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Genomische Zuchtwerte: Jetzt geht´s los!

Lesezeit: 9 Minuten

Die deutsche Holstein-Zucht steht mit der Einführung der genomischen Zuchtwerte vor massiven Veränderungen. Profitieren Züchter und Milchviehhalter von der Entwicklung?


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Wie ein Wirbelsturm verändert die genomische Selektion derzeit die deutsche Holstein-Zucht. Keine Woche, in der nicht neue Schlagzeilen aus der Zuchtszene die Runde machen: „OHG schließt Bullenmütter-Prüfung. Masterrind beendet den konventionellen Testeinsatz.“ Oder zuletzt: „Fast 40 % der Wartebullen geschlachtet“. Die genomische Selektion ist also angekommen in der deutschen Holstein-Zucht und sorgt für einen gravierenden Umbruch in den Zuchtprogrammen.


Neue Zuchtwerte im August


Und ab Mitte August können auch die hiesigen Züchter und Milchviehhalter die genomisch getesteten Jungbullen nutzen. Erstmals wurden die genomischen Zuchtwerte (gZW) der Jungbullen in Deutschland veröffentlicht. Bisher hatten sie nur die Möglichkeit für viel Geld (ca. 200 €) ihre weiblichen Tiere untersuchen zu lassen, jetzt können die deutschen Milchviehhalter auch Jungbullen mit genomischem Zuchtwert einsetzen.


Die Vorteile der genomischen Selektion sind klar: Schnellerer Zuchtfortschritt durch ein kürzeres Generationsintervall, höhere Sicherheiten der Zuchtwerte bei jungen Bullen im Vergleich zu früheren Testbullen (Übersicht 1) sowie gezieltere Suche von potenziellen Bullenmüttern.


Zudem können die Zuchtorganisationen nun deutlich mehr Bullen vorab testen. Waren es bislang rund 1 000 Bullen, die jährlich getestet wurden, rechnet das Rechenzentrum vit in Verden damit, dass die deutschen Besamungsstationen in diesem Jahr schon 10 000 männliche Kälber genomisch testen werden. Allein die Rinder-Union West (RUW) wird pro Jahr ca. 1 000 männliche Kälber genomisch testen.


Dass jetzt auch die Züchter und Milchviehhalter hierzulande profitieren, hat erst der Zusammenschluss der europäischen Zuchtverbände aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Skandinavien unter dem Namen EuroGenomics möglich gemacht. Durch den Zusammenschluss hat sich die Lernstichprobe (Kontrollgruppe von Bullen mit genomischem Zuchtwert) für Deutschland auf 17 000 Bullen erhöht. Die genomischen Zuchtwerte sind so deutlich sicherer geworden.


Haar- oder Blutproben


Um den genomischen Zuchtwert zu ermitteln, wird genetisches Material (Blut, Gewebe, Haare) der potenziellen Vererber untersucht. Die DNA des Bullen wird einer „Rasterfahndung“ unterzogen. Nach der Untersuchung errechnet das Rechenzentrum vit in Verden mit Hilfe einer Lernstichprobe und den Daten, die ein Chip abgelesen hat, den Zuchtwert des jeweiligen Tieres (s. top agrar 3/2009 R 20).


Die Listen mit den genomischen Jungbullen werden künftig jeden zweiten Dienstag im Monat aktualisiert. Bei den nachkommengeprüften Bullen bleibt es dagegen bei den drei gewohnten Schätzterminen pro Jahr. „Eine kombinierte Liste von genomischen Vererbern und nachkommengeprüften gibt es vorerst nicht. Es werden zunächst zwei Listen veröffentlicht“, so das Rechenzentrum vit in Verden.


Bullenmütter-Prüfung ist Geschichte


Für die Zuchtorganisationen hat die „genomische Revolution“ aber nicht erst jetzt begonnen. Sie nutzen das Instrument genomischer Zuchtwerte bereits seit einem Jahr zur Vorselektion neuer Vererber und zur Kontrolle der bereits aufgestallten Test- und Wartebullen, mit weitreichenden Veränderungen der Zuchtprogramme.


So haben z. B. die Masterrind, die Weser­EmsUnion (WEU) und die Rinderzucht Schleswig-Holstein (RSH) ihre konven-tionellen Testbullenprogramme bereits eingestellt. „Testbullen im ursprüngli-chen Sinn gibt es nicht mehr. Alle Bullen, auch Jungbullen, haben jetzt einen Zuchtwert. Dementsprechend werden auch die Jungbullen als einzelne Vererber vermarktet“, sagt Dr. Josef Pott von der WEU.


