Ohne Alternative ist nach Einschätzung des Vorsitzenden der Agrarsozialen Gesellschaft (ASG), Wolfgang Reimer, die derzeitige Konsensorientierung in der Agrarpolitik. „Wenn ich einen ganzen Sektor wie die landwirtschaftliche Tierhaltung umbauen will, kann ich das nur mit der Branche tun“, sagt Reimer im Interview mit Agra Europe - hier ein Auszug:
AgE:Greenpeace wirft dem Grünen-Bundeslandwirtschaftsminister Entscheidungsschwäche und fehlenden Mut zur Konfrontation vor; der Bauernverband lobt Cem Özdemir für seinen kooperativen Politikstil. Erleben wir gerade Ball verkehrt in der Agrarpolitik?
Reimer: Das denke ich nicht. Zum einen muss man feststellen, dass sich die Verbände insgesamt doch sehr bewegt haben. Das ist sowohl in der Borchert-Kommission als auch in der Zukunftskommission Landwirtschaft zum Ausdruck gekommen. Zum anderen entspricht der kooperative Stil des Ministers seinem Naturell. Da ist er seinem großen Vorbild Winfried Kretschmann ähnlich.
Verhindert zu viel Konsensorientierung eine fruchtbare Auseinandersetzung über den richtigen Weg?
Reimer: Das trifft manchmal zu, in diesem Fall aber nicht. Wie gesagt, die Agrarbranche hat sich ja beispielsweise bei der Tierhaltung in die „grüne“ Richtung bewegt. Da muss der Minister nicht mit der Branche in Konflikt gehen, eher schon mit der FDP in der Ampel-Regierung.
Nach Ihren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte - welches Vorgehen ist am ehesten erfolgversprechend, um agrarpolitische Ziele zu erreichen?
Reimer: Wenn ich einen ganzen Sektor, wie die landwirtschaftliche Tierhaltung umbauen will, kann ich das nur mit der Branche tun. Wir dürfen nicht vergessen, die deutsche Landwirtschaft erzielt etwa die Hälfte ihres Einkommens aus der Tierhaltung.
Rückblick auf ein Jahr Özdemir
Wie fällt Ihre Bilanz des ersten Amtsjahres von Cem Özdemir aus?
Reimer: Für eine Bilanz ist es deutlich zu früh. Die Regierung hat ja eine ganze Weile gebraucht um sich zusammenzufinden, dann kam zu Corona der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Diskussionen um die Energieversorgung, die Umsetzung der GAP, die Frage der Getreideversorgung von armen Ländern und so weiter. Das war ganz sicher kein normales Jahr.
Özdemir selbst sagt, kein Thema habe ihn in seiner bisherigen Amtszeit so beschäftigt wie der Umbau der Tierhaltung. Sind andere Themen zu kurz gekommen?
Reimer: Ganz sicher, zum Beispiel die Entwicklung ländlicher Räume. Wir wissen alle, dass die Landwirtschaft auch in den ländlichen Landkreisen nur wenige Prozente zum Bruttonationalprodukt beiträgt. Das sagt aber noch nichts über die wahre Bedeutung der Landwirtschaft aus, sondern darüber, dass es viele Chancen und Probleme neben der Landwirtschaft gibt. Allerdings stehen mit dem Green Deal und der Umsetzung der GAP-Reform weitere Herausforderungen an, so dass die Agrarpolitik für das Bundeslandwirtschaftsministerium weiterhin im Mittelpunkt stehen wird.
Die Tierhaltung steht stark unter Druck, auch in der öffentlichen Diskussion. Der Minister sagt, er will sie zukunftsfest machen, indem künftig weniger Tiere besser gehalten werden. Gleichzeitig wird die Diskussion um eine Halbierung der Bestände intensiv geführt, auch innerhalb der Grünen. Fehlt es dem Minister an Rückhalt in der eigenen Partei?
Reimer: Das glaube ich nicht. Zum Glück ist die Tierhaltung bei uns nicht so weit aus dem Ruder gelaufen wie in Holland, so dass wir keine genauen Zielmarken brauchen. Aber jeder geht davon aus, dass mit der Umsetzung der Borchert-Vorschläge die Veredlung deutlich zurückgehen wird.
Wir brauchen wieder klare Vorgaben und Berechenbarkeit
Was ist das wichtigste, um der Verunsicherung auf den Höfen entgegenzuwirken und Vertrauen bei jungen Landwirtinnen und Landwirten zu schaffen, die vor der Frage stehen, Höfe zu übernehmen und dafür investieren müssen?
Reimer: In erster Linie muss es um die Berechenbarkeit gehen. Wir brauchen einerseits klare Vorgaben vor allem in der Tierhaltung. Andererseits müssen junge Landwirtinnen und Landwirte ihren eigenen Weg finden. Dabei sollten sie nicht nur entlang der bestehenden Spezialisierung denken. Und sie müssen bedenken, dass auch die gewerbliche Wirtschaft einen tiefgreifenden Wandel durchläuft.
Kann Politik einer Abstimmung mit den Füßen entgegenwirken?
Reimer: Langfristig war immer die außerlandwirtschaftliche Entwicklung entscheidend. Wenn die gewerbliche Wirtschaft gutbezahlte Arbeitsangebote machte, lief der Strukturwandel schneller und umgekehrt. Aber auch die gesellschaftliche Stimmungslage hat großen Einfluss. Wer will schon ständig öffentlich angegriffen werden wegen seiner Tierhaltung?
Früher haben auch die Bauern FDP gewählt
Der Minister hat sich wiederholt zu den Vorschlägen der Borchert-Kommission bekannt. Reicht das?
Reimer: Natürlich nicht, aber ich sehe das Problem innerhalb der Regierungskoalition.
Die Ampelkoalition tut sich schwer, gemeinsame Positionen in der Agrarpolitik zu finden. Das gilt insbesondere für Grüne und FDP. Nach den Erfahrungen dieses Jahres - trauen Sie der Ampel mehr zu als den kleinsten gemeinsamen Nenner?
Reimer: Die FDP war früher eine Mittelstandspartei, die auch von den Bauern gewählt wurde. Ich erinnere mich an das Wahlverhalten meiner Eltern. Ich verstehe nicht, weshalb sie den Umbau der Tierhaltung nur halbherzig mitträgt.
Ökoausbauziele werden verfehlt
Mit dem 30 %-Ziel bis 2030 für den Ökolandbau hat die Ampel die Latte auf eine Höhe gelegt, die sie nur reißen kann. Sollte sie auf Abstand gehen, um Glaubwürdigkeit zu demonstrieren?
Reimer: Es ist ja nicht verkehrt, sich ambitionierte Ziele zu setzen. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass wir dieses Ziel erreichen. Aber ist es realistischer, das 1,5-Grad-Ziel beim Klimaschutz oder die Ziele des Artenschutzes zu erreichen?