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Prof. Isermeyer: Neue Regierung braucht Gestaltungswillen und Gestaltungskraft

Prof. Isermeyer fordert von der neuen Regierung dringend die Umsetzung des Borchert-Konzepts und die Einführung einer staatlichen Tierwohlprämie.

Lesezeit: 17 Minuten

Gestaltungswillen und Gestaltungskraft wünscht sich der Präsident des Thünen-Instituts, Prof. Folkhard Isermeyer, von der künftigen Bundesregierung. „Mit einer Strategie ‚weiter wie bisher‘ wird die Politik die Probleme nicht in den Griff bekommen“, warnt Isermeyer im Interview mit Agra Europe.

Am ehesten machbar seien grundlegende Weichenstellungen im Bereich der Nutztierhaltung, sagt der Thünen-Präsident und verweist auf ausstehende Entscheidungen über eine Umsetzung des Borchert-Konzepts. Um den gesamten Nutztiersektor auf ein hohes Tierwohlniveau zu heben, sei eine staatliche Tierwohlprämie „zwingend“. Eine Finanzierung auf Grundlage der Borchert-Vorschläge führe zu einer klar kalkulierbaren, sehr moderaten Anhebung der Verbraucherpreise von deutlich unter 10 Cent je Liter Milch oder einem 100 g-Päckchen Wurst.

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Entscheide sich die Politik dagegen, müsse sie ehrlich kommunizieren, dass sie das künftige Ausmaß des Tierwohls von der Kaufentscheidung abhängig mache.

„Die Landwirte erwarten in dieser Schicksalsfrage dringend Orientierungen“, mahnt Isermeyer. Zudem gehe es in den nächsten Jahren darum, die Ausarbeitung der Tierwohlkritieren für alle Tierarten abzuschließen, die bau- und umweltrechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen sowie das Verhältnis zwischen der staatlichen Tierwohlpolitik und der Initiative Tierwohl (ITW) zu gestalten.

Schwieriger als bei der Tierhaltung gestaltet sich Isermeyer zufolge eine Transformation des Pflanzenbaus. Dessen Zukunft sieht er zwischen der heutigen konventionellen Landwirtschaft und dem Ökolandbau, nicht aber in dessen Ausweitung auf 100 % der Fläche.

Wirtschaftliche Anreize zur Verringerung von Einsatzmengen

Eine große Aufgabe besteht dem Wissenschaftler zufolge künftig darin, Agrarflächen stärker für den Klimaschutz zu nutzen. Der Institutschef nennt den Humusaufbau, die Agri-Photovoltaik, die Wiedervernässung von Moorböden sowie eine Umwandlung ausgeräumter Agrarlandschaften in Hecklandschaften.

Isermeyer plädiert für eine aktive Nährstoffpolitik, um insbesondere die Stickstoffüberschüsse zu reduzieren. Voraussetzung sei ein umfassendes Berichtswesen, um die betrieblichen Nährstoffausbringungen flächenscharf zu dokumentieren. Ziel einer Regulierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes müsse es sein, dass Landwirte im Notfall auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel zurückgreifen können, zugleich aber einen wirtschaftlichen Anreiz zur Verringerung der Einsatzmengen erhalten.

Eine durchgreifende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wird dem Agrarökonomen zufolge nur über einen kompletten Systemwechsel gelingen. Den Ansatz, über die Erste Säule zusätzlichen Umweltnutzen zu schaffen, hält er für wenig erfolgversprechend. Die Zweite Säule sieht er in Zukunft als Instrument, die Agrarlandschaften auf die neuen Herausforderungen des Klimaschutz- und Biodiversitätsschutzes in Einklang mit den unterschiedlichen Nutzungsansprüchen auszurichten.

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Lesen Sie im Folgenden das ganze Interview:

Das Drehen kleiner Schrauben reicht nicht mehr

Herr Prof. Isermeyer, was wünscht sich der Präsident des Thünen-Instituts von der nächsten Bundesregierung?

