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Neuer Leitfaden zum „Vierten Weg“

Lesezeit: 6 Minuten

Die deutschen Schweinehalter können auf die Lokalanästhesie als Alternative zur betäubungslosen Kastration nicht verzichten. Wie sich das Verfahren in der Praxis umsetzen ließe, zeigt ein neuer Leitfaden des Schweinegesundheitsdienstes Niedersachsen.


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Warum ist der „4. Weg“, die Lokalanästhesie aus Ihrer Sicht so wichtig?


Delbeck: Die drei bisher anwendbaren Verfahren Ebermast, Improvac-Behandlung und Injektionsnarkose werden bis zum Jahresende 2018 nicht so etabliert werden können, dass sie flächendeckend für alle Schweinehalter eine Alternative darstellen. Zudem weisen alle Verfahren auch noch erhebliche Schwächen auf.


Bei der Ebermast besteht z.B. die Gefahr von Penisbeißen und Klauenverletzungen. Dazu gibt es noch keine in der Schlacht- und Fleischbeschau definierten Befunderhebungen. Zudem werden am Schlachtband nur hochgradig geruchsauffällige Tiere amtlich befundet und bei Bestätigung durch weiterführende Untersuchung als untauglich bewertet. Und auch bei der Improvac-Behandlung haben wir keine amtlich belastbaren Zahlen, ob die Geruchsausschaltung tatsächlich 100%-ig funktioniert.


Die Vollnarkose per Injektion verursacht 3 bis 4% höhere Ferkelverluste. Außerdem dürfen Vollnarkoseverfahren nur durch den Tierarzt angewendet werden, und das ist aufgrund des Tierärztemangels in der Praxis gar nicht umsetzbar.


Daher halte ich die lokale Betäubung für unverzichtbar. Wir brauchen alle vier, bzw. mit Isofluran alle fünf Verfahren, um den Landwirten am 1. Januar 2019 eine breite Auswahlmöglichkeit zu bieten. Wir sollten kein Verfahren voreilig ausklammern. Der Landwirt sollte individuell das zu seinem Betrieb am besten passende Verfahren auswählen können.


Für die lokale Betäubung empfehlen Sie ein neues, bei uns erst seit kurzem erhältliches Anästhetikum. Welche Vorteile bietet es?


Delbeck: Es handelt sich um eine neue Formulierung des bekannten Procain. Durch den Zusatz von Epinephrin als sogenannten Sperrkörper soll es noch schneller und langanhaltender wirken. Reines Procain wirkt erst nach rund ​35 Minuten, das Procain mit Epinephrin nach 5 bis 10 Minuten. Die Wirkdauer beträgt nach Herstellerangaben bis zu 60 Minuten.


Ein weiterer wichtiger Vorteil ist, dass man mit dem neuen Narkosemittel eine Perineuralanästhesie durchführen kann, also die örtliche Betäubung des umliegenden Nervengewebes. Es muss nicht, wie bei der Infiltrationsnarkose erforderlich, zweimal in den Hodensack und in die Leistengegend injiziert werden.


Könnte man daher auf das Lidocain, das ja noch nicht für die Anwendung beim Schwein zugelassen ist, verzichten?


Delbeck: Nein, langfristig sollten wir schon eine Zulassung des Lidocain anstreben, da Lidocain eine noch stärkere Wirkung am Zielort erreicht. Procain wäre jedoch eine sehr gute Übergangslösung, denn die Zulassung des Lido-cains kann bis zu zwei Jahre und länger in Anspruch nehmen. Zudem muss erst einmal ein Hersteller bereit sein, die teure Zulassungserweiterung zu beantragen. Aber solange Politik und Wissenschaft keine Signale aussenden, dass die lokale Betäubung zur Kastration eine reelle Chance hat, wird sich dazu niemand bereit erklären.


Auch bei der Verabreichung des Lokal-​anästhetikums gehen Sie ganz neue Wege. Was empfehlen Sie?


Delbeck: Zurzeit wird eine subkutane Verabreichung mit einem Druckluft-Injektor diskutiert (persönliche Mitteilung Götz 2018, unveröffentlicht). Hier wird eine sehr geringe Menge (0,2 ml) des Narkosemittels ins Nervengeflecht oberhalb des Hodensacks verabreicht. Dies soll mehrere Vorteile bieten: Erstens ist die Druckluftverabreichung weniger schmerzhaft fürs Ferkel. Zweitens wirkt die Perineuralanästhesie direkt am Nervengeflecht, das den bzw. die Hoden nervlich versorgt, wesentlich schneller. Drittens sind keine bzw. weniger Einstiche erforderlich, nur ein zweimaliges Ansetzen des Injektors rechts und links der oben genannten Stelle. Viertens ist die verabreichte Menge und damit die Gefahr einer Reizung des umliegenden Gewebes viel geringer. Und fünftens könnte die Verabreichung des Mittels dank einer vollautomatischen Zähleinrichtung im Gerät viel besser überwacht werden. Diese Punkte müssen dringend in die laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen mit aufgenommen werden. Wir haben keine Zeit mehr zu verschenken!


