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Eine Gemeinde verkauft ihren eigenen Strom

Lesezeit: 9 Minuten

Die Klimakommune Saerbeck in Nordrhein-Westfalen hat ein einzigartiges Konzept aus Stromproduktion, Energieeinsparung und Wärmeversorgung geschaffen. Das mutige Vorgehen ist ein Vorbild für viele andere Gemeinden.


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Gespannt schaut eine Handvoll Menschen in den blauen Septemberhimmel. Ganz langsam setzt sich der Rotor der 200 Meter hohen Windenergie-Anlage in Bewegung. „Das ist der Startschuss für unseren Bioenergiepark“, freut sich Wilfried Roos, Bürgermeister der Gemeinde Saerbeck. Sein roter Schutzhelm will nicht so richtig zu dem schwarzen Anzug passen. Aber diese Kleidung drückt vieles aus, was Saerbeck so besonders macht: Die Gemeindeverwaltung hat sich die Energieproduktion auf die Fahnen geschrieben. Die Mitarbeiter haben damit heute genauso viel mit Wind und Solarstrom oder Pelletheizungen zu tun wie mit „normalen“ Problemen der 7 500 Einwohner.


Sieger im Wettbewerb:

Angefangen hat alles für die ländliche Kommune im Landkreis Steinfurt (Nordrhein­-Westfalen) mit einer Krise: Im Jahr 2005 verkündete die Bundeswehr, dass ein 1,5 km vom Ort entfernt liegendes Munitionsdepot Ende 2010 aufgegeben werden soll. Der Standort war erst im Jahr 1988 eingerichtet worden. 80 Menschen vor allem aus Saerbeck hatten dort Arbeit. Darum kämpfte die Gemeinde fast zwei Jahre lang darum, dass der Standort bleibt. „Es war aber aussichtslos. Deshalb haben wir uns im Jahr 2007 damit beschäftigt, wie wir den Standort alternativ nutzen könnten“, berichtet der Bürgermeister.


Die erste Idee war, dort ein Kompostwerk für den Bioabfall des Landkreises zu errichten. Parallel dazu kamen Überlegungen auf, ob man das Gelände nicht auch zur Energieerzeugung nutzen könnte. Der Funken sprang dann endgültig über, als das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2008 den Wettbewerb um den Titel „NRW-Klimakommune der Zukunft“ ausgeschrieben hatte. Der Gemeinderat war Feuer und Flamme und so bewarb sich Saerbeck neben 60 weiteren Städten und Gemeinden an dem Wettbewerb. Zusammen mit der Fachhochschule Münster, lokalen und externen Experten sowie dem Landkreis arbeiteten sie ein integriertes Klimaschutz- und Klima­anpassungskonzept aus. Auch Institutionen, Unternehmen, Vereine und engagierte Bürger brachten Ideen ein und legten ein umfassendes Papier mit über 150 Einzelmaßnahmen vor. Ziel: Die Gemeinde bis zum Jahr 2030 energieautark zu machen.


Ein Jahr später dann die freudige Nachricht: Zusammen mit der Stadt Bocholt gewann Saerbeck den Wettbewerb und darf jetzt offiziell „Klimakommune“ im Namen tragen. Mit dem Gewinn verbunden war auch eine Fördersumme von 1,1 Mio. € für die Umsetzung der geplanten Projekte.


Projekt Solardächer:

Und damit warteten die engagierten Saerbecker nicht lang. Zu Beginn machte die Verwaltung klar, dass sie mit gutem Beispiel vorangeht. Bis zum Jahr 2018 soll das Rathaus mithilfe der Gebäudesanierung und Umstellung auf erneuerbare Energien eine ausgeglichene Energiebilanz vorweisen.


Da die Energiewende aber in jedem Haus anfängt, hat die Kommune alle Hausbesitzer in Saerbeck mit einem Fragebogen angeschrieben. An dieser Potenzialstudie haben u. a. die Schüler der Gesamtschule in Saerbeck mitgewirkt, die auch die Auswertung übernommen hat. Die Gemeinde wollte wissen, wie die Bürger aktuell heizen und wie groß die Dachflächen sind, die sich für Photovoltaik eignen. 450 Bürger beteiligten sich daran. Das Ergebnis: Dreiviertel der Hausbesitzer wollten die Energiekosten senken und die kostenlose Energieberatung der Gemeinde nutzen. Und rund 22 000 m2 Fläche auf Haus- und Stalldächern standen für die Solarstromerzeugung zur Verfügung.


Mit örtlichen Handwerkern und Banken stellte die Gemeinde ein Beratungs- und Finanzierungskonzept zur energetischen Sanierung zur Verfügung. Viele Bürger haben damit ihre Heizungsanlage ausgetauscht und Häuser saniert. Und auf den Dächern haben die Saer­becker Solarstromanlagen mit 8,4 Megawatt (MW) installieren lassen.


