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topplus 50 Jahre top agrar

Milchproduktion im Wandel der Zeit

Vor 50 Jahren war es üblich, auf der Weide zu melken. Heute stehen in vielen Ställen bereits Melkroboter. Zukünftig wird es mehr Automatisierung und bessere Sensoren geben, sagen Experten.

Lesezeit: 9 Minuten

Seit 1972 gab es auf Milchvieh­betrieben viele (technische) Veränderungen. Betriebe sind größer und effizienter geworden. Oder sie gaben die Milchviehhaltung ganz auf. Im Beitrag geben ehemalige Tankwa­genfahrer, ein Milchkontrolleur, Melktechnikhersteller, Wissenschaftler und Landwirte einen Überblick über den Fortschritt der Melktechnik und ihre Zukunftsprognosen.

Milchwirtschaft: Ein Beispiel für ­Molkereifusionen

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„Im Nachbarort hat Hermann in den 70er-Jahren bei 43 Betrieben Milch abgeholt“, erinnert sich Ingeborg Schulte aus Lippstadt (Nordrhein-Westfalen). Heute steht dort keine einzige Milchkuh mehr. Ihr Mann (siehe Foto) übernahm im April 1972 das Milchwagengeschäft von seinem Vater. Für ihn ging es jeden Morgen um fünf Uhr raus zum Sammeln.

Die Milch brachte er zur nur wenige Kilometer entfernten und 1893 gegründeten Zentral-Molkerei in Geseke. Drei Lkw von drei Spediteuren lieferten die Milch dorthin. Einer von ihnen war auch Franz-Josef Gockel aus Geseke. Kühlungen waren damals noch nicht üblich. Das änderte sich aber Anfang der 70er-Jahre.

Wir sind jeden Betrieb täglich angefahren und haben die Milch aus Kannen gesaugt“, erinnert sich Geseke.

Die Geseker Molkerei fusionierte am 1. Januar 1973 mit der Hellweg-Molkerei Soest eG. Insgesamt schlossen sich der 1888 gegründeten Genossenschaft von 1962 bis 1979 14 Molkereien aus der Region an. Während die Zahl der Mitglieder und die Milchmenge entsprechend stieg (1972: 947 Mitglieder, 20 Mio. kg Milch, 10,3 Mio. DM Jahresumsatz; 1983: 1 167 Mitglieder, 60,2 Mio. kg Milch, 45 Mio. DM Jahresumsatz), waren die Zahlen 1987 bereits wieder gesunken. Schon damals gaben viele Betriebe die Milchviehhaltung auf, die Jahresmilchanlieferung hatte sich auf knapp 52 Mio. kg reduziert. Die Hellweg-Molkerei zählte noch 932 Milcherzeuger.

2004 erfolgte die Fusion mit Humana mit Sitz in Everswinkel. 2010 verschmolzen die operativen Einheiten von Nordmilch, deren Hauptsitz in Bremen lag und Humana Milchindustrie zum Deutschen Milchkontor (DMK). Das DMK ist heute Deutschlands größte Molkerei. 2021 zählte die Genossenschaft 5 200 Mitglieder, verarbeitete 6,3 Mrd. kg Milch und erwirtschaftete einen Jahresumsatz von 5,5 Mrd. €.

Die Milchtransporte Gockel und Schulte sind Geschichte. „Die Zeiten haben sich geändert“, resümieren sie. „Früher waren die Strecken kurz und es war nachmittags Feierabend. Zuletzt sind die Lkw nahezu rund um die Uhr gefahren, die Gebiete wurden immer größer und die Fahrten zu den Molkereien länger“, erinnern sie sich.

Milchpreisvergleich 1993

Im Jahr 1993 fasst der top agrar-­Redakteur Berthold Achler im Jah­resmilchpreisvergleich zusammen: „Geradezu atemberaubend ist der Strukturwandel in der deutschen Molkereiwirtschaft. Er hat sich in 1992 noch einmal beschleunigt.“ Rund 160 Molkereien bildete der Milchpreisvergleich damals ab. Spitzenreiter war die Molkerei Borken in Nordhessen mit 68,29 Pfennig/kg Milch. Zum Vergleich: 2022 waren im Jahresmilchpreisvergleich nur noch 62 Molkereien aufgeführt. Die Nase vorn hatten die Milchwerke Berchtesgaden mit 38,5 ct/kg Milch, der bundesweite Durchschnittspreis lag bei 36,1 ct/kg.

Während die Hellweg-Molkerei Soest im Jahr 1988 noch nahezu alle Produkte in der Region vermarktete, aus der die Milch stammte, zählen heute Größe, Effizienz und interna­tionaler Handel bei Milchverarbeitern. So eröffnete zum Beispiel jüngst Arla einen Milchpulvertrockenturm in Rheinland-Pfalz, um unter anderem afrikanische Länder mit Milchpulver aus Deutschland versorgen zu können. Es gibt aber auch noch klein strukturierte Molkereien mit regionalem Schwerpunkt. Doch oft ist es für sie deutlich schwerer, sich am Markt zu behaupten.

