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Der LEH macht die Spielregeln

Lesezeit: 8 Minuten

Der Lebensmitteleinzelhandel setzt zunehmend die Standards und wird damit zum „Quasi-Gesetzgeber“. Warum das so ist, und wie die Bauern damit umgehen sollten, erklären Prof. Achim Spiller und Maureen Schulze von der Universität Göttingen.


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Erinnern Sie sich? 2005 gab Greenpeace einen „Einkaufsratgeber“ zu Pflanzenschutzmittelrückständen in Lebensmitteln heraus. Lidl schnitt damals besonders schlecht ab – und reagierte: Der Discounter akzeptiert seitdem nur noch Ware, die maximal ein Drittel der gesetzlich festgelegten Rückstandshöchstmenge enthält. Lidl „ersetzt“ damit die gesetzlichen Vorgaben durch eigene Pflanzenschutzmittelhöchstwerte.


Einer prescht vor, andere folgen


Andere Händler zogen damals nach, und seitdem folgten viele ähnliche Fälle:


  • Die Auslistung von Käfigeiern und später von Eiern aus Kleingruppenhaltung durch den deutschen Handel. Hier setzte der Handel mit eigenen Standards den Gesetzgeber unter Druck, der mit einem gesetzlichen Verbot nachzog.
  • 2017 ärgerten sich viele Landwirte, als Aldi Süd Glyphosat-Rückstände bei Eigenmarken auf 10 bis 20% der EU- Höchstwerte begrenzte, was den Druck auf die Landwirtschaft zur Reduktion des Glyphosateinsatzes verstärkte.


Es gibt viele Beispiele für handelsgesetzte Produktionsstandards (s. Seite 129). Nicht selten hat der Gesetzgeber diese später rechtlich festgezurrt.


Für Landwirte erweisen sich die neuen Regeln und Anforderungen des Handels, z.B. die reduzierten Rückstandswerte im kleinstrukturierten Obstanbau, oft als große Herausforderung. Die Erzeuger kritisieren das Vorgehen.


Immer mehr Betroffene fragen sich, ob der Handel so einfach die Aufgaben des Gesetzgebers übernehmen und seinen landwirtschaftlichen Lieferanten eigene Standards vorschreiben darf. Sollten nicht die gewählten Volksvertreter solche Umwelt- und Tierschutzstandards definieren? Überschreitet der Handel hier seine Legitimation? Kann es z.B. angehen, dass der Handel den Einsatz von Glyphosat regelt, während gleichzeitig die Parlamente über diese Frage noch diskutieren? Das wurde bislang nicht wirklich beantwortet.


Der Agrarausschuss des EU-Parlaments hat sich in den Beratungen zur EU-Richtlinie zu unfairen Handelspraktiken für ein Verbot von Umwelt- und Tierschutzstandards ausgesprochen, die über den gesetzlichen Standard hinausgehen. In der jüngst verabschiedeten EU-Richtlinie sind allerdings nur rückwirkende Änderungen der Qualitätsstandards untersagt, es gibt kein generelles Verbot strengerer Handelsstandards. Das zeigt aber immerhin, dass die intensive Diskussion um wirtschaftseigene Standards, gesetzt von nachfragemächtigen Händlern und auch von Herstellern, zunimmt.


Darf nur die Politik den Rahmen setzen?


Die Landwirtschaft beruft sich dabei auf das klassische Modell von Politik. Demnach setzt das gewählte Parlament die gesetzlichen Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln. Das bedeutet: Die Parlamentarier legen faire Spielregeln für den Wettbewerb fest und berücksichtigen dabei gesellschaftliche Ziele. Wer strengere oder andere Regeln will, muss diesen politischen Prozess durchlaufen und Lobbyarbeit betreiben.


