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Geschwister-Bande

Lesezeit: 8 Minuten

Wir lieben sie, wir fordern sie, wir streiten mit ihnen: Unsere Geschwister. Die Beziehung zu ihnen ist eine der längsten und wichtigsten, die wir im Leben führen. Dr. Silvia Riehl beleuchtet die Bedeutung von Geschwisterfolge und Prägung.


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Zwei Straßenarbeiter finden im Graben eine Kiste Bier. „Komm, wir teilen brüderlich“, sagt der eine. „Nee, wir machen halbe, halbe“, erwidert der andere. Diese Anekdote erzählt viel über die Beziehungen zwischen Geschwistern: es geht um Gerechtigkeit und Eifersucht, um Zuneigung und Ablehnung. Ob ich Schwestern oder Brüder habe, Einzelkind bin, ob ich der Älteste oder die Jüngste bin, wie die Eltern mit ihren Kindern umgehen – all das bestimmt mehr, als uns lieb ist, die Persönlichkeit und den Lebensweg.


Kleiner Bruder, große Schwester:

Geschwisterforscher haben nachgewiesen, dass die Stellung in der Geburtenfolge durchaus Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur hat. So sind die Erstgeborenen in der Regel konservativer, angepasster und haben einen etwas höheren IQ als die Jüngeren.


Rebellion und Revoluzzertum sind dagegen häufiger bei Letztgeborenen zu finden. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Frank Sulloway hat belegt, dass nahezu alle wissenschaftlichen Revolutionen von Letztgeborenen ausgingen, wie z. B. die Relativitätstheorie von Einstein. Aber auch unter den Wortführern religiöser und politischer Gegenbewegungen fand er übermäßig viele kleine Brüder und Schwestern.


Das zeigt: Offensichtlich sind viele Erstgeborene bemüht, durch Anpassung und Leistung ihren Eltern zu gefallen. Zunächst beziehen sie die komplette Liebe und Aufmerksamkeit. Wird dann ein Geschwisterkind geboren, müssen sie diese Zuwendung automatisch teilen. Durch „brav sein“ und Übernahme der Wertvorstellungen der Eltern versuchen sie, ihre Stellung zu festigen.


Die Jüngsten hingegen, zumal wenn es mehr als zwei Kinder sind, müssen ihre Rolle erst finden, um wahrgenommen und anerkannt zu werden. Sie sind darin kreativ und oft genug rebellisch – die Eltern verzeihen es den „Nesthäkchen“. Demgegenüber profitieren die Ältesten von der Vorbild- und Erklärerrolle durch einen messbaren Intelligenzvorsprung. Dadurch, dass sie ihre jüngeren Geschwister öfter beaufsichtigen und anleiten müssen, entwickeln sie auch mehr Führungskompetenzen.


Das Kind in der Mitte, das sogenannte „Sandwich-Kind“, hat häufig die Stellung des Vermittlers, es verhandelt eher, als dass es kämpft. Doch nicht nur die Stellung in der Geburtenfolge, auch die Tatsache, ob man Brüder oder Schwestern hat, beeinflusst das Verhalten. Letztlich gilt: Alle Kinder versuchen, im Gefüge der Familie den Platz zu finden, der ihm die größtmögliche Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern garantiert.


Verwöhnt und verzogen?

Einzelkinder sind dagegen besser als ihr Ruf. Da sie in der Regel die uneingeschränkte Liebe der Eltern genießen, müssen sie weder neidisch noch eifersüchtig sein. Manche können sogar besser teilen als Geschwisterkinder, weil sie zuhause ihr Hab und Gut nicht verteidigen müssen. Ihr gesundes Selbstbewusstsein bezahlen sie allerdings häufig mit Perfektionismus bis hin zur eigenen Überforderung. Die wirklichen oder vermeintlichen Erwartungen der Eltern konzentrieren sich immer ganz auf sie. Ihnen fehlen die Geschwister als Vorbild und Kumpel, aber auch als Reibungspunkt und Abgrenzungsobjekt. Wichtiger sind für sie selbst gewählte Freunde.


