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Erntedank mit vollem Bauch – auf Luthers Spuren

Wie soll Dankempfindung der Sättigung wahrhaft erlebt werden, wenn das Defizit zuvor gar nicht bestand, geschweige denn überhaupt bekannt ist – ja in einer (über-)satten Gesellschaft gar nicht existieren kann? Gedanken von Dr. Clemens Dirscherl zum Erntedank.

Lesezeit: 7 Minuten

Ein Kommentar von Dr. Clemens Dirscherl. Er ist Ratsbeauftrager für Landwirtschaft und Ernährung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und vertritt diese in Gremien wie der Deutschen Tierschutzkommission.

 

„Wenn die Maus satt ist, schmeckt das Mehl bitter“ – so sagt der Volksmund und meint damit, daß mit zunehmender Sättigung des Magens ein Völlegefühl sich ausbreitet, welches das sensorische Geschmacksempfinden des Essens anders, gänzlich neu wahrnehmen und bewerten lässt. Hungerempfindung und Sättigungsgrenze prägen demnach auch die Einordnung von „gutem“ und „schlechtem“ Essen. Wer hungert,  ist dankbar um jedes Stück Brot, jedes Glas Milch, um einen vom Boden aufgelesenen Apfel.


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Das ist auch der ureigene Sinn von Erntedank: es ist nicht selbstverständlich, daß der Mensch gesättigt wird. Gott hat seine Schöpfungsgaben zur Nutzung, zur reichlichen Nutzung für alle bereit gestellt. Durch das eigene Erspüren des Stillens von Hunger und der Zufriedenheit, die sich damit einstellt, entsteht Dankbarkeit über die Beendigung des Hungers: aus meiner erlebten Defizit-Erfahrung entsteht ein Glücksempfinden, das ich teilen möchte – mit anderen, denen es ähnlich erging, aber auch  in einem weiteren Sinne, ja metaphysisch,  mit einer überirdischen Kraft, die mir beide Erfahrungshorizonte zumutete und ermöglichte. Eine tiefe Dankbarkeit für die Überwindung des Mangelzustandes breitet sich aus und bricht sich Bahn: im Erntedank vor Gott.


Das ist andererseits aber auch das Problem, mit dem heute Erntedank konfrontiert ist. Wie soll Dankempfindung der Sättigung wahrhaft erlebt werden, wenn das Defizit zuvor gar nicht bestand, geschweige denn überhaupt bekannt ist – ja in einer (über-)satten Gesellschaft gar nicht existieren kann?


Die Tradition des Erntedankfestes entspringt Agrargesellschaften: alles drehte sich um die Landwirtschaft. Der Jahresablauf wurde von Saat, Reife und Ernte und ihrer Be- und Weiterverarbeitung sowie fachgerechten Lagerung geprägt. Das Wetter spielte dabei eine wichtige Rolle. Die heutigen Wein- und  Volksfeste im Herbst zeugen noch davon: Erleichterung über die meist über Wochen andauernden und endlich erfolgreich abgeschlossenen auch körperlich anstrengenden Erntearbeiten; Freude über die eingebrachte Erntemenge, welche über eine entsprechende Vorratshaltung die Versorgung und Sättigung über den Winter garantierte.


Solch ein Ernteerleben lässt sich für die übergroße Mehrheit unserer Gesellschaft nur noch anhand historischer Dokumente in Museen und Archiven oder in Büchern und Filmen nachempfinden. Deshalb sind wir, trotz Hungerkatastrophen anderswo in der Welt, die es ja durchaus gibt, gerade in Afrika, so schwer für solch  Dankbarkeit zu sensibilisieren und zu gewinnen. Wir leben in einer satten Gesellschaft, die das Mehl als „bitter“ schmeckt, die mit Brot ein Glutenproblem, mit Milch ein Lactoseproblem und mit vom Boden aufgesammeltes Obst ein Wurm- oder ästhetisches Problem hat. Und es ist ja wahrlich genug zum essen da – reichlich an Menge, vielfältig an Auswahl, hochwertig an Qualität – als dass man Hunger, und nach dessen Sättigung, Dankbarkeit empfinden müsste.


Am eigenen Leib lässt sich Erntedank daher nicht mehr nachempfinden. Wir leben ja auch nicht mehr in einer Agrargesellschaft, sondern in einer industrialisierten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Die Urproduktionsstufe jeder Gesellschaft, die Landwirtschaft, wurde industrialisiert, ist wissenschaftlich-analytisch in allen Facetten erforscht und bekannt, und der Landwirt erfüllt zunehmend, je nach gesellschaftlicher Bedürfnislage, Dienstleistungsfunktionen, für die er vergütet wird – salopp formuliert: „Staatsknete“ für Landschaftspflege, ökologische Vorsorge und aktuell immer mehr Tierwohl.