Muss der Tierarzt die lokale Betäubung durchführen, oder darf das auch der Landwirt selbst tun?


Delbeck: Narkosemittel dürfen nur vom Tierarzt angewendet werden. Es gilt der sogenannte Tierärztevorbehalt. Im Tierschutzgesetz gibt es in § 5 Absatz 1 jedoch eine Einschränkung. Vom Tierärztevorbehalt kann abgewichen werden, wenn die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit des Tieres durch die Narkose nicht beeinträchtigt werden. Und das ist bei der Lokalanästhesie ja der Fall. Hier wird nur das lokale Schmerzempfinden vermindert, nicht aber die gesamte Wahrnehmung ausgeschaltet.


Wenn das Arzneimittel für den jeweiligen Zweck zugelassen ist, kann das Bundesministerium mit Zustimmung des Bundesrates Bedingungen formulieren, unter denen eine Durchführung der Kastration unter Betäubung auch durch Dritte möglich ist.


Die Forderung, die Betäubungen zur Kastration allein vom Tierarzt ausführen zu lassen, ist in der täglichen Praxis gar nicht umsetzbar. Denn erstens gibt es gar nicht genug Tierärzte, die diese Arbeit übernehmen können und wollen. Dafür haben sie nicht studiert. Und zweitens wäre es auch viel zu teuer. Ich glaube, dass die Landwirte dazu selbst in der Lage sind, wenn sie zuvor entsprechend geschult werden und die Sachkunde nachweisen.


Wie könnten diese Schulungen aussehen?


Delbeck: Wir schlagen vor, dass sich der Landwirt im Vorfeld für eine der vier bzw. fünf Verfahren entscheidet und bei der Wahl der Lokalanästhesie gezielt geschult wird. Diese Schulung könnte dreistufig erfolgen. Sie besteht aus einem theoretischen und aus einem praktischen Teil, sowie der anschließenden Anerkennung durch die zuständigen Veterinärbehörden des jeweiligen Landkreises.


In der theoretischen Schulung, die etwa einen halben Tag in Anspruch nehmen würde, werden gesetzliche und anatomische Grundlagen vermittelt. Am Ende müssen die Teilnehmer eine Prüfung ablegen und erhalten bei erfolgreichem Abschluss eine Bescheinigung. Die anschließende praktische Unterweisung könnte durch den Hoftierarzt im eigenen Betrieb erfolgen. Unter Aufsicht des Hoftierarztes würde der Landwirt die örtliche Betäubung hinreichend üben können. Auch hier bescheinigt der Tierarzt die erfolgreiche Durchführung schriftlich. Am Ende kann der Landwirt dann beide Bescheinigungen beim jeweiligen Landkreis einreichen und sich dort die Erlaubnis einholen, die Ferkel zur Kastration künftig selbst lokal betäuben zu dürfen.


Wie stehen die Chancen, dass der von Ihnen entwickelte Leitfaden auch von Politik und Behörden anerkannt wird?


Delbeck: Uns geht es nicht darum, fertige Konzepte zu präsentieren. Unser Leitfaden ist vielmehr eine fachlich und sachlich fundierte Grundlage. Alle Beteiligten können hier ihre Verbesserungsvorschläge einbringen. Wichtig ist jedoch, dass wir jetzt zeitnah zu einer brauchbaren und praxisnahen Lösung kommen. Wir stimmen uns dabei mit dem Schweinegesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen ab, um am Ende zu einer überregional gültigen Regelung zu kommen.


Entscheidend ist, dass Tierschutz und Lebensmittelsicherheit als Einheit gesehen werden. Alle Mitwirkenden sollten das Thema Kastrationsalternativen sachlich und fachlich neutral angehen. Die Aufgabe muss ganzheitlich und nachhaltig gelöst werden. Denn Tierschutz und Lebensmittelsicherheit dienen nicht dazu, den gesellschaftlichen Zeitgeist zu bedienen! Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass jedes zusätzlich importierte Ferkel einen Rückschritt für den Tierschutz dar-stellt.Kontakt:


henning.lehnert@topagrar.com

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