Der LEH positioniert sich immer mehr als Tierwohl-Trendsetter. Gut so?
Hortmann-Scholten: Das Vorpreschen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) bringt für die Tierhalter Vor- und Nachteile. Von Vorteil ist, dass endlich Fakten auf dem Tisch liegen und die Landwirte wissen, was der Handel wünscht. Nachteilig ist, dass der Zeitrahmen, in dem die Händler Veränderungen einfordern, viele Landwirte überfordert. Für die Bauern besteht das Problem außerdem darin, dass die Politik es bis heute nicht geschafft hat, eine nationale Nutztierhaltungsstrategie zu verabschieden, geschweige denn Lösungskonzepte umzusetzen. Der Borchert-Plan z. B. scheitert bislang an der Finanzierungsfrage und den Hemmnissen im Baurecht.
Welche Gefahren sehen Sie im Vorpreschen des Handels?
Hortmann-Scholten: Die Gefahr ist, dass es deutschen Schweinehaltern genauso ergeht wie den Kollegen aus Großbritannien in den 1990er-Jahren. Damals hat die Supermarktkette Tesco den sogenannten Tesco-Standard eingeführt. Dieser sieht im Vergleich zu den übrigen EU-Ländern höhere Tierschutzstandards vor. Die hohen Auflagen führten dazu, dass der Selbstversorgungsgrad für britisches Schweinefleisch von 80 auf ca. 55 % einbrach. Sollten die Ankündigungen von Aldi und anderen Handelskonzernen Realität werden, in wenigen Jahren im Frischfleischsektor ausschließlich Produkte aus Haltungsform 3 und 4 anzubieten, dürften uns ähnliche Entwicklungen wie in Großbritannien blühen.
Die Ferkelerzeuger sind mit keinem der angebotenen Tierwohlprogramme richtig zufrieden. Jammern die Sauenhalter zu viel?
Hortmann-Scholten: Fakt ist, dass die deutschen Sauenhalter die höheren Tierwohlvorgaben der neuen Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung ohne staatliche Förderung nicht überleben werden. Zudem müssen die ständig steigenden Produktionskosten über Festpreise des LEH längerfristig abgesichert werden. Nur dann haben die Sauenhalter Planungssicherheit. Hinzu kommt, dass die Ferkelerzeuger ihren gerechten Anteil am Tierwohlmehrerlös erhalten müssen. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen. Ansonsten bleibt die vom Handel gewünschte Nämlichkeit in der Kette der Schweinefleischerzeugung Wunschdenken. Bei den traditionellen Markenfleischprogrammen aus den 1980er-Jahren z. B. ist vom Mehrerlös nur ein geringer Teil in der Sauenhaltung angekommen.
Wie lässt sich garantieren, dass auch die Ferkelerzeuger beim Thema Tierwohl gerecht entlohnt werden?
Hortmann-Scholten: Bei der Festsetzung von Boni müssen wir die stark steigenden Produktionskosten endlich zu 100 % berücksichtigen und wenn nötig anpassen. Die von der Initiative Tierwohl (ITW) in der dritten Programmphase ausgelobten Tierwohlboni in Höhe von 3,07 € je Ferkel sind bei Weitem nicht kostendeckend! Auch die geringfügige Aufstockung auf 3,57 € je Tier reicht angesichts der steigenden Zusatzkosten nicht aus.
Rewe will ab Sommer 2022 nur noch Frischfleisch vom Schwein verkaufen, wenn die Ferkel in Deutschland geboren wurden, Stichwort 5 x D. Ist die Ankündigung der Rettungsanker für deutsche Sauenhalter?
Hortmann-Scholten: Ob 5 x D der Rettungsanker ist, muss sich erst noch zeigen. Ich begrüße die Ankündigung von Rewe aber ausdrücklich. Denn in der Geflügelhaltung läuft die 5 x D-Strategie im Frischfleischsegment bereits seit Jahren sehr erfolgreich. Das ist grundsätzlich auch bei Schweinefleisch möglich. Entscheidend ist aber, dass der Handel die deutsche 5 x D-Ware klar gegenüber Billigeinfuhren aus dem Ausland schützt. Wie das gehen kann, zeigt uns der Bereich Frischgeflügel. Hier lässt der LEH dem Verbraucher keine Wahl, auf preisgünstige Ausweichprodukte auszuweichen. Er verkauft nur deutsche Ware.
Steigen die Zukunftschancen für die deutschen Ferkelerzeuger, wenn jetzt weitere Händler auf 5 x D umstellen?
Hortmann-Scholten: Der Selbstversorgungsgrad bei deutschen Ferkeln liegt unter 70 %. Wenn jetzt nicht endlich etwas passiert, wird das Ferkeldefizit angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage schnell noch größer. Sollten sich die führenden Vertreter des LEH in Deutschland allerdings auf die 5 x D-Strategie einlassen, wird die deutsche Ferkelerzeugung massiv davon profitieren. Entscheidend ist, dass wir mit dem 5 x D-Konzept schnell eine hohe Marktdurchdringung erzielen.
„Lässt sich der gesamte Handel auf 5 x D ein, profitieren die Ferkelerzeuger davon massiv.“
Wie wird der Markt reagieren, wenn der gesamte LEH tatsächlich auf in Deutschland geborene Tiere umstellt?
Hortmann-Scholten: Das flächendeckende Ausrollen der 5 x D-Strategie hätte höchstwahrscheinlich zur Folge, dass für inländische und ausländische Ferkel unterschiedliche Preise gezahlt werden. Für deutsche Ferkel gäbe es Preiszuschläge, Importferkel dürften hingegen billiger gehandelt werden. Letztendlich könnte der Selbstversorgungsgrad bei deutschen Ferkeln wieder steigen. Bei Lichte besehen sind Preiszuschläge für hiesige Ferkel längst überfällig. Denn die heimischen Erzeuger haben aufgrund der umfangreicheren Haltungsvorgaben und den höheren Kosten infolge der Ferkelkastration unter Narkose mit erheblichen finanziellen Nachteilen gegenüber den Wettbewerbern aus Dänemark und den Niederlanden zu kämpfen.
