Die Lage in der Ukraine spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu. Aktuell sind in den umkämpften Gebieten alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten eingestellt. Kein Landwirt weiß um seine Zukunft. top agrar sprach dazu mit Alex Lissitsa, Geschäftsführer der ukrainischen IMC Agrarholding. Das Unternehmen bewirtschaftet etwa 120.000 ha Ackerland für den Anbau von Marktfrüchten. Etwa 100.000 ha liegen in den belagerten Gebieten im Nordwesten der Ukraine. Lissitsa zufolge ist niemandem klar, ob die Arbeiten auf den Feldern, auch nach einem zeitnahen Ende des Krieges, überhaupt wieder aufgenommen werden können.
„Unsere Milchkühe überleben so vielleicht noch zwei bis drei Wochen“
Ungewiss stehe es aktuell um einen 1000er-Milchviehbetrieb der Agrarholding. „Wir können seit zwei Wochen kein neues Futter bringen oder eine tierärztliche Versorgung sicherstellen, weil die russischen Besatzer niemanden in die Region lassen“, so der Ukrainer. Die Kühe versorgen die Mitarbeiter aktuell mit Heu und der restlichen Silage. Internet haben sie schon länger nicht mehr, gestern sei auch noch die Elektrizität ausgefallen, so Lissitsa gegenüber top agrar. „Der Melkstand wird gerade per Ölgenerator betrieben, in 24 Stunden geht uns jedoch das Öl aus!"
Die Milch werde im Dorf verteilt oder weg gegossen. Er vermutet jedoch, dass die bereits abgemagerten Tiere in dieser Lage nicht mehr lange überleben: „In solch einem Zustand werden die Tiere in zwei bis drei Wochen sterben.“
“Ich schließe ein Umdenken in der europäischen Agrarpolitik nicht aus“
Alex Lissitsa selbst stammt gebürtig aus einem Dorf an der Grenze zu Russland. Dort habe jede zweite Familie Verwandte in Belarus und Russland. Ein solches Szenario habe sich niemand vorstellen können. Auch wie es weiter gehe, könne dort momentan niemand voraussagen.
„Ich denke, dass wir wahrscheinlich maximal 50 % unserer Flächen für die Aussaat bzw. die weitere Feldarbeit vorbereiten können.“ Im letzten Herbst wurden ihm zufolge in der Ukraine etwa 7 Mio. ha Wintergetreide ausgesät, die nun dringend Dünge- und Pflanzenschutzmittel benötigen. Die voraussichtlich sehr geringen Erträge diesen Jahres würden wahrscheinlich reichen, den ukrainischen Bedarf zu decken. „Der Exportstopp und die stark steigenden Preise werden globale Auswirkungen haben“, so der Agrarwissenschaftler. Er vermutet, dass dies vor allem Nordafrika und Asien stark treffen werde. Die globale Ernährungssituation verändere sich voraussichtlich drastisch: „Ich schließe ein Umdenken in der europäischen Agrarpolitik nicht aus. Diese Lage kann starke Auswirkungen haben.“
Für eine zeitnahe Wiederaufnahme der Arbeiten fehle es aktuell an Betriebsmitteln. „Wir stehen bald ohne Treibstoff, ohne Mitarbeiter und ohne weitere Betriebsmittel da“, verdeutlicht der Geschäftsführer, der sich aktuell in Lwiw, im Westen der Ukraine befindet . Arbeitskräfte seien für die landwirtschaftlichen Betriebe momentan nicht greifbar. „Unsere Fachkräfte werden als Streitkräfte mobilisiert“, so der Agrarwissenschaftler. Das betreffe auch Betriebe aus Regionen, die aktuell noch nicht vom Krieg betroffen sind.
Fehlende Betriebsmittel und verminte Felder
Ein Teil seiner Flächen liegt in der Nähe der Stadt Poltawa, in der Zentral-Ukraine. Dort bereite sich die Agrarholding aktuell mit letzten vorhandenen Mitteln vorsichtig auf die Aussaat und die Bewirtschaftung des Wintergetreides vor. Ob sie das realisieren können, oder ob auch dort in den nächsten Wochen etwas passiert, wisse jedoch niemand. Dazu habe noch fast niemand Pflanzenschutzmittel auf dem Hof. Sie seien vorbestellt und bereits bezahlt. Es sei jedoch nicht absehbar ob und in welchem Volumen sie die Mittel bekommen.
Ich werde meine Mitarbeiter nicht auf die Felder schicken, ohne vorher geprüft zu habe, ob dort scharfe Minen liegen.“ - Lissitsa
Auf den Flächen rund um Sumy und Tschernihiw (Nordwest-Ukraine) sei eine Bewirtschaftung aktuell unmöglich. „Beide Regionen liegen an den Grenzen zu Belarus und Russland. Dort passieren ständig Militärkonvois die Straßen. Die Angreifer werden von Tag zu Tag brutaler.“ Die meisten Landstraßen seien von russischen Soldaten blockiert, sodass es schwierig bis unmöglich sei, die Flächen zu erreichen. Außerdem rechne er damit, viele Flächen nicht problemlos befahren zu können: „Ich werde meine Mitarbeiter nicht auf die Felder schicken, ohne vorher geprüft zu habe, ob dort scharfe Minen liegen.“ Für ihn und seine Arbeitskollegen sei es sehr schwierig abzuwägen, wie sich die Lage weiterhin entwickelt, welche Schritte sie als nächstes gehen sollen und inwiefern die Landwirte weiterhin wirtschaften können.