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Pressegespräch

Riesige Schäden durch Nonnengänse und kein politischer Wille

Die Bestände der Nonnengans nehmen in Schleswig-Holstein immer weiter zu. Die Bauern beklagen teilweise Totalverluste. Die EU erlaubt Jagd und Entschädigungen, das Land sperrt sich jedoch.

Lesezeit: 9 Minuten

Naturschutz kontra Landwirtschaft: Wie fast nirgendwo sonst in Deutschland zeigt sich dieser Konflikt so deutlich und mit so großen Folgen für hunderte Bauern wie in Norddeutschland. Hier breitet sich die weitgehend geschützte Nonnengans massiv aus. Sind die Rastvögel aus Osteuropa früher im Winter weiter Richtung Atlantik geflogen, bleiben sie inzwischen an den Küsten, insbesondere in Schleswig-Holstein.

Die Bauern fühlen sich allein gelassen mit den großen Schäden durch das sehr tiefe Abgrasen, die Verkotung und die lange Verweildauer der Tiere bis weit in den Frühling hinein. Der Bauernverband SH hatte daher am Freitag zu einem virtuellen Pressetermin geladen, bei dem neben dem Verbandspräsidium u.a. Landwirt Melf Melfsen, der CDU-Europaabgeordnete Niclas Herbst und der CDU-Landtagsabgeordnete Klaus Jensen teilnahmen. Die Bundestagsabgeordnete Astrid Damerow entschuldigte sich kurzfristig wegen einer parallel noch laufenden Debatte.

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Praktikerbericht:

Melf Melfsen, Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Husum-Eiderstedt, berichtete, dass er auf seinen Zweitbetrieb an der Küste bei Bongsiel auf 45 ha nun gar kein Getreide mehr anbauen könne. Und auch das jetzt gesäte Grünland würden die Tiere so tief abgrasen, dass sich die Pflanzen nur schwer berappeln. Der erste Schnitt bringe nur noch 50 % des möglichen Ertrags. "Die Geduld der Bauern ist schon lange weg", sagt Melfsen. Auch die Ausbreitung der Vogelgrippe sieht er durch die Massen an Rastvögeln beschleunigt. Er wünscht sich mehr Engagement von der CDU.

Schwarz: Jedes Jahr kommen 10 % Gänse dazu

Verbandspräsident Werner Schwarz verdeutlichte die Herausforderung für den Artenschutz, bei dem es nun um ein Reduktionskozept gehen müsse. Inzwischen gebe es weit mehr Nonnengänse an der Westküste Schleswig-Holsteins als Naturschutz und Politik als günstigen Erhaltungszustand definiert hatten.

„Die Nonnengans hatte im April 2018 einen Maximalbestand von 255.000 Tieren. Der Bestand wird vom MELUND mit einer jährlichen Zuwachsrate von 10 % angegeben. Demnach sind Bestandszahlen im Jahre 2020 von ~300.000 Tieren anzunehmen“, warnte Schwarz.

Ein großer Fehler sei, dass die wichtigen Zählungen der Naturschützer in den Monaten Januar und Juli stattfinden, jedoch seien der November und Dezember sowie April und Mai die für die Landwirtschaft entscheidenden Bestandszahlen, da hier die Schäden und die höchsten Gänsezahlen auftreten.

Weiter berichtete der Landwirt vor den zugeschalteten Journalisten, dass sich die Rastzeiten der Gänse drastisch verlängert hätten, von Anfang Oktober bis Ende Mai. „Das entspricht 7 bis 8 Monaten Rastzeit mit teils hohe Gänsezahlen von mehreren tausend Tieren auf der Fläche. Die Gänse ziehen vielfach nicht mehr weiter südlich. Die vornehmlich betroffenen Gebiete sind die Westküste, Pinneberg, Steinburg und Fehmarn“, so Schwarz.

Die Bewirtschafter fordern, die Bestandszahlen der Gänse zu reduzieren und eine wirksamere Bejagung; die Naturschützer sprechen hingegen von „Vogelmord“. Laut Schwarz spricht populationsökologisch nichts gegen eine jagdliche Nutzung der jährlich wachsenden Bestände. „Der günstige Erhaltungszustand der Gänsepopulation ist gesichert. AEWA gibt einen günstigen Erhaltungszustand der russisch-niederländisch-deutschen Nonnengans-Gesamtpopulation mit 380.000 Individuen an. Für Deutschland liegt der günstige Erhaltungszustand bei 83.471 Individuen. Die Regulierung der Bestände zum Schutz der Landwirtschaft ist von daher zulässig, notwendig und geboten“, sagte Schwarz.