Sehen Sie darin Nachteile für deutsche Mäster, fehlen künftig Ferkel?
Hortmann-Scholten: Deutsche Mäster müssten sicherlich höhere Ferkelpreise in Kauf nehmen. Weil wir uns mit der 5 x D-Strategie aber von den Wettbewerbern innerhalb der europäischen Fleischproduktion positiv abheben, dürften die Erlöse entlang der gesamten Wertschöpfungskette steigen. Hinzu kommt, dass der Borchert-Plan für höhere Produktqualitäten Tierwohlprämien vorsieht.
Wie kann man sicherstellen, dass Rewe die Ankündigung voll umsetzt?
Hortmann-Scholten: Das kann nur Rewe selbst garantieren. Entscheidend wird sein, ob die Mitwettbewerber dem Beispiel von Rewe folgen. Denn im Alleingang kann die Rewe-Group ihre Ankündigung langfristig nicht umsetzen. Was wir jetzt brauchen, ist eine freiwillige Selbstverpflichtung der großen Lebensmittelkonzerne. Es muss garantiert werden, das Fleischerzeugnisse, welche zu wesentlich geringeren Umwelt-, Tierschutz- und Sozialstandards erzeugt wurden, ausgelistet werden. Dass dieser Weg möglich ist, zeigt das Beispiel der Käfigeier. Der Lebensmitteleinzelhandel hat die traditionellen Käfigeier im Jahr 2010 bereits mehrere Monate vor dem Verbot der gesetzlichen Käfighaltung durch die Bundesregierung ausgelistet.
Warum will Rewe nur zu 95 % deutsche Herkunft garantieren?
Hortmann-Scholten: Der LEH scheut zu starke Abhängigkeiten von seinen Lieferanten wie der Teufel das Weihwasser. Denn erstens wird er im Falle zu großer Abhängigkeiten erpressbar. Und zweitens wollen die Händler auch in Zukunft ausländische Spezialitäten wie z. B. Serrano- oder Parmaschinken anbieten können. Zudem gib es immer wieder Marktphasen, in denen die in Deutschland produzierten Mengen nicht ausreichen. Filets zum Beispiel sind vor den Festtagen immer knapp. Dann will der LEH die Möglichkeit haben, auf dem EU-Markt zukaufen zu können.
Frischfleisch hat in Deutschland nur einen geringen Anteil an der Verkaufsmenge. Warum tut sich der LEH so schwer damit, auch bei der Verarbeitungsware auf 5 x D umzustellen?
Hortmann-Scholten: Der Anteil von frischem Schweinefleisch liegt im LEH je nach Jahreszeit bei ca. 20 bis 30 % der Verkaufsmenge – bezogen auf den Gesamtmarkt. Die hierfür benötigten Mengen ließen sich bei einer flächendeckenden 5 x D-Strategie problemlos bereitstellen. Käme die Verarbeitungsware hinzu, sähe das Bild angesichts des deutschen Ferkeldefizites von aktuell 10 Mio. Tieren anders aus. Dafür braucht es eine langfristige Anpassungsstrategie.
„Der LEH muss sich endgültig von der Politik der Tiefpreisstrategie abwenden.“
Für den Handel zählt nur, dass die Regale rund um die Uhr, sieben Tage die Woche gefüllt sind. Sehen Sie die Gefahr, dass der LEH seine Tierwohl-Ankündigungen wieder einkassiert, wenn zu wenig Fleisch mit 5 x D-Kennzeichnung vorhanden ist?
Hortmann-Scholten: Die Situation am Ferkel- und Schweinemarkt ist derzeit existenzbedrohend. Die Landwirte benötigen jetzt dringend eine Perspektive. Dazu gehört auch, dass der Handel verlässliche Zusagen macht. Fehlen diese, besteht die Gefahr, dass die 5 x D-Strategie mangels Masse scheitert. Meines Erachtens sollte man die Pläne auch nicht ad hoc umsetzen, sondern nur im Rahmen einer abgestimmten Produktionsplanung zusammen mit den vorgelagerten Stufen. Wichtig wäre auch, wenn die ständigen Preisschwankungen durch klare Vereinbarungen minimiert würden. Dann käme der LEH seinem Ziel einer Preiskontinuität ein großes Stück näher.
Brauchen wir dafür Lieferverträge?
Hortmann-Scholten: Eine über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg funktionierende Warenversorgung funktioniert nur mit Verträgen. Entscheidend ist dabei unter anderem, dass die entsprechenden Umstellungszeiträume bei der Ausarbeitung der Pläne berücksichtigt werden.
Der Handel will klimafreundlicher werden. Fleischimporte aus Übersee passen nicht dazu. Demnach müsste deutsche Ware künftig noch begehrter werden. Richtig?
Hortmann-Scholten: Die Themen Regionalität und regionale Marktversorgung spielen insbesondere vor dem Hintergrund der Klimadiskussion eine zunehmend wichtige Rolle. Nicht nur aus Klimaschutzgründen passen Fleischimporte aus Übersee nicht in dieses Bild. Sie widersprechen darüber hinaus auch deutschen Sozial- und Tierschutzstandards. Der Handel muss sich letztendlich von der Politik der Tiefpreisstrategie abwenden und sich eindeutig zu den hohen Prozessqualitäten der deutschen Produzenten bekennen. Davon profitieren aus meiner Sicht am Ende alle.