Isermeyer: Erstens Gestaltungswillen, und zweitens Gestaltungskraft.

Kam das in der letzten Jahren zu kurz?

Isermeyer: Es ist müßig, jetzt über die Vergangenheit zu sprechen. Wir stehen am Beginn einer neuen Legislaturperiode und sehen in der Agrarpolitik, aber auch in der Waldpolitik und der Fischereipolitik riesige Herausforderungen. Mit einer Strategie „weiter wie bisher“ und dem Drehen kleiner Schrauben wird die Politik die Probleme nicht in den Griff bekommen. Es geht um grundsätzliche Weichenstellungen.

Wo sind solche grundlegenden Weichenstellungen politisch am ehesten machbar?

Isermeyer: Eindeutig bei der Nutztierhaltung. Die Borchert-Kommission hat einen Transformationspfad erarbeitet, der den Landwirten Planungssicherheit gibt, die Belastungen der Verbraucher in engen Grenzen hält und den gesamten Wirtschaftssektor in 20 Jahren auf ein Tierwohlniveau bringt, das weit oberhalb der internationalen Standards liegt.

Wirtschaftsverbände, Umweltverbände und Tierschutzverbände haben sich hinter dieses Konzept gestellt und den Bundestag aufgefordert, es rasch umzusetzen. Außerdem hat das Bundeslandwirtschaftsministerium in Brüssel erreicht, dass Mitgliedstaaten langfristige Verträge mit den Landwirten schließen können. Das ist sehr wichtig für die Planungssicherheit.

Kurzum: Beim Tierwohl liegt der Ball jetzt auf dem Elfmeterpunkt, und die neue Bundesregierung kann ihn entweder reinschießen oder wieder ins Mittelfeld zurückspielen.

Zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, dass selbst diese Entscheidung die Akteure überfordert hat. Was raten Sie?

Isermeyer: Die erste Frage lautet, ob sich die Koalitionspartner das Borchert-Ziel zu eigen machen, also bis 2040 wirklich den gesamten Nutztiersektor - und nicht nur ein gewisses Marktsegment - auf ein hohes Tierwohlniveau bringen wollen. Falls das so proklamiert wird, ist die nächste spannende Frage, ob der Maßnahmenkatalog konsequent auf dieses Ziel ausgerichtet wird.

Inkonsequent wäre es zum Beispiel, im Koalitionsvertrag nun abermals die Haltungskennzeichnung ins Zentrum der Maßnahmen zu stellen. Das würde uns auf den Stand von 2017 zurückwerfen.

Die Kennzeichnung wird allerdings auch im Borchert-Konzept vorgeschlagen.

Isermeyer: Ja, sie ist Teil des Konzepts, weil sie für die Verbraucherinformation wichtig ist. Die Kennzeichnung ist aber keine geeignete Maßnahme, um den gesamten Nutztiersektor auf ein hohes Tierwohlniveau zu führen. Hierfür benötigen wir zwingend die staatliche Tierwohlprämie.

Falls sich die Politik gegen die Tierwohlprämie entscheidet, sollte sie ehrlich kommunizieren, dass sie das künftige Ausmaß des Tierwohls von den Kaufentscheidungen der Verbraucher abhängig macht. Die Landwirte erwarten in dieser Schicksalsfrage dringend Orientierungen.

Der Umbau der Tierhaltung, wie ihn die Borchert-Kommission vorschlägt, kostet in der Endstufe bis zu 4 Mrd € im Jahr. Die Finanzierungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Warum sollte sich eine künftige Koalition dafür entscheiden, wenn gleichzeitig viele andere teure Aufgaben warten?

Isermeyer: Meinungsumfragen zeigen, dass Tierwohl unter allen Themen, die es im Bereich Landwirtschaft und Ernährung gibt, die höchste Priorität hat. Und wissenschaftliche Analysen zeigen, dass wir das Tierwohlthema mit Labeln oder mit dem Verweis auf Europa nicht in den Griff bekommen.