Im Reformations-Jubiläumsjahr darf man daran erinnern, dass bereits zu Martin Luthers Zeiten der Gegensatz zwischen reichlicher Verfügbarkeit an Essen und fehlender Dankbarkeit durchaus schon bekannt war. Und das, obgleich es wiederholt in der Mehrheit der Landbevölkerung immer wieder zu Missernten und Hungersnöten kam. Diese waren dem Kirchenreformator als privilegiertem Intellektuellem, der auf materielle Unterstützung wohlmeinender Förderer aus verschiedenen Adelshäusern bauen konnte, weniger bekannt. So schrieb er in einer seiner Tischreden: „ Es ist alles genug, was man haben soll (…) Es hat allerlei Früchte, Korn, Wein, Getreide, Salz (…) allein mangelts an dem, daß wirs nicht achten noch recht brauchen, wie wir billig sollten, Gott zu Ehren und dem Nächsten zu Nutz, und danken ihm dafür; ja wir mißbrauchens auf das Allerschändlichste“. Drei Punkte werden darin angesprochen:


Erstens wurde also bereits damals, vor 500 Jahren mehr Wertschätzung für die Gaben aus Gottes guter Schöpfung angemahnt. Luther zielte auf höhere Achtung, also bewusste Wahrnehmung aller Gaben aus der Natur: „was aus der Erden zu kommen und zu wachsen pflegt“ – geradeso als ob die selbstverständliche gedankenlose Inanspruchnahme agrarischer Erzeugnisse schon damals üblich gewesen sei. Mehr Erntedank für den Schöpfergott wurde also schon zur Reformationszeit gefordert.


Zweitens wurde die sachgemässe Verwendung der Erntegaben in Frage gestellt. Der rechte Gebrauch, also die Be- und Verarbeitung von Agrargütern und deren Nutzung in Ehrfurcht und mit Sorgfalt wird angesprochen. Sicherlich auch ein Hinweis auf die schon damals immer wieder anzutreffenden betrügerischen Panschareien  mit Lebensmitteln, was wir heute als „Skandale“ bezeichen würden. Der Dank für Gottes Gaben als moralische Verpflichtung sich dieser auch in der Weiterverarbeitung, deren Handel und Zubereitung ehrenhaft zu erweisen: „Iss, was gar ist, trink, was klar ist, red, was wahr ist“.


Drittens ist dem Eigennutz der Gedanke der Solidarität, begründet im Gebot der Nächstenliebe, gegenübergestellt. Sicherlich zielt dies auch auf das Essen mit seinem sozialen Charakter als Gemeinschaftserlebnis, so wie es Luther bei Tisch gerne gepflegt hat nach dem Motto: zusammen genossen ist noch höheres Lob für Gottes Schöpfungsgaben.  Unter aktuellem Bezug  könnte „dem Nächsten Nutz“ als Ermahnung verstanden werden, Gottes Gaben nicht zu Lasten anderer zu gebrauchen:  nämlich denjenigen, die aus Gottes guter Schöpfung die Gaben erst hervorgebracht und ihre Nutzung überhaupt ermöglichen, den Bäuerinnen und Bauern,  eine angemessene ideelle und materielle Anerkennung zukommen zu lassen -  nicht zuletzt auch in Form einer entsprechenden Bezahlung. Damit nähert man sich dem ebenso heiklen wie grundsätzlichen Thema „gerechter“ Preise und „gerechter“  - gerade auch globaler – Handelsbeziehungen.


Dass Luther weit entfernt war von einer heutigen evangelischen Christen zugeschriebenen protestantischen Askese, zeigt sich insgesamt in seinen „Tischreden“. Herr Doctor Luther widmete sich nämlich nicht nur seinen theologischen Studien,sondern mit großer Leidenschaft und Freude auch den kulinarischen Genüssen: „Lernst Du wohl, wirst Du gebratener Hühner voll. Lernst Du übel, mußt  Du mit der Sau zum Kübel“.


Dabei blieb es nicht immer nur beim Sättigen von Hunger, sondern es ging bei opulenten Mahlzeiten wohl auch mengenmässig richtig zur Sache: „Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher, dafür sei Gott gedankt“. Bei allem Tun, selbst der Völlerei, wird der Dank für Gottes sinnenfrohe Gaben nicht vergessen. Die Bildnisse von Luther bezeugen ja offensichtlich die lukullische Essensfreude des Gelehrten mit seinem wohlgenährten rundlichen Gesicht und Körper. Von kontemplativer Konzentration auf den Geist, wie wir es heute von den kirchlichen Fastenaktionen „Sieben Wochen ohne“ kennen, hielt er herzlich wenig: „Darum halte deinen Bauch und Kopf wohl und martere dich nicht selbst mit Fasten zu Tode“.


Wenig Gedanken machte sich Luther über Vorschriften zur Ernährung, Ge- und Verbote. Alles, was aus Gottes guter Schöpfung käme, diene dem menschlichen Wohlbefinden und sei mit Dankbarkeit zu empfangen: „ Seid fromm und tut, was ich haben will und befehle, sonst esset, trinkt, kleidet euch, wie ihr wollt“. Ob Veganer, Vegetarier oder sonstigen gesundheitlich oder moralisch argumentierenden Ernährungsgelehrten – allen hätte Luther eine Abfuhr erteilt: „Was zum Mund eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht“.


„Sole gratia“ – allein die Danksagung – könnte über Luthers Ernährungsethik als Leitsatz gestellt werden. Dass solch ebenso tiefgläubige wie schlichte Erkenntnis heute 500 Jahre später nicht mehr  überzeugt, stellt das Erntedankfest vor eine große Herausforderung. „Sole gratia“ bedarf zeitlich angepasster Deutung und ethischer Handlungsanleitung. Damit gibt der Erntedank Anlass zum Nachdenken über den Umgang mit Gottes Schöpfungsgaben – zu unserem Genuss, aber auch, wiederum ganz mit Luther, in der Verantwortung für sie und ihre Nutzung vor Gott.

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