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topplus Zukunft der Tierhaltung

Lidl fordert die Umsetzung des Borchert-Plans

Der Handel erwartet von der neuen Bundesregierung Bewegung für den Umbau von Tierwohlställen. Lidl-Manager Steeb und Prof. Grethe über Tierwohlfinanzierung, Kennzeichnung und die Rolle des Staates.

Lesezeit: 10 Minuten

In dieser Woche wollen SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag für eine neue Bundesregierung fertigstellen. Wichtig für die Landwirtschaft ist, was darin zur Zukunft der Tierhaltung steht. Zu den Befürwortern des Borchert-Plans zum Umbau der Tierhaltung gesellt sich nun auch der Handel. top agrar hat mit Lidl-Manager Benjamin Steeb und dem Berliner Agrarökonomen Prof. Harald Grethe über ihre Erwartungen gesprochen.

top agrar: Lidl ist 2020 auf dem Gipfel der Bauernproteste mit einer Sonderzahlung für Schweinehalter vorgeprescht und hat Preise über der Schweinepreisnotierung versprochen. Wie viel Angst haben Sie bei Lidl davor, dass Ihnen die heimische Fleischversorgung wegbricht, Herr Steeb?

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Benjamin Steeb: Wir bei Lidl Deutschland sind uns unserer Verantwortung für die heimische Landwirtschaft bewusst. Es ist für uns zentral, insbesondere bei tierischen Erzeugnissen auf deutsche Herkunft zu setzen. Wir blicken mit großer Sorge auf die anhaltend niedrigen Erzeugerpreise, ganz besonders im Bereich Schwein. Um diesen Effekten entgegenzuwirken haben wir gemeinsam in der Schwarz Gruppe bereits 2020 in Form einer Sonderzahlung in Höhe von 50 Millionen Euro über die Initiative Tierwohl die deutschen Schweinehalter unterstützt. Zudem halten wir schon seit über einem Jahr am Preisniveau von vor Beginn der Afrikanischen Schweinepest-Krise fest.

All diese Bemühungen lösen aber nicht die strukturellen Probleme im Schweinemarkt. Bedingt durch die Afrikanische Schweinepest und eine Veränderung des Konsumverhaltens, bricht die Nachfrage stark ein und wird sich voraussichtlich auch nicht kurzfristig erholen. Es ist jetzt notwendig, mit allen Akteuren der Branche Maßnahmen zu definieren und umzusetzen, um die Nutztierhaltung in Deutschland zukunftsfähig aufzustellen.

Eine verpflichtende Haltungskennzeichnung für alle Vermarktungswege würde zu einer steigenden Nachfrage beitragen. - Steeb

Warum ist es aus Ihrer Sicht bisher nicht gelungen, hohe Tierwohlstandards auskömmlich für die Landwirtschaft vergütet am Markt zu positionieren?

Steeb: Mit unserer Erfindung des Haltungskompasses 2018 und der Überführung in die Haltungsform ist es uns zum ersten Mal gelungen, die Leistungen der Landwirte in Deutschland in Bezug auf Tierwohl für die Kunden einheitlich im Handel transparent zu machen. Und wir sehen: Es wirkt, denn die Nachfrage nach Produkten aus höheren Haltungsformen, die über dem gesetzlichen Standard produziert werden, steigt. Jedoch findet die Haltungskennzeichnung noch nicht bei allen Lebensmittelhändlern und über alle Vertriebskanäle, zum Beispiel in der Gastronomie, Anwendung. Eine verpflichtende Haltungskennzeichnung für alle Vermarktungswege in Deutschland, die sich an den Kriterien der Haltungsform orientiert, würde aus unserer Sicht zu einer steigenden Nachfrage nach Produkten aus höheren Haltungsformen und auch zu einer auskömmlichen Vergütung für die Landwirtschaft beitragen.

Duckt sich der Handel bei der Finanzierung von Tierwohl weg? Warum haben wir dieses Marktversagen beim Tierwohlfleisch, Herr Grethe?