Der Borchert-Vorschlag führt zu einer klar kalkulierbaren, sehr moderaten Anhebung der Verbraucherpreise, deutlich unter 10 Cent je Liter Milch oder einem 100 g-Päckchen Wurst. Das entspricht genau der Linie, die viele Politiker seit Jahren einfordern: Unsere Bauern können sich hohes Tierwohl nur leisten, wenn es bezahlt wird, und deshalb muss endlich Schluss sein mit dem Billigstkonsum tierischer Lebensmittel.

Geld ist nicht alles. Woran kann das Borchert-Konzept noch scheitern?

Isermeyer: Es braucht viel Gestaltungskraft, weil noch mehrere politische Großbaustellen zu bearbeiten sind. Erstens muss die Ausarbeitung der Tierwohlkritieren für alle Tierarten abgeschlossen werden, zweitens müssen die bau- und umweltrechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, und drittens muss das Verhältnis zwischen der staatlichen Tierwohlpolitik und der Initiative Tierwohl (ITW) gestaltet werden.

Ich habe Zweifel, ob sich ein so anspruchsvolles Gesamtpaket innerhalb einer Legislaturperiode umsetzen lässt, wenn wir es dem üblichen Geschäftsgang der Bundes- und Landespolitik überlassen. Vielleicht muss die Politik deshalb auch über ein innovatives Managementkonzept nachdenken und den Verantwortlichen ein klares Zeitziel vorgeben, also zum Beispiel: Fertigstellung eines beschlussreifen Gesamtpakets in zwei Jahren.

Für die Tierhaltung zeichnet sich in Umrissen ab, wohin die Reise gehen soll, Stichworte sind tiergerechte Haltungsformen, mehr Platz, Außenklima, langsameres Wachstum. Gibt es ähnlich klare Zielbilder auch für die Transformation des Pflanzenbaus?

Isermeyer: Bevor wir zum Pflanzenbau kommen, sollten wir erst das Zielbild Tierhaltung vervollständigen, denn bisher ging es ja nur um das Tierwohl. Für ein stimmiges Gesamtbild des Nutztiersektors müssen wir die Anforderungen des Klimaschutzes hinzufügen. Das Ergebnis für Deutschland lautet, um es kurz zu machen, dass

a) weniger Tiere gehalten werden, aber auf deutlich höherem Tierwohlniveau, und

b) weniger tierische Lebensmittel verbraucht werden.

Die Reduzierung der Tierbestände ist bereits eingeleitet. Wie weit das gehen wird, hängt maßgeblich von der Umsetzung der Düngepolitik ab. Für die Senkung des Verbrauchs tierischer Lebensmittel kann die Politik ebenfalls einiges tun, zum Beispiel die Mehrwertsteuervergünstigung für tierische Lebensmittel abschaffen und Maßnahmen für eine klimafreundlichere Ernährung unterstützen.

Wie sieht es nun mit der Zielbildsuche für den Pflanzenbau aus?

Isermeyer: Das ist wesentlich schwieriger als bei der Tierhaltung, allein schon, weil die natürlichen Standortbedingungen beim Pflanzenbau eine überragende Rolle spielen. Ein Zielbild, das in einer Region passt, kann anderswo ziemlich unpassend sein. Die Politik hat es bisher mit EU-weit standardisierten Vorgaben für alle Betriebe versucht, zum Beispiel „mindestens drei Fruchtarten pro Betrieb“. Das hat aber nicht zu Zielbildern geführt, die aus umweltpolitischer Sicht überzeugen können.

Die Gemeinsame Agrarpolitik reagiert nun, indem sie die Regulierung des Pflanzenbaus immer differenzierter auszusteuern versucht. Damit kann sie sich aber übel im bürokratischen Klein-Klein verheddern, schlimmstenfalls landet sie in einer Art Planwirtschaft. Vielleicht war dieses Dilemma ja ein Grund dafür, dass die EU-Kommission jetzt mit dem 25 % Ökolandbau-Ziel zumindest für einen Teil des Agrarsektors ein neues Zielbild an den Horizont gemalt hat, welches sehr leicht zu kommunizieren ist.