Aber nicht alle Stationen gehen mit so klarer Linie voran. Die RUW will beispielsweise den konventionellen Testeinsatz in abgespeckter Form weiterführen: „Einzelbullen können sich auch bei der genomischen Selektion weiterhin nach oben wie unten absetzen. Entscheidend ist nicht nur ein hoher genomischer RZG, sondern auch das Pedigree spielt bei uns immer noch eine Rolle. Sonst hätten wir einen Bullen wie Gibor nie entdeckt“, gibt Dr. Jürgen Hartmann von der RUW zu Bedenken. Gibor hatte in den letzten Jahren die Einsatzlisten beherrscht, vor allem aufgrund seiner guten Fitness-Vererbung.


Vorerst weiterführen wollen den Test-einsatz auch die OHG und der Verein Ostfriesischer Stammviehzüchter (VOST).


Wartebullen geschlachtet


Deutlich dezimiert haben die Stationen auch ihre Wartebullenbestände. Denn nach der genomischen Untersuchung konnte man sich von potenziellen „Nieten“ schneller trennen, heißt es. Während es bei der RUW lediglich 15 % der Bullen waren, sollen andere Stationen wie die RSH oder Masterrind ihren Bestand gleich um 30 bis 50 % reduziert haben (Übersicht 2).


Ähnliche Rückgänge werden auch bei den künftigen Bullenankäufen erwartet. Die RSH kündigte an, statt ca. 90 schwarz- und rotbunter Jungbullen künftig nur noch 55 Bullen pro Jahr aufstallen zu wollen, die RUW 100 statt 130. Die Organisationen selektieren also schärfer.


Wurden vor der genomischen Selektion oft alle potenziellen Bullen aus einer Anpaarung angekauft, sind es heute nur noch Bullen mit den vielversprechendsten Zuchtwerten. Manch ein Bullenzüchter geht jetzt sogar leer aus, da trotz guter Abstammung kein Bullenkalb die gewünschten genomischen Zuchtwerte erreicht. Die Selektionsschärfe liegt verbreitet bei 1 von 10 männlichen Kälbern z. T. noch darüber. So lässt sich der Zuchtfortschritt gegenüber einem klassischen Zuchtprogramm um mehr als 30 % steigern (Übers. 3).


Der Vorteil für die Zuchtorganisationen liegt auf der Hand. Die Gefahr, wie früher die „Katze im Sack“ zu kaufen, ist sehr gering, da das Potenzial des Bullen durch die genomische Selektion schneller erkannt wird. „Mittelfristig werden wir die daraus resultierenden Überkapazitäten in der Bullenhaltung abbauen und Kosten sparen“, so Dr. Josef Pott, WEU.


Einsparungen erhofft sich auch die OHG. Sie beendet die Bullenmütter-Prüfung im September. Das eingesparte Geld will Geschäftsführer Hans-Willi Warder aber in die Ausweitung der Typisierung von wertvollen Bullenkälbern stecken. Ein ähnliches Schicksal droht der Bullenmütter-Prüfung der Nordost-Genetik in Karkendamm.


Erst „Bullen-Flut“, dann „Bullen-Ebbe“


Und noch eine Änderung beschäftigt die Stationen. Mit der Einführung der „Genomics“ ist das Angebot an Vererbern mit offiziellen Zuchtwerten deutlich größer geworden. Denn alle bisherigen Wartebullen der Jahrgänge 2006 bis 2008 haben jetzt einen Zuchtwert. Viele Zuchtexperten sprechen daher auch von einem „Bullen-Tsunami“ in der Holstein-Zucht.


„Die Herausforderung, jetzt die richtigen Bullen aus der Masse an Vererbern auszuwählen, ist riesig“, so Dr. Alfred Weidele, Rinderunion Baden-Württemberg.


Auf den ersten Blick profitieren die Milchviehhalter: das Angebot wird deutlich breiter, hochwertiger und sicherer. Aber das täuscht, warnen schon die ersten aus der Zuchtszene. Schließlich werden in einem Jahr annähernd vier Bullenjahrgänge „verheizt“. Die Vererber, die ursprünglich erst 2011 oder 2012 auf dem Markt wären, werden jetzt schon angeboten.


Da zudem aufgrund der schärferen Selektion noch deutlich weniger Jungbullen aufgestallt werden, könnte 2011 die große „Ebbe“ kommen. Neue gute Bullen würden dann knapp, befürchten Insider.