Der Bauernverband hatte unter seinen Mitgliedern in den Jahren 2014 und 2016 eigene Erhebungen zu den Fraßschäden durch Gänse durchgeführt. Dabei war es im Durchschnitt auf 18.000 ha landwirtschaftlicher Fläche zu Fraßschäden auf Grünland und Ackerkulturen durch Gänse gekommen. Die monetären Verluste auf den betroffenen Betrieben können jährlich auf gut 8,0 Mio. € beziffert werden.

Provokation:

Der Verein Jordsand hat die Nonnengans zum "Seevogel des Jahres 2021" gekürt. Schwarz wertet das als bewusste Provokation, auch weil der Verein in diesem Zusammenhang Ratschläge erteilt, wie Bauern ihre Flächen bewirtschaften sollen.

Der Bauernverband bedauert, dass das MELUND nur prüfen wolle, inwieweit entbürokratisierende Erleichterungen bei den Anträgen zu Abschussanordnungen nach §27 BJG möglich seien, schilderte Schwarz weiter. Eine Änderung der Jagd- und Schonzeiten mit einer Verlängerung mindestens auf den 31.01. oder die Festlegung einer „entnehmbaren Individuenzahlen“ – entsprechend der 10 % jährlichen Zuwachsrate sei nach Ansicht des MELUND aber nicht möglich, da die rechtlichen Möglichkeiten nach Auffassung des MELUND durch die aktuellen Regelungen ausgeschöpft sind.

Rechtliche Möglichkeiten

Die Nonnengans genießt nach EU-Vogelschutzrichtlinie (VS-RL) grundsätzlich einen hohen Schutzstatus. Als „Kehrseite der Medaille“ besteht zugleich eine weitreichende Ausnahmeregelung, wonach die Bestandsreduktion der Gänse zur Abwehr erheblicher landwirtschaftlicher Schäden zulässig ist.

Die Landesregierung kann nach deutschem Naturschutzrecht allgemeine Ausnahmen von den Artenschutzverboten durch Rechtsverordnung zulassen, erinnert der Bauernverband. Damit stünde ihnen ein effektives Instrument zur Verfügung, um alle geeigneten Maßnahmen von der Bestandsreduktion, über Mittel zur Schadensabwehr bis hin zu finanziellen Ausgleichsmechanismen in einem ausgewogenen Gesamtkonzept zu regeln.

„Das MELUND vertritt jedoch die Auffassung, dass einer Ausweitung von jagdlichen Entnahmen das geltende EU- bzw. Bundesrecht entgegenstehe, insbesondere dass eine weitergehende Bestandsregulierung mit den Schutzvorschriften der VS-RL per se unvereinbar sei“, so Schwarz.

Er verweist in diesem Zusammenhang aber auf das Management in den Niederlanden und Dänemark. In der EU würden derzeit ungefähr 50.000 - 60.000 Nonnengänse geschossen. Hiervon fänden allein 88 % der Entnahmen in den Niederlanden und Dänemark (NL ~35.000 Gänse, DK ~16.000 Gänse, SH ~2.000 Gänse) statt, obwohl für alle das gleiche EU-Artenschutzrecht gilt, zeigt sich Schwarz verwundert über die Argumentation aus Kiel.

Niclas Herbst hat nachgefragt

Zur Klärung dieser auseinandergehenden Argumentation hatte der Europaabgeordnete Niclas Herbst mittels parlamentarischer Anfrage bei der EU-Kommission nachgefragt. Ziel war es u.a., eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ab welcher Populationsuntergrenze bei der Nonnengans vom Erreichen eines günstigen Erhaltungszustands auszugehen ist. Kurz gesagt: Artikel 9 und 13 der Vogelschutzrichtlinie erlauben den Ländern Ausnahmen, wenn die Tiere Schäden anrichten und der Erhaltungszustand nicht gefährdet ist. Die Dokumente finden Sie hier:

"Die Politik versteckt sich leider viel zu oft hinter der EU. In Schleswig-Holstein ist der politische Wille das Problem, nicht die EU", so Herbst am Freitag. Insbesondere stelle Brüssel klar:

  • Es fällt in den Aufgabenbereich der zuständigen Landesbehörden, die Gewährung einer Ausnahme und der hierbei zu beachtenden artenschutzrechtlichen Vorgaben umzusetzen.



  • Die maßgebliche Bestandsgröße für einen günstigen Erhaltungszustands ist der im Rahmen des Abkommens zur Erhaltung der afrikanisch-eurasischen wandernden Wasservögel (AEWA) für die Nonnengans einvernehmlich festgelegte Referenzwert.

Dass in SH die „auf dem Tisch“ liegenden Handlungsoptionen und Spielräume bisher nicht zielführend wahrgenommen wurden, sieht auch der Bauernverband als Zeichen fehlenden politischen Umsetzungswillens. Da der günstige Erhaltungszustand der Nonnenganspopulation gesichert ist, sei eine Regulierung der Bestände zum Schutz der Landwirtschaft rechtlich zulässig, notwendig und geboten.