Würden Sie der Politik empfehlen, den Ökolandbau als Zielbild für den gesamten Pflanzenbau zu proklamieren?

Isermeyer: Der ökologische Landbau ist ein besonders umweltfreundliches Segment unserer Landwirtschaft, außerdem ein wertvoller Innovationsraum, dessen Fortschritte auch für die Weiterentwicklung der gesamten Landwirtschaft nutzbar sind. Insofern ist es gut, dass die Politik ein Prozentziel für das Ökosegment gesetzt hat.

Das hilft uns aber bei der Entwicklung eines Zielbildes für die übrigen 75 % oder 80 % der Pflanzenbaufläche nicht weiter. Ich hielte es jedenfalls für kritisch, den Ökolandbau auch als Zielbild für alle konventionell wirtschaftenden Betriebe auszurufen.

Theoretisch wäre es jedoch möglich, die ganze Landwirtschaft auf Öko umzustellen und im Gegenzug den Verbrauch von Fleisch und Milch so stark zurückfahren, dass Produktion und Verbrauch wieder im Gleichgewicht sind.

Isermeyer: Theoretisch ja. Der überwiegende Teil unserer Pflanzenernte landet im Futtertrog, und deshalb würde ein radikaler Umstieg auf vegane oder vegetarische Ernährung viel Platz schaffen, um den Pflanzenbau zu extensivieren und dennoch genügend Nahrung für die Bevölkerung zu produzieren.

Für die praktische Agrarumweltpolitik ist aber zu bedenken, der sich der Wandel der Ernährungsgewohnheiten nicht über Nacht vollzieht, sondern in Generationen. Deswegen könnte eine zu starke Extensivierung des Pflanzenbaus zu einer Verlagerung der Umweltprobleme ins Ausland führen. Außerdem ist zu bedenken, dass bei uns immer weniger Fläche für die klassische Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung stehen wird. Schon deshalb sollten wir sorgfältig prüfen, wie stark wir die Produktion auf der verbleibenden Fläche zurückfahren wollen.

Sie meinen den Flächenentzug für Siedlung und Verkehr?

Isermeyer: Nicht nur. Auch durch die Naturschutzpolitik und die Klimaschutzpolitik entstehen erhebliche Ansprüche zur Umnutzung von Agrarflächen. Da sprechen wir dann nicht über 20.000 ha pro Jahr wie bei den Siedlungs- und Verkehrsflächen, was ja auch schon viel ist, sondern über einen weitaus größeren Flächenbedarf. Gut möglich, dass die Politik in der kommenden Legislaturperiode auch hierzu schon Weichenstellungen vornimmt.

Flächenentzug durch Klimaschutzpolitik - hielten Sie das für sinnvoll?

Isermeyer: Klimaschutz steht auf der politischen Agenda weit oben, und daher sollten wir selbstverständlich prüfen, wie wir die Potenziale unserer Agrarflächen hierfür nutzen können. Am schönsten wäre es natürlich, wenn die vielbeschworene Win-Win-Konstellation Humusaufbau klappen würde: Die verbesserte Bodenfruchtbarkeit hilft dem Pflanzenbau, und zugleich erhöhen wir damit auch noch die Kohlenstoffspeicherung im Boden. Hier gibt es allerdings noch einige Fragezeichen und erheblichen Forschungsbedarf. Deshalb nehmen wir für die nähere Zukunft auch Konzepte in den Blick, mit denen sich auf wenig Fläche viel Klimaschutz erreichen lässt.

Woran denken Sie?