Fortschritte beim Melken

Hubertus Meilfes aus Geseke (NRW) bekommt den Strukturwandel hautnah mit. Seit 1988 ist er beim Landeskontrollverband Nordrhein-Westfalen (LKV NRW) als Leistungsprüfer, oder besser bekannt als Milchkontrolleur, tätig. Bis vor zwei Jahren melkte er morgens und abends vor der Kontrolle noch seine eigenen 20 Kühe im Anbindestall. „Am Ende musste ich oft um vier Uhr aufstehen, weil die Höfe immer früher anfingen zu melken“, nennt er einen Grund für die Aufgabe der Milchviehhaltung.

Mehr als die Hälfte der Betriebe melkten in seiner Anfangszeit beim LKV in Anbindehaltung. Heute sind es noch drei Betriebe in seinem Gebiet. In Bayern ist die Dichte der Anbindehaltungen größer, wie die Zahlen im Bericht zur Leistungsprüfung vom LKV Bayern aus dem Jahr 2021 zeigen: Stand Ende September des vergangenen Jahres gibt es dort noch mehr als 4 000 Betriebe (24 %), die ihre Kühe in ganzjähriger Anbindehaltung halten. Hinzu kommen 1 500 Höfe mit Kombinationshaltung. Die verbreitetste Stallform mit etwa 5 700 Betrieben (34 %) ist der Laufstall. Knapp 6 300 Betriebe (38 %) melken in Bayern im Fischgrätenmelkstand, rund 2 700 Höfe (16 %) automatisch. 2004 gab es 92 Höfe mit einem Melkroboter.

„Allein aufgrund des Fachkräftemangels wird es zukünftig auf das automatische Melken hinauslaufen“, ist Dr. Susanne Demba, Geschäftsführerin von Melk-FEE überzeugt. Die Expertin geht außerdem davon aus, dass in der Sensortechnik noch viel Potenzial steckt.

Milchkontrolle bleibt wichtig

Auch im Gebiet von Hubertus Meilfes gibt es immer mehr Roboterbetriebe. An der Arbeit als Milchkontrolleur hat sich nicht viel geändert. „Der Umgang mit der Milch ist wie früher. Geändert hat sich die Datenerfassung“, sagt er. Was er damals mit Zettel und Stift notierte, erfasst er heute mithilfe eines kleinen Computers und übermittelt die Daten direkt online ins Labor. Bei den Roboterbetrieben muss er die Milchproben abholen und nicht beim Melken dabei sein. Obwohl die modernen Melksysteme immer mehr Daten liefern, ist Hubertus Meilfes überzeugt, dass die Milchkontrolle wichtig bleibt: „Für die Zucht brauchen wir die Zahlen. Wer nicht an der Kontrolle teilnimmt, ist Trittbrettfahrer.“

1972: 8,7 Milchkühe pro Hof - 2022: 71,1 Milchkühe pro Hof
Statistisches Bundesamt

Dr. Günter Schlaiß von DeLaval sieht den Stand der Melktechnik noch längst nicht am Ende. Er schreibt 2019 in einem Tagungsband der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Milcherzeugerberater: „Ziel der weiteren Forschung und Entwicklung der Melktechnik muss sein, die Nutzungsdauer der Kühe zu verlängern. Sowohl aus ethischen als auch wirtschaftlichen Gründen.“

Reportage: Die Schritte werden kleiner

Familie Witte hat bereits mit vielen unterschiedlichen Melksystemen gemolken. Der Betrieb zeigt beispielhaft, wie sich die Milchproduktion seit dem Gründungsjahr von top agrar verändert hat.

Auf dem Hof Witte in Rheda-Wiedenbrück (NRW) sind vor wenigen Wochen zwei Melkroboter in den Kuhstall eingezogen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Roboter das Melken der Kühe von Familie Witte übernimmt.

Doch wir beginnen im Jahr 1972, dem Gründungsjahr von top agrar. Markus Witte war damals drei Jahre alt. „Wir hatten 20 Kühe in Anbindehaltung“, weiß er. 1973 investierte der Betrieb in einen Boxenlaufstall für 45 Kühe. Für damalige Verhältnisse war das ein großer Bestand. „Der Stall war dunkel, es gab nur kleine Fenster. Niemand würde heute so einen Kuhstall bauen“, ist sich der Milchviehhalter sicher. Heute ist von dem Gebäude nur noch eine Außenwand zu sehen.

Vom Melkstand zum Roboter

Fortan melkten Wittes in einem Westfalia Fischgräten-Melkstand mit vier Melkzeugen und Glaspokalen für die Milchmengenmessung. „1994 konnten wir einen Betrieb pachten und unseren Bestand auf 80 Kühe aufstocken. In dem Zug erweiterten wir den Melkstand zu einem Doppel-5er-Fischgräte in dem wir drei Jahre gemolken haben“, sagt Ehefrau Annette Witte. Danach zog der Leonardo 1 im Kuhstall ein – das erste automatische Melksystem (AMS) von Westfalia Separator.

