Rund 14000 dezentrale Stromerzeugungsanlagen aus erneuerbaren Energien werden über das Start-up „Next Kraftwerke“ miteinander vernetzt. Gemeinsam gesteuert, treten sie wie ein großer Player, also wie ein großes Kraftwerk, am Markt auf. Der Grund:Einspeisen des Naturstroms aus Wind-, Wasser- und Sonnenenergie in das Netz läuft bisher nicht reibungslos. Der gängigste Kritikpunkt ist die Gefahr von Schwankungen im Stromnetz aufgrund von Wettereinflüssen. Während sich ein Atomkraftwerk je nach Bedarf herauf- oder herunterfahren lässt, sind Wind und Sonne entweder da oder nicht.
Zwar können Hendrik Sämisch und Jochen Schwill weder Sonne, noch Wind beeinflussen. Die Gründer aus Köln haben aber trotzdem eine Lösung für das Problem mit dem Wetter gefunden: Ihr Unternehmen „Next Kraftwerke“ vernetzt rund 14000 dezentrale Stromerzeugungsanlagen aus erneuerbaren Energien miteinander. Gemeinsam gesteuert, treten sie wie ein großer Player, also wie ein großes Kraftwerk, am Markt auf. Obwohl das „virtuelle Kraftwerk“ maßgeblich aus dezentralen erneuerbaren Energiequellengespeist wird, ist es in der Lage, schnell und effizient auf den Strommarkt zu reagieren. Ziel des Zusammenschlusses ist nicht nur die gemeinsame Stromvermarktung, sondern auch die Übernahme von Netzverantwortung.
Strom aus der Landwirtschaft
Viele der Stromerzeuger in diesem virtuellen Kraftwerk sind Landwirte. Nach den Windparks an der deutschen Küste beherbergen landwirtschaftliche Betriebe die meisten Windkraftanlagen, ein Großteil der Photovoltaikanlagen liegt auf landwirtschaftlichen Dächern und schon jetzt erzeugen die Biogasanlagen hierzulande ein Drittel des Stroms aus erneuerbaren Energien.
Genau diese Biogasanlagen spielen eine entscheidende Rolle im dezentralen Netzwerk des Unternehmens: „Sie sind die am besten steuerbare Größe im Kreis der erneuerbaren Energien“, erklärt Hendrik Sämisch. „Mit dieser Art von Bioenergie lassen sich Schwankungen im Stromnetz ausgleichen. Besonders dann, wenn Sonne und Wind mal schwächer oder stärker sind“, so der Gründer.
Während es bei einem Windrad nur „an“ oder „aus“ gibt, lässt sich eine Biogasanlage stufenweise herauf- und herunterfahren. Kurzfristig kann sie sogar speichern. „Dann, wenn die Biogasanlage drei bis vier Stunden ihren Gasspeicher füllt, kann das Windrad weiterlaufen, obwohl gerade ‚zu viel‘ Strom im Stromnetz vorhanden ist“, so Hendrik Sämisch. Zuviel Strom? Wie kann das ein Problem sein?
Der Netzbetreiber, also der der die Leitungen betreibt, zahlt an uns Geld für die Stabilisierung des Stromnetzes"
Das Stromnetz als „Badewanne“
Wenn Hendrik Sämisch sein Geschäftsmodell dem Strom-Laien erklären soll, nimmt er dabei häufig folgendes Bild zur Hilfe: „Man kann das gesamte Stromnetz als eine Art Badewanne betrachten. Das Wasser ist in diesem Fall der Strom. Durch den Hahn läuft es in die Wanne herein, durch den Abfluss wieder heraus. Die Wanne darf weder überschwappen noch leerlaufen.“
In der realen Welt wird das Stromnetz von verschiedenen Teilnehmern gefüllt und von vielen Verbrauchern geleert. Atom- oder Kohlekraftwerke, aber auch regenerative Stromquellen „füllen“ das Netz. Letztere eben nur dann, wenn beispielsweise die Sonne scheint oder es windig ist. In der Praxis geht es darum, das Stromnetz zu stabilisieren. Quasi darum, das Netz weder „über-“ noch „leerlaufen“ zu lassen. Für diese Stabilität ist derjenige zuständig, der das Netz betreibt.
Netzbetreiber sind demnach auf kurzfristige Reserven angewiesen, weil das Leerlaufen immer morgens und abends droht, wenn viel Strom verbraucht wird. Zum Überlaufen kommt es, wenn nicht ausreichend Strom verbraucht wird. In der Praxis geht es darum, das Stromnetz innerhalb von Sekunden zu stabilisieren.