Projekt Heizzentrale:

Als zweites Projekt hat die Gemeinde fünf Erdgasheizungen im Schul- und Sportzentrum gegen eine Holzpellet-Heizung mit 850 kW ersetzt und ein Nahwärmenetz errichtet. Daran angeschlossen sind die sanierten Schul- und Sportanlagen, ein neuer Kindergarten, das katholische Pfarrheim und andere Gebäude. Die Heizung steht im Erdgeschoss und ist durch eine gläserne Wand von außen zu sehen. „Mit der gläsernen Heizzentrale wollen wir die Bürger animieren, über die Sanierung ihrer eigenen Heizung nachzudenken und sie gegen eine Bioenergie-Anlage auszutauschen“, begründet Bürgermeister Roos dieses Vorgehen. Die Anlage ist an den Saerbecker Energie-Erlebnis-Pfad angeschlossen, der Bürger und Besucher über Energieproduktion und -einsparung sowie Klimaschutz informiert.


Projekt Bioenergiepark:

Das dritte und bislang größte Projekt des Klimaschutzkonzeptes ist der Bioenergiepark. Dazu hat die Gemeinde nach harten Verhandlungen das Gelände des Munitionsdepots im Jahr 2009 zu einem sehr günstigen Preis gekauft.


Bei der anschließenden Planung, wie das Gelände genutzt werden soll, haben sich wieder die Bürger aktiv einbringen können. „Es sind planerische Paradieszustände, dass das Gelände 1,5 km außerhalb von Saerbeck liegt. Daher hatten wir in keiner Phase der Planung Einwände oder Proteste“, erklärt Roos. Mit einem neuen Flächennutzungsplan machte die Gemeinde im Jahr 2011 schnell den Weg für die Bebauung frei. Als erstes ging Anfang 2012 eine Biogas­anlage mit insgesamt 1 MW elektrischer Leistung ans Netz. An der „Saergas GmbH & Co. KG“ sind 17 Landwirte und ein Biogasanlagenhersteller aus Saerbeck beteiligt, der die Anlage errichtet hat.


Das Biogas erzeugen die Landwirte mit nachwachsenden Rohstoffen und Gülle. Die Wärme der zwei Blockheizkraftwerke verkaufen sie an das vorhandene Nahwärmenetz des Munitionsdepots und verwenden sie zur Trocknung der Gärreste. Das ist nötig, da der Kreis Steinfurt als Veredelungsregion ein Nährstoff-Überschussgebiet ist. Die Aufbereitung hilft den Landwirten, Nährstoffe als Dünger in andere Regionen vermarkten zu können.


Neben der Biogasanlage hat die EGST (Entsorgungsgesellschaft Steinfurt mbH) ein Kompostwerk errichtet. Es besteht aus einer Trockenfermentations-Biogasanlage mit zwölf Garagenfermentern, in denen die EGST 45 000 t Bioabfall der 24 Städte und Gemeinden des Landkreises vergärt. Nachgeschaltet ist dann eine Kompostierung der Gärreste. Die Biogasanlage hat ebenfalls eine Leistung von 1 MW. Die Einspeisevergütung dient dazu, die Entsorgungskosten des Landkreises dauerhaft zu senken.


Solarpark auf Bunkern:

Ein besonderes Merkmal des ehemaligen Munitionsdepots sind 74 Bunkeranlagen. Sie waren zur Tarnung ursprünglich mit Nadelbäumen bepflanzt, die die Saerbecker aber gerodet haben. Stattdessen haben sie auf der Südseite der Bunker Freiflächen-Photovoltaikanlagen errichtet. Zusammen haben diese eine Leistung von 5,8 MW und sind damit die zweitgrößte Freiflächenanlage Nordrhein-Westfalens.


Mit einer 200 kW-Solarstromanlage auf einem Verwaltungsgebäude liefert der Bioenergiepark seit Mitte 2012 genau 6 MW Photovoltaikleistung.


Die Freiflächenanlage ist als GmbH & Co. KG organisiert. Größter Kommanditist ist mit 63 % Anteil die Genossenschaft „Energie für Saerbeck“, an der 400 Bürger angeschlossen sind. „Innerhalb von 14 Tagen hatten wir das nötige Eigenkapital von 2,4 Mio. € für die 9,5 Mio. € teure Anlage zusammen“, erinnert sich Roos, der zusammen mit sechs anderen Bürgern die Energie-genossenschaft gegründet hat. Die Mindesteinlage liegt bei 1 000 €, im Durchschnitt haben die Bürger 9 000 € gezeichnet. Die restlichen Kommanditisten des Solarparks sind Investoren aus Saerbeck mit höheren Einlagesummen.


