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Kälberverluste: Wo stehen wir, wo müssen wir hin?

In den vergangenen 20 Jahren hat sich in der Kälberaufzucht auf Milchviehbetrieben viel verbessert. Doch noch immer ziehen einzelne Betriebe den Schnitt nach unten. Das muss sich ändern.

Lesezeit: 9 Minuten

Die Kälbersterblichkeit auf Milchviehbetrieben steht in der Kritik – und das nicht erst seit gestern. Fakt ist: Der Anteil der Totgeburten und der Aufzuchtverluste liegt im Schnitt bei jeweils über 5 % der Kalbungen in Deutschland. Zugleich werden mit der Diskussion um den geringen Wert von Holstein-Bullenkälbern immer wieder pauschale Vorwürfe laut, kleine oder schwache Kälber würden vernachlässigt, da sie nichts wert seien.Doch lässt sich das wirklich so einfach zusammenfassen? Was hat sich in den vergangenen Jahren verbessert und woran müssen Milcherzeuger noch arbeiten, um die Kälbersterblichkeit auf ihren Betrieben zu senken?

Totgeburten: Luft nach oben

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Der Anteil der tot geborenen Kälber lag in Schleswig-Holstein im Prüfjahr 2017/18 bei 6,8 % bzw. 3,3 % (männl./ weibl.) aller Kalbungen. Die durchschnittliche Totgeburtenrate von Färsen und Kühen unterschied sich laut Zahlen des Landeskontrollverbandes (LKV) um etwa 2 bis 4 % (Übersicht 1). In Bayern liegt die Totgeburtenrate aktuell bei 4 %. In Niedersachsen sowie in Sachsen-Anhalt kamen im vergangenen Prüfjahr laut LKV im Schnitt 7 % der Kälber tot zur Welt.

Stichprobenartige Untersuchungen des Veterinäramtes Soest (Nordrhein-Westfalen) von bis zu 14 Tage alten Kälbern in der Tierkörpersammelstelle haben ergeben, dass von 308 untersuchten Kälbern mehr als die Hälfte tot geboren wurden, obwohl sie offensichtlich geburtsreif waren. Außerdem hatten von den 150 lebend geborenen Kälbern 24 % keine Biestmilch aufgenommen. Hier sieht Prof. Dr. Wilfried Hopp vom Veterinäramt in Soest erheblichen Handlungsbedarf.

Dr. Alexandra Koch vom Tiergesundheitsdienst der Tierseuchenkasse in Sachsen-Anhalt beobachtet in Bezug auf die Totgeburtenrate in vielen Milchviehbetrieben bereits deutliche Verbesserungen. Trotzdem gilt es, weiter an den Ursachen zu arbeiten und so die Zahl der tot geborenen Kälber deutlicher zu reduzieren (siehe Kasten). Um Gründe für die Verluste von Kälbern einzelbetrieblich zu klären, müssen genaue Zahlen vorliegen, unterschieden nach Totgeburten und Aufzuchtverlusten.

Sind die Daten eindeutig?

Diese Daten werden über zwei verschiedene Wege erfasst: Im Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere (HI-Tier) meldet der Tierhalter innerhalb von sieben Tagen die Geburt. Die Meldung einer Totgeburt in der Datenbank ist freiwillig, da diese keine Angabe im Rahmen der Viehverkehrsverordnung ist. Ist der Tierhalter kein LKV-Mitglied, kann er die Totgeburt nur melden, wenn er sein Benutzerprofil auf „LKV-Felder“ erweitert.

Das kritisiert Dr. Folkert Onken vom Deutschen Verband für Leistungs- und Qualitätsprüfung (DLQ), dem Dachverband der Landeskontrollverbände in Deutschland „Auch die Anzahl der Totgeburten sagt etwas über das Tierwohl auf einem Betrieb aus. HI-Tier setzt aber die Viehverkehrsverordnung im Sinne der Rückverfolgbarkeit um und berücksichtigt insofern nur lebend geborene Kälber“, so Onken.

Die Lücke in HI-Tier, die durch die nicht freiwillig abgegebene Meldung von tot geborenen Kälbern entsteht, können nur die LKVs schließen, indem sie fehlende Informationen über abgekalbte Kühe bei der Milchkontrolle abfragen. Es hängt also davon ab, wie genau der jeweilige LKV das erfragt. Hinzu kommt, dass etwa 15 % aller Betriebe nicht in der Milchleistungsprüfung (MLP) vertreten sind.