Ein weiteres Problem ist, dass die Zuchtorganisationen gar nicht absehen können, in welchen Mengen die Jungbullen eingesetzt werden. Die Einschätzungen der Organisationen liegen zwischen 20 und 30 % aller Besamungen. Doch blickt man in die USA, so erreichen die genomischen Jungbullen inzwischen Einsatzraten von 50 % und mehr.


Für Dr. Hartmann, RUW, wäre dies nur schwer vorstellbar. „Unsere Landwirte haben jahrelang auf sichere Wiedereinsatzbullen wie Gibor oder Carmano gesetzt. Ich glaube kaum, dass sie jetzt zu Roulette-Bauern werden, die hauptsächlich auf genomisch getestete Jungbullen setzen.“


Diese Meinung teilt auch Dr. Dettmar Frese von der Masterrind, der den Milchviehhaltern empfiehlt, einen Mix aus 30 % genomischer Jungbullen und 70 % nachkommengeprüfter Bullen einzusetzen.


Kritik von Seiten einiger Organisationen gibt es auch an der Bullenauslese durch die genomische Selektion. Denn bislang schneiden besonders die Bullen gut ab, die viele Verwandte mit hohem Zuchtwert in der Lernstichprobe haben, wie z. B. Söhne und Enkel von Shottle, Goldwyn, Bolton oder O-Man.


„Wir sehen ganz klar die Gefahr, dass Outcross-Bullen eher die hoch gesteckten Zuchtwertziele nicht erreichen und so gar nicht zum Einsatz kommen,“ sagt Dr. Hartmann. Die Folge: Steigende Inzuchtgefahr. „Wir müssen daher das Angebot an genomischen Jungbullen breit aufstellen.“


Für ihn liegt die Verantwortung bei den Zuchtorganisationen dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Ansonsten sei es klar, dass die Landwirte auf die hohen Zuchtwert-Bullen fliegen und damit die Verengung der Blutlinien vorantreiben.


Töchterprüfung bleibt wichtig


Nicht endgültig beantworten lässt sich auch die Frage, ob sich die gZW in ein paar Jahren voll bestätigen oder, wie von einigen Züchtern befürchtet, überschätzt sind: „Es ist ganz klar, dass die Schätzformel für genomische Zuchtwerte ständig nachjustiert werden muss. Das war und ist bei der konventionellen Schätzformel doch auch der Fall und die genomische Schätzung ist noch eine relativ neue Technik“, macht Dr. Stefan Rensing vom vit klar. „Ob wir wirklich richtig liegen, werden wir wissen, wenn die jetzigen Jungbullen in ca. vier Jahren erstmals abgekalbte Töchter in der Nachkommenprüfung haben. Denn dann entscheidet sich, ob der Bulle die Zuchtwerte bei über 95 % Sicherheit bestätigt oder nicht“, so Rensing.


Entscheidend für das System genomischer Zuchtwerte ist die ständige Nachkommenprüfung vor allem über die Milchleistungsprüfung. „Denn ohne die harten Leistungsdaten der Töchter funk­tioniert das System auf Dauer nicht. Konkret: Wenn die Lernstichprobe nicht laufend durch aktuelle töchtergeprüfte Vererber ergänzt wird, verschleißt sie mit der Zeit und passt nicht mehr so gut zur aktutellen Population. Die Folge wären abnehmende Sicherheiten der genomischen Zuchtwerte“, so Rensing.


Für hitzige Diskussionen innerhalb der deutschen Verbände sorgt auch die Frage, ob die Nachzuchtbewertung vor allem der bereits geschlachteten Wartebullen noch durchgeführt werden soll. Einige Verbände wollen aus Kostengründen darauf verzichten.


Fazit


Die genomische Selektion sorgt für einen massiven Umbruch in der Zucht. Testbullenprogramme werden eingestellt bzw. abgespeckt, die Bullenmütterprüfung aufgegeben.


Der Milchviehhalter kann mit genomisch getesteten Bullen den Zuchtfortschritt in seiner Herde beschleunigen, denn die Jungbullen sind in ihrer Vererbung sicherer als die ursprünglichen Testbullen. Dennoch sollten nachkommengeprüfte Bullen erste Wahl sein.


Der Frust bei den Züchtern ist derzeit groß. Schließlich bricht mit dem Verkauf von männlichen Kälbern an die Stationen ein Teil des Einkommens weg. Wenn sich die Bezahlung für die wenigen verkäuflichen Kälber nicht bessert, dürfte so mancher Züchter resigniert das Handtuch werfen. Ansgar Leifker j

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