Ein dezentraler Stromproduzent allein kann dabei nichts ausrichten. Der Clue hinter dem virtuellen Kraftwerk ist also die Vernetzung von tausenden dieser dezentralen Anlagen. Genau dort setzt Next Kraftwerke an. Die Netz-Community vermarktet ihren Strom gemeinsam. Dann, wenn er am Markt gebraucht wird, stellen sie kurzfristige Reserven für die Netzbetreiber zur Verfügung. Der Vorteil liegt laut Hendrik Sämisch in der Flexibilität:
„Wer über Next Kraftwerke in das Stromnetz einspeist, profitiert von variablen Strompreisen an der Börse und der zeitlich günstigen Einspeisung seines Stroms in das Stromnetz.“ Das Konzept scheint zu funktionieren: Seit 2013 schreibt das Unternehmen schwarze Zahlen und blickt mit mehr als 200 Mitarbeitern auf jährliche Umsatzzahlen im dreistelligen Millionenbereich.
Landwirt Matthias Krampe ist Teil des Netzwerks
In der Praxis hat das Unternehmen technischen Zugriff auf alle am Netzwerk beteiligten Anlagen. Eine von diesen mehr als 1000 Biogasanlagen steht im nordrhein-westfälischen Dorsten und gehört dem Landwirt Matthias Krampe. Seine Anlage ist mit einer Größe von 250 KW eine „gutbäuerliche Anlage“.
Der Landwirt setzt seit rund vier Jahren auf die Zusammenarbeit mit der Firma aus Köln. Er betreibt einen gemischten Betrieb mit Schweinemast und Milchvieh. Von seinen rund 160 ha Betriebsfläche benötigte der Landwirt früher etwa 80 ha für den Anbau von Energiepflanzen für die Fütterung der Biogasanlage. Mittlerweile wurde die Anlage auf 100 % Misteinsatz umgestellt.
Das Wichtigste ist das Vertrauen zu dem Unternehmen."
Wie häufig "Next Kraftwerke" in den Prozess der Biogasanlage eingreifen darf, ist Verhandlungssache. „Mit der Biologie, mit der Fütterung und der Anlage kennt der Betreiber sich viel besser aus als wir. Da maßen wir uns nicht an, uns einzumischen“, erklärt Hendrik Sämisch. „Zweimal täglich darf Next Kraftwerke meine Biogasanlage an- oder ausstellen. Häufiger möchte ich es nicht“, erklärt Matthias Krampe. Denn dem Mehrerlös, den er durch die flexible Einspeisung seines Stroms einfährt, steht der Verschleiß des Motors gegenüber.
„Jedes An- und Abstellen bedeutet Abnutzung der Technik“, erklärt er. „Aber das Unternehmen weiß genau, wann es sich lohnt, mehr Strom ins Netz einzuspeisen und wann nicht.“ Zusätzlich erhält der Landwirt eine staatliche Flexibilitätsprämie, weil er hilft, das Stromnetz zu stabilisieren. Wie viel Cent der Landwirt pro KW mehr erwirtschaftet, als wenn er all seinen Strom direkt ins Stromnetz einspeist, ließ er offen. „Durch die Direktvermarktung mit 'Next Kraftwerke' läuft die Anlage profitabler“, so seine Aussage.
Ferngesteuerte Biogasanlage
Die Steuerung erfolgt über eine IT-Einheit, die sogenannte Next Box: Ein kleiner unscheinbarer Metallkasten im Steuerungsraum der Biogasanlage. Über diesen Steuerungskasten greift das Start-up auf die Anlagen zu. Ein ausgeklügelter Algorithmus in Verbindung mit einer Software ermöglicht es binnen weniger Sekunden, die Anlage so zu steuern, dass sie Strom produziert, wenn der Preis dafür hoch ist oder die Anlage zur Stabilisierung des Netzes beitragen kann. So soll unter dem Strich ein besserer Strompreis für die Landwirte rausspringen, als wenn sie ihren gesamten Strom pauschal an einen Stromanbieter verkaufen.
Doch nicht nur der Mehrerlös treibt den Landwirt an: „Mir ist der ökologische Gedanke besonders wichtig. Zudem möchte ich Netzverantwortung übernehmen“, so der Landwirt. Diese positive Einstellung hat schon in den Anfängen der Gründung Eindruck bei Hendrik Sämisch hinterlassen: „Wir sind vor rund zehn Jahren einfach losgegangen und haben Landwirte gesucht, die bei unserer Strom-Community mitmachen wollen“, sagt der Gründer. „Uns wurde klar, dass es gerade die Landwirte sind, die die Energiewende aktiv mitgestalten wollen.“
Matthias Krampe hat seine Anlage an das System angepasst, um in Stromspitzen, also dann, wenn viel Strom verbraucht wird, liefern zu können. „Wir fahren die klassische Höckerkurve – morgens hoch, über Mittag runter und abends wieder rauf. Angepasst an den Lebensrhythmus der Verbraucher.“ Die Motoren laufen also dann, wenn die Bevölkerung den Strom braucht.