"Bauern denken von den Schäden her, das Ministerium sieht dagegen immer nur den Gesamtbestand", machte Schwarz das Dilemma deutlich. Und ein Großteil der Population grast eben in Schleswig-Holstein.

Konzeptentwürfe für Ausgleichsregelungen

Entschädigungen sind aus Sicht des Bauernverbandes gegenüber der Schadensvermeidung nachrangig, aber gleichwohl geboten, um die Aufgabe von Betrieben zu vermeiden. Dazu sei ein einfaches Verfahren zum vollen Ersatz der Gänsefraßschäden vorzusehen.

"Die Vorschläge des Kieler Umweltministeriums sind zu restriktiv und zu kompliziert. Insbesondere sind keine Vorbedingungen zu stellen hinsichtlich Gebietskulisse, Vergrämung und bereitzustellender Duldungsflächen oder der Bedingungen zum verpflichtenden Anbau von Sommerungen in einem bestimmten Prozentsatz des Betriebsdurchschnitts", kritisiert der Bauernverband.

Die Schäden würden inzwischen nicht nur räumlich begrenzt auftreten. Auch eine Vergrämung finde statt, bleibe aber wirkungslos und zeige, dass das Konzept der Duldungsflächen schon jetzt nicht funktioniert, schilderte Schwarz.

Zur Abmilderung der Gänseproblematik fordert er ein angepasstes Gänsemanagement, das in einem Gesamtkonzept einen Ausgleich der gegenläufigen Interessen bewirkt, und nicht die Landwirtschaft einseitig belastet:

  • Auf der einen Seite steht der Schutz der Wildgänse durch Ruhe und Duldung auf Naturschutzflächen, Deich und Vorländereien, Vertragsnaturschutzflächen, abgeernteten sowie sonstigen Flächen.



  • Andererseits muss den Belangen der Landwirtschaft hinsichtlich der Abwehr von Wildschäden durch gezielte Bejagung/Störung auf gefährdeten Ackerflächen Rechnung getragen werden.



  • Ziel muss es flankierend sein, die Attraktivität auf landeseigenen Flächen, (Vertrags)Naturschutz- bzw. Stiftungsflächen als Duldungs-, Fraß- und Ruheflächen zu schaffen und zu erhöhen. Gleichzeitig müssen die Gänse von allen landwirtschaftlich genutzten Flächen ferngehalten werden.

Entschädigungskonzepte

Nach wie vor liegen vonseiten des MELUND drei nicht abschließend konkretisierte Konzept-Entwürfe zum zukünftigen Ausgleich von Gänsefraßschäden vor, wobei das MELUND seit geraumer Zeit versucht zu klären, ob eine Finanzierung von Ausgleichszahlungen für Nonnengans-Fraßschäden auch aus Haushaltsmitteln erfolgen kann, berichtete Schwarz weiter.

Bei dem Entwurf vom 30.01.2019 für EU-kofinanzierte Ausgleichszahlungen kommt ein Ausgleich innerhalb einer vorgegebenen Gänserastkulisse nur in Betracht, wenn der Begünstigte zuvor Vorsorgemaßnahmen getroffen hat (Gänseduldung auf 6 % der Betriebsflächen). Die ausschließlich auf Nonnengänse beschränkte Ausgleichszahlung erfolgt auf Nachweis bei Grünland bis max. 450 €/ha Grünland und auf Ackerland bis 600 €/ha.

Beim Vertragsnaturschutz-Konzept vom 25.09.2020 soll weiterhin eine Gänserastkulisse bestehen bleiben mit der Bereitstellung von Duldungsflächen für Gänse. Es ist eine Neuentwicklung von Vertragsnaturschutz-Mustern auf Grünland vorgesehen. Für das bestehende Muster „Rastplatz wandernde Vogelarten“ auf Ackerflächen ist eine Anpassung hin zum Anbau von mehr Sommerungen vorgesehen. Die Ausgleichszahlungen auf Grünland sollen bei vollständigem Verlust des ersten Schnitts 350 €/ha, bei teilweisem Verlust 175,- €/ha betragen. Auf Ackerflächen soll ein Ausgleich von 360 €/ha gezahlt werden.

Die dritte Konzept-Idee vom 25.09.2020 ist eine Kombination, bei der sowohl das VNS-Angebot in Anspruch genommen werden kann, als auch einmalig Ausgleichszahlungen auf der Grundlage von nachgewiesenen Schäden geleistet werden. Die Zahlungen für Schäden an Winterkulturen können nur einmalig höher ausfallen als die Zahlungen, die im Rahmen der VNS Angebote geleistet werden. Danach wird die Ausgleichszahlung auf 360 €/ha für diese Fläche begrenzt oder der Landwirt nimmt den Vertragsnaturschutz in Anspruch. Ertragseinbußen von Sommerungen werden dauerhaft in der Höhe von 80 % ausgeglichen.

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