Isermeyer: Ich sehe drei vielversprechende Linien: Erstens können wir sehr viel Kohlenstoff speichern, indem wir unsere Agrarlandschaften, die ja oft ziemlich ausgeräumt sind, in eine Heckenlandschaft verwandeln. Das brächte auch Pluspunkte für den Erosionsschutz und die Biodiversität.

Zweitens wird es immer interessanter, auf Agrarflächen Solaranlagen zu errichten, unter Umständen integriert in landwirtschaftliche Produktionssysteme. Und drittens können wir auf begrenzter Fläche einen besonders großen Klimaschutzbeitrag leisten, indem wir Moorböden wiedervernässen. Alle drei Konzepte bringen sehr viel für den Klimaschutz, führen aber auch zu einem gewissen Rückgang der Nahrungsmittelerzeugung.

Liegt also die Zukunft des Pflanzenbaus irgendwo zwischen der heutigen konventionellen Landwirtschaft und dem Ökolandbau?

Isermeyer: Ja, für den überwiegenden Teil der Agrarflächen sehe ich das so. Hier liegt die Kunst der politischen Steuerung darin, den Landwirten einerseits viel Gestaltungsfreiheit zu lassen, damit sie den Besonderheiten ihres Standorts gerecht werden und sich flexibel an Wetteränderungen oder neue Marktbedingungen anpassen können, andererseits aber auch Leitplanken zu setzen, die den Sektor als Ganzes in die richtige Richtung führen.

Nehmen Sie etwa die Stickstoffüberschüsse, die - wenn wir den Agrarsektor als Ganzes betrachten - immer noch viel zu hoch sind. Wenn wir es schlau anstellen, können wir den sektoralen Stickstoffüberschuss massiv reduzieren, ohne dass dies zu einer deutlichen Absenkung der Erträge führen muss. Genau dieses Ziel wollen wir doch erreichen.

Wie können wir es „schlau anstellen“?

Isermeyer: Die erste Option besteht darin, Mineralstickstoff EU-weit zu verteuern. Der Vorteil ist die einfache Kontrollierbarkeit an den sogenannten Flaschenhälsen. Der Vorschlag wird aber regelmäßig dafür kritisiert, dass er primär die Ackerbauern trifft, obwohl diese doch viel geringere Stickstoffüberschüsse haben als die Regionen mit starker Viehhaltung. Die Maßnahme wirkt auch auf die Viehregionen, aber eben nur indirekt.

Die zweite Option besteht darin, den Stickstoffüberschuss jedes einzelnen Betriebes zu kontrollieren und sanktionieren. Das ist dichter am Problem und wird daher auch eher als verursachergerecht empfunden. Der große Nachteil ist jedoch der immense Kontrollaufwand, denn hier muss jeder einzelne Betrieb kontrolliert werden.

Welche Option empfiehlt die Wissenschaft?

Isermeyer: Schon vor 25 Jahren hat der Wissenschaftliche Beirat eine Doppelempfehlung gegeben: Die Politik solle es erst einmal mit einzelbetrieblichen Regulierungen versuchen, und falls sich dann nach einigen Jahren herausstellt, dass die Minderungsziele aufgrund der Kontrollprobleme nicht erreicht werden können, solle sie den Mineralstickstoff verteuern. Bis heute haben wir aber weder das eine noch das andere so richtig umgesetzt. Das hat dazu beigetragen, dass wir seit geraumer Zeit unter kritischer Beobachtung der EU stehen.

Die Düngeverordnung wurde zuletzt mehrfach angepasst, außerdem ist eine Stoffstrom-Bilanzverordnung in Vorbereitung. Wird das ausreichen, um die EU zufriedenzustellen?

Isermeyer: Die Nährstoffpolitik hat bisher darunter gelitten, dass vorrangig auf externen Druck reagiert wurde. In zähen Verhandlungen wurden dann mühsame Kompromisse geschmiedet, und so müssen wir uns nicht wundern, dass die einzelnen Versatzstücke dieses Politikfeldes immer noch nicht vernünftig zusammenpassen.