Harald Grethe: Nein, der Handel duckt sich nicht weg. Ich halte sowohl die privatwirtschaftlich organisierte Kennzeichnung der Haltungsform wie auch die Initiative Tierwohl für große Erfolge. Aber privatwirtschaftliche Initiativen werden nicht ausreichen, um das Tierwohl flächendeckend und im notwendigen Umfang zu erhöhen. Solange die Politik nicht die Rahmenbedingungen verändert, bleibt Tierwohlfleisch ein Nischenprodukt. Diese Nische hat das Potenzial zu wachsen, aber sie kann nicht zum Umbau der Tierhaltung insgesamt führen. Wir brauchen auch eine Anpassung staatlicher Rahmenbedingungen.

Die Ampel-Parteien sitzen gerade in den Koalitionsverhandlungen zusammen. Was sollten diese dafür aufschreiben, Herr Grethe?

Grethe: Wir brauchen Zielbilder, eine staatliche Förderung der Umsetzung höherer Tierwohlstandards und mittelfristig eine Anhebung der staatlichen Mindeststandards bei Fortführung der Förderung. Tierwohl kostet Geld – das müssen wir als Gesellschaft gemeinsam bezahlen. Die Konzepte dafür liegen vor; von wissenschaftlicher Seite schon lange und seit Februar 2020 auch von zahlreichen Interessengruppen und dem Berufsstand in Form der Empfehlungen der Borchert-Kommission. Um Ihre Wortwahl aufzugreifen: Bisher duckt sich die Politik weg, wenn es um die Umsetzung dieser Empfehlungen geht. Das sollte die Ampel jetzt ändern.

Wollen Ihre Lidl-Kunden, die Verbraucher überhaupt Tierwohlfleisch? Und werden sie das wirklich höher bezahlen?

Steeb: Unsere Kunden und Verbraucher wünschen sich mehr Tierwohl: Immer mehr sind auch bereit einen höheren Preis dafür zu bezahlen. Jedoch stoßen wir an Grenzen bei der Beschaffung heimischer Ware aus höherwertigen Haltungsstufen. Gemeinsam mit dem Deutschen Tierschutzbund und unseren Partnern haben wir zu Beginn des Jahres geprüft, zu welchem Anteil wir die Haltungsform 3 und 4 im Bereich Frischgeflügel bis 2026 ausbauen können. Trotz aller Bemühungen erschien es unter den aktuellen genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen nicht realistisch, den Anteil auf über 20 Prozent zu erhöhen. Daher bedarf es eines Abbaus genehmigungsrechtlicher Hemmnisse für den Umbau zu tierwohlgerechten und zukunftsgerichteten Ställen, um die steigende Nachfrage aus heimischer Erzeugung bedienen zu können.

Welche Aussagen erhoffen Sie sich von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag zur Zukunft der Tierhaltung, Herr Steeb?

Steeb: Wir würden uns wünschen, dass die Politik die Bereitschaft zum Wandel in der Branche aufgreift und aktiv unterstützt. Insbesondere durch den Abbau genehmigungsrechtlicher Hürden, finanzieller Förderung des Umbaus zu tierwohlgerechten Haltungsformen und einer verpflichtenden Haltungskennzeichnung, die für alle Vertriebskanäle gilt. Idealerweise ist die verbunden mit einer Herkunftskennzeichnung. Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch und können jetzt beherzt angegangen werden.

Wir rufen nicht nach dem Staat als Ersatz für unser Engagement. - Steeb

Sie haben der Politik zuerst mit der Initiative Tierwohl und dann mit der Haltungskennzeichnung des Handels gezeigt, dass die Wirtschaft beim Thema Tierwohl schneller sein kann. Wieso soll jetzt der Staat auf einmal eingreifen?

Steeb: Unter den aktuellen Rahmenbedingungen stoßen wir als Branche an Grenzen, denn für eine Transformation dieser Größenordnung müssen Wirtschaft und Politik gemeinsam die Weichen stellen. Mit der Haltungsform und der Initiative Tierwohl haben wir im Handel Mechanismen etabliert, die diesen Wandel unterstützen und fördern können. Aber wir können nicht einseitig die Anforderungen an Umwelt- und Tierschutz nach oben schrauben, ohne dass heimische Erzeuger diesen Weg mitgehen können. Fehlende Planungssicherheit und mangelnde wirtschaftliche Perspektiven führen bereits jetzt zu Betriebsaufgaben. Das müssen wir gemeinsam verhindern.