In der wissenschaftlichen Forschung ist die Antwort derzeit weniger klar: Unternehmen wachsen, werden mächtiger und haben größere Handlungsspielräume. Gleichzeitig tragen sie eine gesellschaftliche Verantwortung, die als „Corporate Social Responsibility“ bezeichnet wird. Große Unternehmen können so eigene Standards entwickeln und dafür auch ihre Lieferanten „einspannen“.


Als „ökologischer Türöffner“ achtet der Handel darauf, dass möglichst nur nachhaltige Produkte in seine Regale kommen. Besonders bei seinen Eigenmarken kann der Handel die Wertschöpfungskette spürbar beeinflussen. Die Rolle der Zivilgesellschaft und auch von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) ist dabei, diesen Prozess durch Druck auf die Händler voranzutreiben.


Der Weg über die Parlamente ist so gesehen nur eine Möglichkeit, die Spielregeln zu verändern. Viele Ökonomen würden es sogar befürworten, wenn die Wirtschaft selber aktiv wird, da dies die Chancen auf praktikable Regelungen verbessert, weil Unternehmen „näher dran“ sind und bessere Regelungen finden werden als der bürokratische Gesetzgeber. Aber stimmt das?


MEhr Verantwortung oder nur Marketing?


Der LEH ist extrem flexibel. Für ihn ist es im Prinzip egal, welche Artikel im Regal liegen, Hauptsache der Deckungsbeitrag stimmt. Händler könnten zum Beispiel auch Fleisch komplett durch vegane Produkte ersetzen, wenn diese von den Verbrauchern bevorzugt würden. Auch bei Wurstherstellern lassen sich die Maschinen erstaunlich flexibel einsetzen, wie z.B. die vegetarischen Produkte bei Rügenwalder zeigen.


Dagegen sind die Unternehmen am Anfang der Kette, die Vorlieferanten im Agribusiness und die Landwirtschaft naturgemäß weniger flexibel, weil sie technisch und ökonomisch stärker an ihre Produktionsrichtungen gebunden sind. So können z.B. Futtermittelhersteller und Tierhalter nicht einfach auf Sojaproduktion oder Gemüse umstellen. Während für den LEH der Verzicht auf Glyphosat ein „Federstrich“ ist, bedeutet er für Landwirte eine gravierende Änderung ihres Ackerbausystems und Kosten für neue Technik.


Genau umgekehrt verhält es sich mit dem Druck der Gesellschaft: Boykottdrohungen von NGOs richten sich meistens an die Händler und an die bekannten Markenartikler oder Fast-Food-Ketten und nicht gegen einzelne Landwirte. Allerdings hat ein Händler wiederum nur sehr begrenztes Wissen über die produktionstechnischen Details. Der LEH und auch viele Markenartikler sind weit weg von der Urproduktion. Das verstärkt die Gefahr von schlecht gesetzten Handelsstandards.


Wenig beachtet ist in der Diskussion, dass der Handel auch deshalb zunehmend eigene Standards entwickelt, weil diese im Marketing für ihn nützlich sind. Zum Beispiel Weidehaltung von Kühen: Das Thema ist den Verbrauchern wichtig. Weidemilch ist ein emotionales Marketingthema. Es eignet sich insbesondere für die Eigenmarken des Handels. Diese werden typischerweise nicht so stark beworben wie klassische Markenartikel. Ein Thema wie Weidemilch „päppelt“ die Handelsmarken auf und bringt viel Imagenutzen, kostet aber relativ wenig. Weidemilch-Produkte können damit preislich fast auf das Niveau viel beworbener Markenartikel gehoben werden.


Nicht nur der Handel setzt Standards. Auch große Hersteller wie z. B. Nestlé oder Unilever, aber auch Gastronomiebetriebe wie McDonald’s und landwirtschaftsnähere Verarbeitungsunternehmen wie DMK definieren zunehmend eigene Anforderungen für landwirtschaftliche Produktionsverfahren. In bestimmten Bereichen wie etwa der Geflügelwirtschaft, in der traditionell große Integratoren die Kette beherrschen, ist das schon lange der Fall. Mit zunehmendem Interesse der Verbraucher an der Landwirtschaft und mit dem Druck von NGOs auf den Handel wird das Thema nicht mehr von der Bildfläche verschwinden. Die Landwirtschaft muss damit umgehen, sollte aber darauf pochen, dass die Standards praktikabel und langfristig ausgerichtet sind.