Aus Sicht eines LKV-Mitarbeiters sind die Angaben über die Anzahl tot geborener Kälber auch aus einem anderen Grund nicht ganz genau: „Landwirte können ein Kalb, das am dritten Lebenstag verendet und ohnehin noch nicht in HI-Tier gemeldet ist, der Einfachheit halber auch als Totgeburt melden.“

Aufzuchtverluste: Von fast Null bis mehr als 20 %

Auch die Daten zu den Verlusten in der Kälberaufzucht sind schwer vergleichbar. Denn bei der Darstellung der Sterblichkeit in der Aufzucht betrachten die LKVs unterschiedliche Zeiträume. In Bayern, wo mit rund 940 000 Kühen die meisten Tiere in Milchkontrolle stehen, verendeten im Prüfjahr 2017/18 3,1 % der weiblichen und 4,9 % der männlichen Kälber in der Aufzucht. Die Zahlen beziehen sich auf einen Zeitraum von sechs Wochen für weibliche Kälber und je nach Rasse von 14 bis 30 Tagen für Bullenkälber. In Schleswig-Holstein, wo wiederum ein anderer Zeitraum berücksichtigt wird, verendeten 5,9 % der weiblichen und 5,4 % der männlichen Kälber.

„In Sachsen-Anhalt lag die Verlustrate in der Aufzucht 2017 bei 5,5 %“, so Dr. Miriam Linder vom Tierschutzdienst des Landesamtes für Verbraucherschutz Sachsen-Anhalt. Dort gibt es seit 2014 ein landesweites Programm (Tiramisa) zur Risikoanalyse in Milchviehbetrieben auf Basis der Merzungs- und Verendungsraten aus HI-Tier. Eine Auswertung von Daten aus diesem Programm zeigt, dass rund die Hälfte der Betriebe Aufzuchtverluste von unter 5 % hat und weitere 30 % zwischen 5 und 10 % liegen. Etwa 3 % der Betriebe haben Verluste von mehr als 20 % (Übersicht 2).

Aufzucht: Schon viel passiert

Doch in den vergangenen Jahren hat sich in der Kälberaufzucht bereits viel getan, beschreibt Koch: „Die Beratung der Betriebe orientiert sich inzwischen mehr an den neuesten Erkenntnissen zu den Bedürfnissen von Kälbern – also viel Kolostrum und höhere Energieversorgung in den ersten Lebenswochen. Das wirkt sich positiv auf ihre Gesundheit aus.“ Die Menge der ersten Kolostrumgabe ist gestiegen und die Betriebe sparen nicht mehr an Zusammensetzung und Konzentration von Milchaustauschern. Auch die gefütterte Milchmenge liegt meist bei mindestens 8 l pro Tier und Tag und es gibt mehr Milchviehhalter, die ihre Kälber ad libitum füttern. „Früher waren Tageszunahmen von 600 g noch gut, heute liegt das Ziel in der Beratung zumindest bei 800 g/Tag“, so Koch.

Was sind die Gründe?

Bei amtlichen Vor-Ort-Kontrollen aufgrund einer hohen Kälbersterblichkeit geht es darum, zusätzlich zu der Kontrolle von Verstößen gegen das Tierschutzrecht, Lösungen zusammen mit dem Betriebsleiter und dem Hoftierarzt zu finden, erklärt Linder. „Die Ursachen sind unterschiedlich: Von Infektionskrankheiten, ausgelöst durch schlechte Kolostrumversorgung oder Hygiene im Abkalbestall, bis zu Mängeln bei der Haltung und Betreuung. Wichtig ist, jeden Landwirt individuell zu betrachten. Die Haltung in alten Stallbereichen kann auf einem Betrieb funktionieren und auf dem nächsten nicht“, so die Tierärztin.

„Unsere Landwirte sind keine Tierquäler, die meisten sind ständig interessiert, Abläufe noch weiter zu optimieren, um die Kälbergesundheit zu verbessern“, betont sie. Doch auch in guten Milchviehbetrieben könnten höhere Verluste, z. B. durch Abkalbespitzen oder personelle Engpässe, vorkommen. Zugleich gebe es aber auch Betriebe, die über einen langen Zeitraum 15 % der Kälber in der Aufzucht verlieren. Linder sieht dafür verschiedene Ursachen: Einige sind durch eine hohe Arbeitsbelastung überfordert oder sie haben schlecht qualifizierte Mitarbeiter. Das bestätigt auch Hopp: „Hohe Kälberverluste haben nichts mit schlechter Tierhaltung an sich zu tun, sondern häufig mit Überlastung. Wenn eine Person genug Zeit hat, sich intensiv um die Kälber zu kümmern, muss ein gesund geborenes Kalb nicht sterben.“ Linder beobachtet aber noch einen anderen Grund: „Einige Milchviehbetriebe haben sich schlicht an diese Situation gewöhnt, ihnen fehlt das Bewusstsein für die unnormal hohe Rate.“

Von den Guten lernen

Umso wichtiger ist es, dass den Landwirten Zahlen vorliegen, um sich mit anderen Betrieben zu messen. Für den Vergleich innerhalb des Bundeslandes stehen zusätzlich zu dem Programm in Sachsen-Anhalt auch in Baden-Württemberg (Q-Wohl) und in Bayern (Pro Gesund) Anwendungen zur Verfügung. Sie stellen die Verluste in Relation zum landesweiten Schnitt dar. Über HI-Tier kann jeder Milchviehhalter die Verlustraten in der Aufzucht in Relation zum Bundesschnitt einsehen, jedoch nicht die Totgeburtenrate.