Was entgegnen Sie Stimmen, die behaupten, dass sich der Handel mit dem Ruf nach staatlichen Tierwohlprämien für die Landwirtschaft beim Tierwohl aus der Verantwortung schleicht?

Steeb: Wir rufen nicht nach dem Staat als Ersatz für unser Engagement. Vielmehr wollen wir auch weiterhin einen starken Beitrag zur Weiterentwicklung der Nutztierhaltung leisten. Allein über die ITW haben wir für verbesserte Haltungsstandards in den vergangenen Jahren dreistellige Millionenbeträge an die teilnehmenden Landwirte ausgeschüttet. Aber klar ist auch: Ein höheres Maß an Planungssicherheit, das letztlich die Bereitschaft zur Weiterentwicklung der Tierwohlstandards entscheidend stärken würde, schaffen wir nur gemeinsam mit der Politik.

Wir brauchen deutlich mehr Tierwohl bei staatlicher Finanzierung und eine deutliche Verringerung von Konsum und Produktion tierischer Produkte. - Grethe

Herr Grethe, Sie haben den Borchert-Plan maßgeblich mit erarbeitet. Warum tun sich die Ampel-Koalitionäre trotz der vielen vorliegenden Machbarkeitsstudien so schwer beim Thema Finanzierung von Tierwohlmaßnahmen?

Grethe: Ich hoffe sehr, dass die Ampel-Parteien den vorliegenden Handlungsauftrag und die damit verbundenen Chancen erkennen. Wissenschaft, Berufsstand und organisierte Zivilgesellschaft haben einstimmig ein schlüssiges und finanzierbares Konzept für die flächendeckende Umsetzung eines deutlich erhöhten Tierwohls vorgelegt. Die Politik darf sich jetzt nicht im parteipolitischen Streit um Umsetzungsdetails verfangen. Allerdings fokussieren die Borchert-Empfehlungen nur auf die Erhöhung des Tierwohlniveaus und klammern die erforderliche Verminderung von Konsum und Produktion tierischer Produkte aus. Letzteres ist aus klima- und umweltpolitischer Sicht aber wichtig. Das muss in den Koalitionsverhandlungen gemeinsam behandelt werden und ist natürlich eine politische Herausforderung. Aus meiner Sicht kann ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Nutztierhaltung nur lauten: Deutlich mehr Tierwohl bei staatlicher Finanzierung und eine deutliche Verringerung von Konsum und Produktion tierischer Produkte.

Welche Konsequenzen wird ein Handelsunternehmen wie Lidl ziehen, wenn es am Ende keine staatliche Unterstützung für den Umbau der Tierhaltung geben wird?

Steeb: Wir werden weiterhin alles daransetzen, gemeinsam mit unseren Partnern in der Wertschöpfungskette die Akzeptanz für heimische Erzeugnisse zu stärken und gleichzeitig die Haltungsbedingungen weiter zu verbessern.

Wird dann der deutsche Markt von ausländischer Ware gesättigt, weil hierzulande mehr und mehr Tierhalter aufgeben?

Steeb: Das hoffen wir nicht. Um diesem möglichen Effekt entgegenzuwirken, setzen wir weiter auf Ware deutscher Herkunft und werden gemeinsam mit allen Branchenakteuren nach Lösungen suchen, um eine Perspektive für Tierhalter in Deutschland zu entwickeln. Aus unserer Sicht ist dazu notwendig, sich über höhere Tierwohlstandards von ausländischer Ware abzuheben. Dies gelingt uns am besten gemeinsam, wie man an der Erfolgsgeschichte der Initiative Tierwohl erkennen kann.

Es geht um eine Größenordnung von zusätzlich etwa 10 Cent pro Liter Milch oder 100 Gramm Aufschnitt. - Grethe

Verbrauchssteuern oder höhere Mehrwertsteuern sind aber unpopulär. Wie könnten die Ampel-Parteien das beim Thema Fleisch und Tierhaltung nach draußen kommunizieren?