Für eine überzeugende nationale Nährstoffstrategie wäre es erforderlich, klare Ziele zu definieren und ein Berichtswesen zu etablieren, mit dem die Zielerreichung auch zweifelsfrei überprüft werden kann. Ich gehe davon aus, dass früher oder später alle Betriebe, die Nährstoffe ausbringen, die Mengen flächenscharf zu berichten haben.

Diese Berichte werden stichprobenartig von Behörden kontrolliert, was diese aber nur leisten können, wenn sie die betrieblichen Nährstoffangaben mit anderen Daten abgleichen - bis hin zu überregionalen Nährstofftransporten. Insofern ist es sinnvoll, dass Bund und Länder ein einheitliches, umfassendes Berichtssystem aufbauen.

Halten Sie diese Vision einer „gläsernen Landwirtschaft“ für politisch durchsetzbar?

Isermeyer: Durchaus. Es ist ähnlich wie bei der Finanzbuchhaltung: Niemand zahlt gern Steuern, aber am Ende gibt es doch eine gesellschaftliche Übereinkunft, dass es ohne ein Steuersystem nicht geht und dass behördliche Kontrollen erforderlich sind, damit die Ehrlichen nicht am Ende die Dummen sind.

In der Nährstoffbuchführung sind wir auch schon seit Jahren unterwegs, so dass viele Erfahrungen vorliegen. Allerdings ist noch nicht erkennbar, wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft künftig mit den riesigen Datenmengen umgehen werden: Hier gibt es die Positiv-Vision eines überbetrieblich vernetzten Daten- und Analyseraums, in dem viele landwirtschaftliche Betriebe zu Mitforschenden werden können, und die Negativ-Vision eines übergriffigen Bürokratiemonsters, das Inkonsistenzen in frisierten Meldungen der Betriebe aufzudecken versucht. Auch hier stehen wichtige Weichenstellungen bevor.

Lassen sich Ihre Vorstellungen zur Nährstoffpolitik auch auf die Regulierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln übertragen?

Isermeyer: Die Themen Stickstoff und Pflanzenschutz sind ähnlich gelagert, es gibt aber auch Unterschiede. In beiden Fällen ist es sinnvoll, dem gesamten Agrarsektor einen wirtschaftlichen Anreiz zur Verringerung von Einsatzmengen oder Emissionen zu geben. Das könnte auch bei den Pflanzenschutzmitteln durch eine EU-weite Verteuerung geregelt werden, oder eben durch die Messung und Sanktionierung der einzelbetrieblichen Mengen. Die Grundidee dieses Politikansatzes ist es, dass die Landwirte im Notfall auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel zurückgreifen können, dass sie zugleich aber einen wirtschaftlichen Anreiz erhalten, alles dafür zu tun, dass dieser Notfall nicht zum Regelfall wird.

Wo liegen die Unterschiede?

Isermeyer: Bei den Pflanzenschutzmitteln gibt es eine viel größere Produktvielfalt als beim Dünger. Manche Wirkstoffe lösen kleinere Umweltrisiken aus, andere weitaus größere. Das ließe sich aber bei der Politikgestaltung relativ einfach berücksichtigen, zum Beispiel mit dem Pesticide Load Indicator, der in Dänemark schon seit 2013 eingesetzt wird.

Wenn Dünge- und Pflanzenschutzmittel immer stärker durch das Ordnungsrecht reguliert werden, worauf sollten sich dann die Agrarumweltmaßnahmen der EU-Agrarpolitik konzentrieren?

Isermeyer: Mit der Gemeinsamen Agrarpolitik können wir Landwirte dafür bezahlen, dass sie größere Beiträge zum Umwelt- und Naturschutz leisten, als ihnen das Ordnungsrecht vorschreibt. Die Förderpolitik kann somit das Ordnungsrecht sinnvoll ergänzen, zum Beispiel durch die Förderung von Ökolandbau, Blühflächen oder Agroforstsystemen. Die Förderarchitektur der EU ist allerdings immer komplizierter geworden.

