlassen. Selbst polarisieren und Ängste schüren funktioniert nicht, um der AfD Wähler abzujagen, wie ja gerade gut zu beobachten ist.
Der Erfolg der Linken zeigt, dass die Bürger sich politisch mobilisieren lassen, dass ihnen Themen wie soziale Gerechtigkeit, erschwingliches Wohnen und Demokratie wichtig sind. Die Linke hat sich hier, vor allem für Jüngere, als Bollwerk gegen Rechtsaußen empfohlen. Mit anderen Worten: Ich rate, den politischen Diskurs runterzukühlen, an Sachthemen zu arbeiten, Zukunft zu gestalten. Nehmen wir den Diskurs über das Gefühl des Abgehängtseins einen Moment ernst, dann bleiben Themen wie Wirtschaft und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse für die Bürger - in Stadt und Land - zentral. Wirtschaft und Gleichwertigkeit sollten auch für die Politik für ländliche Räume von besonderer Wichtigkeit sein.
Über das Gefühl des „Abgehängtseins“ der Menschen in ländlichen Räumen wird seit langem gesprochen. Woher rührt dieses Gefühl?
Neu: Es ist ja sehr populär geworden, von „den Abgehängten“ zu sprechen. Doch wie viele Bundesbürger fühlen sich eigentlich abgehängt? In der repräsentativen Umfrage des Deutschland Monitors 2023 gaben 21 % der Deutschen an, gesellschaftlich abgehängt zu sein! 6 % sogar sehr stark. Es geht aber weniger um Stadt und Land. Vielmehr ist die Einschätzung der wirtschaftlichen Prosperität einer Region entscheidend: So betrachten sich Bewohner weniger gut ökonomisch aufgestellter Regionen eher als abgehängt als Bewohner wirtschaftlich starker Regionen. Im Vergleich zu Westdeutschland mit 8 % beschreiben sich in Ostdeutschland mehr als doppelt so viele Menschen als abgehängt, nämlich 19 %.
Erstaunlich ist: Selbst in ostdeutschen Regionen mit hoher Prosperität liegen die Werte deutlich über den Werten für prosperierende Regionen im Westen. Viele Menschen unterschätzen also die „wirkliche“ Lage ihrer Region. Sie nehmen vor allem die Schwierigkeiten wahr, Ärztemangel, fehlender ÖPNV, Wegzug der Kinder. Dagegen spielen die in der Vergangenheit erzielten Erfolge etwa bei der Senkung der Arbeitslosigkeit kaum eine Rolle. Gefühle der persönlichen Zurücksetzung kommen hier zusammen mit dem realen Erleben von Arbeitslosigkeit, Infrastrukturmangel und den demografischen Herausforderungen.
Vor allen in einer Reihe von ostdeutschen ländlichen Regionen ist die Alterung der Bevölkerung besonders augenfällig, die weitere demografische Entwicklung ausgesprochen ungünstig. Wie groß ist das Problem?
Neu: Wir beobachten in diesen Gebieten eine besonders brisante Mischung aus Abwanderung, Geburtenrückgang und dann eben auch Alterung. Über viele Jahre haben die Jungen, vor allem junge Frauen, die peripheren ländlichen Räume verlassen, um woanders zu lernen, zu arbeiten und dann auch Familien zu gründen – und sind nur sehr selten zurückgekommen. In der Folge waren nicht nur die Kinder und Enkel weg, sondern plötzlich auch Schulen, Jugendclubs und Fußballvereine. Die Erfahrung, dass alles scheinbar weniger wird, macht etwas mit dem Leben auf dem Dorf. Und die Demografie lässt sich nicht einfach umdrehen, die Alterung schon gar nicht. Ohne Zuzug, auch aus dem Ausland, wird sich dieser düstere Trend jedoch noch weiter fortsetzen.
Sie sind Vorsitzende des Sachverständigenrats Ländliche Entwicklung beim Bundeslandwirtschaftsministerium. Was muss der nächste Minister oder die nächste Ministerin tun, um die Probleme auf dem Lande anzugehen?
Neu: Ich kann nicht verhehlen, dass der Sachverständigenrat Ländliche Entwicklung sich große Sorgen um die Zukunft der ländlichen Räume macht – auch im Hinblick auf eine zu erwartende politische Verschiebung zugunsten der Agrarwirtschaft und Metropolregionen. In der anstehenden Legislaturperiode sind die ökonomischen wie ökologischen Herausforderungen auf dem Land gewaltig: Der Klimawandel und das Artensterben, der demografische Wandel, die Transformation des Energiesystems und die Digitalisierung sowie die zunehmende Demokratie- und Systemskepsis.
Der Rat glaubt, dass es gerade jetzt wichtig ist, die Menschen vor Ort mitzunehmen und ein neues Verständnis von politischer Teilhabe und Mitgestaltung zu entwickeln.
Der Rat glaubt, dass es gerade jetzt wichtig ist, die Menschen vor Ort mitzunehmen und ein neues Verständnis von politischer Teilhabe und Mitgestaltung zu entwickeln. Dies umfasst auch die besondere Berücksichtigung der regionalen Wirtschaft, vor allem des Sektors der kleinen und mittleren Betriebe und des Handwerks. Denn die regionale Wirtschaft ist in den ländlichen Räumen nicht nur als Arbeitgeberin bedeutsam, sondern als eine entscheidende Akteurin im sozialen und ökologischen Wandel. Uns ist es sehr wichtig, auf die zentrale Rolle der Kommunen mit ihrer besonderen Verantwortung für die unmittelbare Daseinsvorsorge vor Ort hinzuweisen. Hierzu ist jedoch eine Stärkung der Kommunalfinanzen unerlässlich, damit die Aufgaben und Herausforderungen auch bewältigt werden können. Aus Sicht des Sachverständigenrats ist daher ein starkes Ministerium weiterhin dringend notwendig, das sich, nicht nur mit Lippenbekenntnissen als „Anwalt für ländliche Räume im Wandel“ versteht.
Vielen Dank.
Prof. Claudia Neu ist seit 2016 Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. Zuvor war sie Professorin für Allgemeine Soziologie und empirische Sozialforschung an der Hochschule Niederrhein und Wissenschaftlerin am Thünen-Institut in Braunschweig. Ihre Themenschwerpunkte sind demografischer Wandel, Zivilgesellschaft sowie Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Neu ist Vorsitzende des Sachverständigenrats Ländliche Entwicklung (SRLE) beim Bundeslandwirtschaftsministerium.