Stefan Tangermann war von 1980 bis 2002 Professor für Landwirtschaftliche Marktlehre an der Universität Göttingen. In dieser Zeit war der Agrarökonom und Volkswirt Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium.
Im Jahr 2002 wechselte Tangermann zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Dort war er bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2009 Direktor für Internationalen Handel und Landwirtschaft. Für den Pressedienst Agra Europe verfasste er folgende Gedanken:
EU-Agrarreform bietet Chancen für einen Neuanfang
"Die Koalitionäre haben sich vorgenommen, die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft zu stärken. Gut so. Aber wenn das gelingen soll, darf die Agrarpolitik nicht einem Trugbild anhängen. Landwirte und ihre Produktion zu subventionieren und hinter Zollmauern zu schützen, ja, das macht es leichter, die Konkurrenz mit Bauern in anderen Teilen der Welt zu bestehen. Genau das haben Agrarpolitiker häufig genug unter „Wettbewerbsfähigkeit“ verstanden.
Aber eine Agrarpolitik, die so orientiert ist, hilft den Landwirten nicht, aus eigener Kraft im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Im Gegenteil, sie ist ein Klotz am Bein, denn sie bremst Initiative und Fortschritt.
Die Direktzahlungen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sind ein klassisches Beispiel dafür. Immer wieder wurden sie als unverzichtbares Instrument zur Erhaltung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Agrarsektors in der EU gepriesen. Aber auch in der Landwirtschaft ist inzwischen vielen klar, dass sie kontraproduktiv sind, aus mindestens zwei Gründen:
Erstens, sie inflationieren die Bodenpreise, also einen entscheidenden Kostenfaktor der Landwirtschaft.
Und zweitens sind sie der Aufhänger für die verschiedensten Anforderungen, die Landwirte erfüllen müssen, wenn sie in den ‚Genuss‘ dieser Zahlungen kommen wollen.
Zukunftsorientierte Landwirte sind diese Zahlungen deshalb inzwischen leid und verlangen, dass eine grundlegende Reform der GAP sie abschafft. Sie sind damit klarsichtiger und fortschrittlicher als die meisten Agrarpolitiker. Die Koalitionäre sollten auf sie hören und sich in die Hand versprechen, mit dem ganzen Gewicht, das Deutschland in Brüssel in die Waagschale werfen kann, für eine solche Reform einzutreten.
Bürokratieabbau wäre sehr wirksam
Abbau von Bürokratie gilt als eines der zentralen und notwendigen Ziele einer neuen Bundesregierung. Es gibt wenige andere Politikreformen, die in dieser Hinsicht mit einem Schlag so wirksam wären. Und was wird aus den Zielen bei Umwelt- und Klimaschutz, die bisher mit den an die Zahlungen gebundenen Auflagen verfolgt werden?
Sie können dann endlich mit gezielten Maßnahmen wirksamer und kostengünstiger verfolgt werden, als das bisher der Fall ist. Landwirte, die bereit und in der Lage sind, zu Umwelt- und Klimaschutz beizutragen, können das auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen tun, ergebnisorientiert und so, wie sie diese Ziele in eigener Verantwortung am besten und günstigsten erreichen.
Subventionsempfänger werden so zu Leistungsträgern, die sich als Unternehmer entscheiden, wie sie das anbieten wollen, was die Gesellschaft von der Landwirtschaft erwartet. Und für diese Leistung werden sie entlohnt, durch die Politik statt über den Markt, weil niemand als Individuum bereit ist, dafür an einer Ladenkasse zu zahlen.
Gleichzeitig würde ein pauschales Regime durch Maßnahmen ersetzt, die spezifisch auf die jeweiligen Bedürfnisse und Bedingungen vor Ort ausgerichtet sind. Eine ganz neue Perspektive würde sich damit auch für die Teilung von Aufgaben und Verantwortung zwischen EU, Mitgliedstaaten und Regionen eröffnen.
In Deutschland tritt eine neue Bundesregierung in einem Augenblick an, in dem auf Ebene der EU die Weichen für die Zukunft der Agrarpolitik gestellt werden. Welch eine Chance, wenn sie denn mit wachen Augen gesehen und genutzt wird!