In der nächsten Programmperiode werden drei Hebel parallel zueinander angesetzt: Erstens wird die Einkommensgrundstützung an bestimmte Umweltauflagen geknüpft, zweitens können Landwirte Flächen in die Öko-Regelungen der Ersten Säule einbringen, und drittens gibt es weiterhin die Zweite Säule, um anspruchsvollere Agrarumweltmaßnahmen zu finanzieren. Diese merkwürdige Architektur kann man Außenstehenden nur erklären, wenn man die ganze Geschichte der EU-Agrarpolitik und die Schwierigkeiten einer Konsensbildung unter 27 Mitgliedstaaten mitliefert.

Wie lautet Ihre Empfehlung zur Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik?

Isermeyer: Langfristig hilft nur ein kompletter Systemwechsel. Dass die Erste Säule mit den Ökoregelungen auch etwas für den Umweltschutzes tun soll, ist einerseits lobenswert; andererseits ist hier der zusätzliche Umweltnutzen, der je Euro Steuergeld entsteht, doch sehr begrenzt. Das liegt an der Architektur der Erste Säule, die nicht für die Umweltpolitik geschaffen wurde.

Welche wesentlichen neuen Aufgaben sollten mit der Zweiten Säule angepackt werden?

Isermeyer: Lassen Sie mich einen Punkt herausgreifen: Es ist überfällig, dass wir in unseren Agrarlandschaften Planungsprozesse auf den Weg bringen, die die Struktur der Landnutzung auf die neuen Herausforderungen ausrichten.

Sie meinen die steigenden Flächenansprüche des Naturschutzes?

Isermeyer: Ja, es geht um Naturschutz und biologische Vielfalt, aber auch um viele andere Nutzungsansprüche. Über die Anpflanzung von Hecken für den Klimaschutz haben wir ja schon gesprochen. Es ist doch naheliegend, dass wir diese Hecken nicht irgendwo in der Landschaft anpflanzen, sondern genau dort, wo sie zugleich auch dem Erosionsschutz dienen und Biotopverbünde schaffen.

In vielen Regionen wird auch zu überlegen sein, wie wir Wasserrückhaltebecken in die Landschaftsplanung integrieren können. Fahrrad- oder Wanderwege benötigen ebenfalls Fläche und sollten geschickt in die Gesamtplanung integriert werden. Und schließlich die Energieanlagen: Wo können noch Windräder platziert werden, wo wäre ein Solarpark, eingebunden in eine Heckenlandschaft, die bessere Alternative?

Ein oder zwei Windräder an der richtigen Stelle können vielleicht Akzeptanz finden und den Dorfbewohnern das gute Gefühl geben, vor Ort einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Wenn die Politik das aber überzieht und eine ländliche Gemeinde am Ende den Charme eines Industriegebiets hat, müssen wir uns nicht wundern, wenn dort eines Tages niemand mehr wohnen will.

Soll die Zweite Säule wirklich das Landschaftsbild ganzer Nationen neu formen?

Isermeyer: Die Zweite Säule ist die Politik zur Entwicklung des Ländlichen Raums, so nennt es jedenfalls die EU-Kommission. Jedes Jahr fließen Milliardensummen in diesen Politikbereich, auch in Deutschland. Ich will es mal überspitzt ausdrücken: Eine Politik mit diesem Anspruch sollte nicht nur die Zusammensetzung von Saatmischungen für Blühstreifen regeln, sondern sich auch der Frage zuwenden, wo diese Blühstreifen in den Agrarlandschaften liegen sollen. Eine solche Feinplanung für jedes Dorf kann natürlich nicht in Brüssel erfolgen, sondern muss vor Ort geschehen, aber die Finanzierung der Planungsprozesse und der Umsetzung kann durchaus über die Zweite Säule laufen. Wir müssen es nur wollen.

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