Eigene Vorschläge bringen!


Die Landwirtschaft ist in den letzten Jahren bei gesellschaftlichen Themen immer mehr zum Getriebenen geworden und hat sich von NGOs Themen aufzwängen lassen. Letztere haben gelernt, dass der Handel der bessere Hebel ist. Aus dieser Zwangslage können die Landwirte nur durch aktives Handeln herauskommen. Der Handel wird, wenn die Landwirtschaft weiter relativ passiv bleibt, künftig auf immer neue Mediendebatten aufspringen.


Besser wäre es, wenn die Landwirtschaft diese Diskussionen frühzeitig beobachtet und zügig mit eigenen Vorschlägen an den Handel herantritt. Dies steigert auch die Chancen, wenigstens zeitweise höhere Preise zu erzielen. Langfristig werden solche Anforderungen im Wettbewerb eingepreist. Chancen hat nur derjenige, der schneller ist als die internationale Konkurrenz.


Was sollte der Handel tun? Für die Landwirtschaft ist es wichtig, langfristig planen zu können. Wenn Händler Standards setzen, sollten sie das mit der nötigen Fachkenntnis tun und erfüllbare Übergangszeiträume einplanen. So ist es z.B. sinnvoll, dass Händler fachkundige Umwelt- und Tierschutzbeauftragte mit landwirtschaftlichem Hintergrund einstellen. Auch ist es besser, wenn sich mehrere Abnehmer abstimmen, denn die meisten Landwirte wollen unabhängig am Markt agieren und an mehrere Abnehmer liefern können. Ebenso sind umfassende Standards besser als eine Vielzahl von Einzelkriterien. Außerdem ist ein kompletter Nachhaltigkeitsstandard geeigneter als getrennte Standards für die verschiedenen Nachhaltigkeitsthemen. Zielkonflikte, wie z.B. beim Glyphosat zwischen Lebensmittelsicherheit und Bodenerosion, lassen sich so vermeiden oder zumindest begrenzen.


Auch sollte in der Diskussion nicht vergessen werden, dass der Handel nicht nur als „Regulierer“, sondern auch als „Promoter“ auftreten kann. Der Lehrstuhl für „Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte“ der Universität Göttingen arbeitet z.B. in einem Projekt mit Edeka Südwest und Landwirten, in dem es um die bessere Vermarktung von Weiderindern geht. Daran nehmen nicht nur engagierte Landwirte teil, sondern auch Einzelhändler, die gegen viele Widerstände Weiderindspezialitäten fördern wollen – auch wenn die Warenverfügbarkeit begrenzt ist und sich das Fleisch häufig erst mal nicht rechnet. Dennoch sind die Händler begeistert von diesen einheimischen Spezialitäten.


Mehr Möglichkeiten


Nicht zuletzt darf man einen weiteren Vorteil wirtschaftseigener Standards nicht übersehen: Der Gesetzgeber kann immer nur die heimische Landwirtschaft regulieren. Wenn deutsche Gesetze strenger sind als in der EU oder global, dann führt dies häufig zu Wettbewerbsnachteilen. Der Handel darf und sollte einheitliche Standards für alle Lieferanten setzen, egal woher sie kommen. Standards der Wirtschaft sind daher ein Mittel gegen globale Wettbewerbsverzerrungen. Ein aktuelles Beispiel sind die Haltungskennzeichnungen für Fleisch. Der Handel kann dafür sorgen, dass die Form der Tierhaltung auf allen Fleischprodukten steht, also quasi verpflichtend wird. Der deutsche Gesetzgeber darf das aus EU- und WTO-rechtlichen Gründen nicht.


christian.brueggemann@topagrar.com

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