„Der Roboter konnte drei Kühe gleichzeitig melken“, erklärt die Landwirtin. In die erste Box gingen die Kühe zum Reinigen der Zitzen. Zum Melken mussten sie anschließend in eine andere Box wechseln. „Wir hatten eine super Betreuung während des ersten Jahres“, erinnert sich das Ehepaar. Der Betrieb Witte war aufgrund der räumlichen Nähe zu Westfalia mit Sitz in Oelde Versuchsbetrieb.

Roboter der ersten Generation mit Tücken

Dennoch: Zufrieden waren sie mit der Technik nicht. „Die Kühe mussten um Ecken laufen, der Roboter hat täglich 200 kWh Strom verbraucht und kam nicht auf mehr als zwei Melkungen pro Kuh und Tag“, erinnert sich Markus Witte. Alarme wurden damals über eine Art Feuermelder übertragen. „Dieser sogenannte Pager kostete 1 € pro Meldung“, weiß der Landwirt noch. Schon damals stellte der Roboter eine große Menge an Daten zur Verfügung. „Für uns waren der Viertelleitwert und die Gesamtmilchmenge pro Kuh und Tag relevant“, erinnert sich Markus Witte. Die Daten lagen allerdings nicht in ausgewerteter Form vor. „Alles in allem war die Technik noch nicht ausgereift, Effizienz spielte noch keine Rolle. Auch wenn wir uns als Landwirte einbringen und Verbesserungstipps geben durften, entschieden wir uns gegen den Melkroboter“, fasst Annette Witte zusammen.

Nicht nur Familie Witte entschied sich gegen das automatische Melken: 2004 nahm auch Westfalia den Melkroboter Leonardo wieder vom Markt. top agrar berichtete damals: Die am Markt angebotenen Roboter seien zwar praxisreif, jedoch müssen die Ansetzvorgänge und Leerzeiten noch verkürzt werden. Zudem würden sehr schmutzige Euter nur unzureichend gereinigt und über Kreuz stehende Zitzen nur schwer gefunden. Auch die Überwachung der Eutergesundheit und der Milchqualität sei bei allen Systemen nur unzureichend gelöst. Und die Datenflut, welche die AMS lieferten, sei nur schwer überblickbar.

Vom AMS zum Melkkarussell

Familie Witte wechselte 2004 zurück zur konventionellen Melktechnik und investierte in einen 24-er Innenmelker. Die Herde stockten sie in dem Zuge auf 120 Kühe auf. „Für uns ist das Thema Arbeitszeit ein großer Faktor“, erklärt Annette Witte die Entscheidung zum Melkkarussell. Denn zum Betrieb gehören nicht nur die Milchkühe, sondern seit 1978 auch Puten (heute 19.500), seit 1999 eine 560 kW-Biogasanlage sowie 110 ha Außenwirtschaft. „Beim Karussell waren wir immer zu zweit beim Melken“, erklärt Sohn Patrick. Eine Person war im Stall zum Kühe treiben und Boxen reinigen, die zweite Person war im Melkstand. Mit Reinigungszeit dauerte das Melken anderthalb bis zwei Stunden.

Vom Karussell zurück zum Roboter

Gemeinsam mit seinen Eltern entschied der 31-Jährige, die Melktechnik auf automatisches Melken umzustellen. „Wir haben die Kosten einer Erneuerung des Karussells den Investitionskosten für Melkroboter gegenübergestellt“, erklärt der gelernte Elektriker und Landwirt. Aber auch der Faktor Arbeitszeit spielte eine Rolle. „Wer weiß, wie sich die Personalsituation zukünftig entwickelt“, sagt Markus Witte.

Die Familie schätzt die ausgewerteten Daten, die ihnen das Managementprogramm von Lely zur Verfügung stellt. Sie haben sich für das rote Melksystem entschieden, da ihnen die Roboter und die Managementplattform am besten gefielen. Momentan liegt die Tagesleistung bei 31 l/Kuh. Aktuell kommt der Roboter auf 2,7 bis 2,8 Melkungen pro Kuh und Tag. Die Werte sollen sich verbessern, wenn die Roboter an ihrem endgültigen Platz stehen. „Die Technik von heute ist kein Vergleich zu früher“, ist sich das Ehepaar einig.

In 50 Jahren hat sich viel getan auf dem Betrieb Witte. Wie sieht wohl die Melktechnik der Zukunft aus? „Ich glaube, die Schritte sind nicht mehr so groß wie damals“, sagt Markus Witte. Der Betriebsleiter geht davon aus, dass es zukünftig weiter darum geht, die Effizienz zu steigern und Energie zu sparen. „Das Melken wird aber nicht mehr neu erfunden“, ist er sicher. Davon geht auch Sohn Patrick aus. Seine Zukunft kann er sich ohne Kühe nicht vorstellen. Aufstocken kommt für ihn aber nicht infrage. Vielmehr will er die Tiergesundheit seiner 120 Kühe weiter verbessern. Er sagt: „Spannend bleibt, was Politik und Gesellschaft von uns Landwirten in Zukunft erwarten.“

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