56 der Bunker mit jeweils 200 m2 Innenfläche hat die Gemeinde an den Landesbetrieb Straßenbau NRW vermietet, der dort 45 000 t Streusalz für den Winterdienst lagert. Die restlichen Bunker dienen als Lagerraum örtlicher Unternehmen.


Windräder am Parkrand:

Die letzte, aber umfangreichste Energieproduktion sind sieben Windräder, die am Rand des Parks errichtet werden. Simulationen haben ergeben, dass die Windgeschwindigkeit in 100 m Höhe bei 5,9 m/s liegt. „Das war schon gut, auf 149 m Nabenhöhe erwarten wir noch viel mehr“, berichtet der Bürgermeister.


Den Weg für die Windräder hat erst der neue Windenergie-Erlass in Nordrhein-Westfalen frei gemacht, der Mitte 2011 in Kraft trat. Die alte Regelung hätte pauschale Abstände von 1 000 m zu jedem Naturschutzgebiet vorgesehen. Das hätte die Windräder in Saerbeck verhindert, weil nördlich des Parks ein Naturschutzgebiet liegt.


Probleme gab es auch mit der Flugsicherung des nahegelegenen Flugplatzes Münster-Osnabrück, die die 200 m hohen Anlagen wegen angeblicher Radarstörungen verhindern wollte. „Aber mit Gutachten konnten wir nachweisen, dass die Flugrouten gar nicht über unseren Park verlaufen“, erläutert Roos.


Die erste Anlage, die Mitte September in Betrieb gegangen ist, gehört der Gemeinde Saerbeck. Das ist ein Novum in Nordrhein-Westfalen, noch nie hat eine Kommune bisher direkt in eine Energieanlage investiert. Möglich wurde das durch eine Änderung der Gemeindeordnung, die einer Kommune jetzt eine wirtschaftliche Betätigung erlaubt. „Unsere Aktivitäten haben bei diesem Beschluss auch eine entscheidende Rolle gespielt“, sagt Roos schmunzelnd.


Eine zweite ist im Besitz der Entsorgungsgesellschaft des Landkreises, sie seht auf dem Gelände des Kompostwerks. Ein weiteres Windrad gehört der Genossenschaft „Energie für Saerbeck eG“. Die restlichen vier Windräder betreiben finanzstarke Saerbecker.


Strom für die Bürger:

Da die Standorte der sieben Windräder im Park sehr unterschiedlich sind und entsprechend auch stark abweichende Stromerträge erwartet werden, haben sich die Betreiber auf ein Pool-Modell geeinigt. Unabhängig von der Besitzstruktur der Wind­räder wird der Strom aller sieben Räder über eine Einspeiseleitung zusammengefasst und an einem gemeinsamen Punkt eingespeist. Daher wird der Stromertrag gleichmäßig auf alle sieben Gesellschaften aufgeteilt.


„Mit dem Bioenergiepark haben wir schon im Jahr 2013 unser Ziel im Strombereich erreicht, energieautark zu sein“, berichtet Roos. Doch die Gemeinde lehnt sich jetzt nicht etwa zurück. Im nächsten Jahr sollen auf dem Gelände ein oder zwei Energiespeicher errichtet werden, um Wind- und Solarstrom zwischenspeichern zu können. Genauso ist der Bau einer Power-to-Gas-Anlage angedacht, mit der sich Windstrom in speicherfähigen Wasserstoff umwandeln lässt.


Die Speicherung ist wichtig, um immer genügend Strom zur Verfügung zu haben. Denn ein nächstes Projekt für das Jahr 2014 wird es sein, den Strom nicht mehr ins öffentliche Stromnetz einzuspeisen, sondern an die Bürger in Saerbeck zu verkaufen. Möglich ist das dadurch, dass Saerbeck das komplette Stromnetz der Gemeinde gekauft hat.


Zusammen mit den Stadtwerken Lengerich hat Saerbeck die Gesellschaft SaerVE gegründet und bietet ab 2014 einen eigenen Ökostromtarif an. Er wird etwas unter dem Tarif des jetzigen Stromanbieters liegen und einem Haushalt im Jahr etwa 100 € Einsparung bringen. Mit diesem Stromangebot hat die Gemeindeverwaltung den Sprung in Richtung Mini-Stadtwerk geschafft und zeigt damit eindrucksvoll, wie die Gemeinde der Zukunft in ganz Deutschland aussehen könnte. Das registrierte auch die Agentur für Erneuerbare Energien und kürte Saerbeck Ende September zur „Energie-Kommune des Jahres 2013“.

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