Doch das Projekt Q-Check macht Hoffnung, dass diese Lücke bald geschlossen ist: Das Projekt stellt allen MLP-Betrieben in Deutschland ab Sommer 2020 Daten zur Eigenkontrolle in einheitlicher Form zur Verfügung. Ein Benchmarksystem ermöglicht zudem den Vergleich mit ähnlich strukturierten Betrieben.

Fraglich ist, ob der Vergleich allein ausreicht, um Milchviehbetriebe mit einer hohen Kälbersterblichkeit zu motivieren. Daran glaubt Hopp nicht: „Es kommt darauf an, was mit den Daten passiert. Wenn weniger gute Betriebe nicht gemaßregelt werden, ändert sich vermutlich nichts.“ Daher begrüßt er auch, dass die Rechtsgrundlage für routinemäßige Tierschutzkontrollen in Verarbeitungsbetrieben für Tierische Nebenprodukte geändert werden soll. Die Änderung des Bundesrechts soll stichprobenhafte Überprüfungen von Tierkadavern und die Rückverfolgung zu den Herkunftsbetrieben ermöglichen.

Nicht angreifbar machen

Das könnte auch die Diskussion um den Umgang mit Holstein-Bullenkälbern versachlichen. Kritiker werfen Milchviehhaltern vor, sie würden diese, besonders in Niedrigpreisphasen, vernachlässigen.

Das kann Heiner Haut, Ein- und Verkäufer beim Viehhandel Berghuis in Ibbenbüren (Nordrhein-Westfalen), nicht bestätigen:

Alle Kälber gut zu versorgen ist eine Lebenseinstellung und unabhängig von Preis oder Betriebsgröße.

So sieht es auch der Milcherzeuger Ulrich Westrup, der 595 Kühe in Bissendorf (Niedersachsen) hält. Auf seinem Betrieb erhält jedes Bullenkalb die gleiche Versorgung wie ein Kuhkalb: „Wir Landwirte dürfen uns nicht angreifbar machen, indem wir Kälber schlecht behandeln.“ Für ihn sei ein Kalb sozusagen ein nötiges Mittel zur Produktion, denn für die Milcherzeugung müssten Kühe nunmal kalben. „Und als Mitgeschöpfe behandeln wir die Kälber auch vernünftig“, so Westrup.

Mehr Kontrollen bringen aus seiner Sicht nichts, um das Tierwohl zu verbessern. Sinnvoller sei hingegen, wenn Problembetriebe ein Konzept mit ihrem Hoftierarzt erarbeiten müssten. Das zeige auch der Erfolg des Antibiotikamonitorings. Auch wirtschaftlich ist die Aufzucht gesunder Kälber für ihn sinnvoll: „Gesunde, kräftige Bullenkälber kann ich früh verkaufen. Und durch gesunde Kälber ist der Keimdruck im Betrieb insgesamt gering. So bleiben auch alle anderen Tiere fit.“

Diesen Beitrag finden Sie auch in der top agrar 6/2020 oder hier zum herunterladen.

So lassen sich Totgeburten vermeiden

Ursachen für Totgeburten sind selten fütterungs- oder infektionsbedingt, erklärt Dr. Alexandra Koch vom Tiergesundheitsdienst der Tierseuchenkasse Sachsen-Anhalt. Das heißt, eine geringe Vitalität des Kalbes, z. B. durch Selenmangel oder Infektionskrankheiten wie BVD ist selten der Grund. Eine Untersuchung zeigte, dass etwa 90 % der tot geborenen Kälber vor der Geburt noch lebten. Der bedeutendste Anteil ist also auf einen gestörten Geburtsablauf zurückzuführen, der die Vitalität und damit die Überlebensfähigkeit des Kalbes beeinträchtigt.



Ursachen sind:

Stress: Überbelegung oder Unruhe führen zu Stress. Dieser kann die Funktion der Bauchpresse hemmen. Färsen sind dafür anfälliger als Kühe.

Hypocalcämie: Eine ungeeignete Ration im Trockenstand, welche Hypocalcämie begünstigt, ist häufig Ursache für auffällig viele Totgeburten bei Mehrkalbskühen.

Missverhältnis zwischen Kuh und Kalb: Wenn die Jungviehaufzucht nicht auf eine gute Entwicklung von Rahmen und Kondition ausgelegt ist, kommt es häufiger zu einer höheren Totgeburtenrate bei Färsen. Das heißt, eine gute Energieversorgung der Kälber ist Grundvoraussetzung, damit diese später als Färsen früh und problemlos abkalben können. Auch Färsen die zum Kalben, z. B. durch eine lange Anfütterung, bereits zu fett sind, haben häufiger Probleme bei der Geburt.



Die intensive Geburtsüberwachung kann einen großen Teil dieser Kälberverluste durch gezieltes Eingreifen während der Geburt vermeiden. Sie ersetzt aber nicht eine bedarfsgerechte Fütterung in der Aufzucht bzw. im Trockenstand sowie eine stressarme Umgebung.

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