Grethe: Ich sehe nicht, dass es grundsätzlich unpopulär ist, gesellschaftliche Ziele öffentlich zu finanzieren. Wir finanzieren vieles über Steuern: Bildung, Sozialpolitik, Landesverteidigung. Weil der Markt die Erhöhung des Tierwohlniveaus kaum finanzieren wird, Tierwohl aber eine hohe gesellschaftliche Priorität genießt, kann man eine öffentliche Finanzierung sehr gut erklären – und das ist Aufgabe der Politik. Es geht bei der Einbeziehung von tierischen Produkten in den normalen Umsatzsteuersatz von 19 Prozent um eine Größenordnung von zusätzlich etwa 10 Cent pro Liter Milch oder 100 Gramm Aufschnitt. Und eine solche Regelung hätte zahlreiche Vorteile: Sie würde Einnahmen generieren, die deutlich über das für Tierwohlzahlungen erforderliche Niveau hinausgehen, wäre einfach umzusetzen und ein Baustein einer Politik zur Verringerung des Konsums tierischer Produkte. Die zusätzlichen Steuereinnahmen würden auch ausreichen, einkommensschwache Haushalte so zu entlasten, dass sie nicht schlechter gestellt werden.

Was bliebe übrig vom Engagement des Handels und dem Fonds der Initiative Tierwohl, wenn der Staat das Signal für die Übernahme von Tierwohlprämien und Investitionskosten gibt? Wird es damit für Sie im Handel billiger?

Steeb: Wir werden mit unserem Engagement nicht nachlassen und uns weiter für unsere Partner in der Wertschöpfungskette einsetzen. Unabhängig von den staatlichen Entwicklungen glauben wir, dass die privatwirtschaftliche Initiative Tierwohl auch zukünftig eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen spielen wird.

Was halten Sie von dem alternativen Konzept, über einen privaten Tierwohlfonds mittels einer Umlage den Umbau der Tierhaltung zu finanzieren? Kann das funktionieren?

Steeb: Wir finden es schwierig zu diesem Zeitpunkt die verschiedenen Finanzierungsalternativen zu bewerten, dafür sind noch zu viele Fragen offen. Zunächst benötigen wir ein klares Bekenntnis der politisch Verantwortlichen zur konsequenten Umsetzung des Borchert-Plans, um die heimische Nutztierhaltung weiterzuentwickeln. Wir werden dabei die Interessen aller Beteiligten in der Wertschöpfungskette berücksichtigen, um einerseits den ökologischen Anforderungen gerecht zu werden und andererseits den Erzeugern eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten.

Grethe: Ich halte die Idee eines privaten Tierwohlfonds zum heutigen Zeitpunkt für eine Nebelkerze, mit der wertvolle Zeit verspielt wird. Die Borchert-Kommission hat das 2020 verworfen. Ein Rechtsgutachten im Auftrag des BMEL hat im Mai 2021 aufgezeigt, dass der bürokratische Aufwand enorm wäre, weil staatliche Strukturen gedoppelt werden müssten. Der Staat sollte die rechtlichen Grundlagen schaffen und eine Finanzierung sicherstellen. Bei der Umsetzung können dann durchaus nicht-staatliche Organisationen einbezogen werden.

Sie haben jahrelange Erfahrung in der agrarapolitischen Politikbeobachtung, Prof. Grethe. Dort hat bisher jede Veränderung sehr viel Zeit gebraucht. Erwarten Sie, dass sich das mit der Ampel jetzt ändern wird?

Grethe: Ich hoffe sehr, dass die Ampel die guten Grundlagen der Borchert-Kommission, der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) und der Wissenschaft nutzt, und den vorhandenen Handlungsstau engagiert abbaut. Nie hatte die Politik es leichter: Einen derartigen Konsens zwischen Zivilgesellschaft und Landwirtschaft zur Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen hat es bisher nicht gegeben. Die Zeit ist reif für politischen Mut in der Gestaltung der Agrar- und Ernährungspolitik.

Über mögliche Lösungsansätze will Lidl gemeinsam mit Vertretern der Landwirtschaft, Verarbeitern, Tier- und Verbraucherschützern am 30. November in Berlin diskutieren. Die Veranstaltung wird im Internet live übertragen.

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