Geschwisterrolle, Arbeitsplatz:

Häufig übertragen Menschen ihre Rolle in der Familie auch auf andere Lebensbereiche. So sehr der Umgang mit den Geschwistern Training und Ressource fürs Leben sein kann, so wenig hilfreich können Verhaltensmuster in der Arbeitswelt sein. So kann z. B. der Chef, der die Führung aus der Hand gibt, weil er eigentlich kein Chef sein will, ein jüngeres Geschwisterkind sein. Oder: Eckt jemand im Beruf häufig an oder begibt sich oft in Positionskämpfe, kann das an seiner Geschwisterrolle liegen. Dann können Familienaufstellungen oder Coachings Klarheit geben. Doch Vorsicht: Nicht jedes Problem, das jemand im Beruf oder mit dem Partner hat, ist auf die Geschwisterrolle zurückzuführen. Denn das Zusammenleben hat sich, z. B. durch Patchwork-Familien, auch verändert.


Die Verantwortung der Eltern:

Ob die Erfahrungen mit den Geschwistern wertvolle Ressource, Belastung oder gar Ursache psychischer Probleme sind, hängt auch vom Umgang der Eltern mit ihren Kindern ab.


Eltern eines Einzelkindes sollten sich bewusst machen, dass ihr Kind schon ohne ihr Zutun unter großem Erwartungsdruck steht, der nicht noch durch ehrgeizige Pläne gesteigert werden sollte. Auch sollten sie das Kind nicht zu früh als gleichwertigen Partner behandeln, wie Alleinerziehende das oftmals tun. Außerdem braucht das Kind Möglichkeiten, sich im Umgang mit anderen Kindern auszuprobieren, durchzusetzen und abzugrenzen.


Sind Geschwister vorhanden, so ist es an den Eltern, die Rivalität nicht noch zu verstärken. „Dein Bruder hatte immer gute Noten in Mathe“, hört der Jüngere, als er eine Fünf in der Matheklausur nach Hause bringt. Dieser leicht dahergesagte Satz kann das Samenkorn für lebenslange Rivalität legen. Vergleichen Eltern oft und in verschiedensten Situationen, kann das bis hin zu psychischen Störungen führen.


Kinder sind verschieden – aufgrund ihrer Gene, ihres Umfeldes außerhalb der Familie, aber eben auch aufgrund ihrer Stellung in der Geschwisterfolge. Eltern sollten jedes Kind in seiner Einzigartigkeit anerkennen und keines bevorzugen. Das ist nicht immer leicht, schon unbewusst wenden sie sich vielleicht demjenigen mehr zu, der umgänglicher ist oder ihnen ähnlicher.


Nicht bevorzugen bedeutet aber nicht gleich behandeln. Die 10-Jährige muss früher ins Bett als der 16-Jährige. Mit der fast erwachsenen Tochter kann man sich besser austauschen als mit dem 9-Jährigen. Eine Gleichbehandlung der Kinder, die nicht nach Alter differenziert, verunsichert Kinder eher.


Kinder wünschen sich Anerkennung und Zuwendung von den Eltern, danach richten sie mehr oder weniger bewusst ihr Verhalten aus. Sie brauchen Vorbilder und Abgrenzung, um ihre Persönlichkeit entwickeln zu können, und sie brauchen Maßstäbe und Grenzen. Ihnen das alles zu geben, ist die große Herausforderung des Elternseins. Diese ist leichter zu bestehen, wenn man sich die geschilderten Zusammenhänge immer mal wieder bewusst macht.


Der Hof für den Ältesten?

In der Landwirtschaft ist es wie in vielen Familienunternehmen üblich, den Betrieb dem ältesten Kind bzw. Sohn zu vererben. Die Höfeordnung schreibt das sogar als gesetzliche Erbfolge fest, wenn es keine anderen Bestimmungen gibt. Das zeigt, dass der oder die Älteste auch hier als Bewahrer gilt. Der Übergeber spricht ihm das Vertrauen aus, den Hof in seinem Sinne weiterzuführen. Die Jüngeren dürfen etwas ganz anderes wagen, am besten außerhalb des Hofes.


Allerdings ziehen Landwirte immer stärker auch die Eignung ihrer Kinder in Betracht. Zu groß sind heute die Anforderungen an einen landwirtschaftlichen Unternehmer und der Wunsch der Jugend nach Selbstverwirklichung.


Probleme gibt es immer dann, wenn ein Kind als Hoferbe erkoren wird, aber ein anderes am Ende den Hof bekommt, bzw. wenn Entscheidungen über das Erbe nicht transparent sind. Etwa wenn der Übergeber sich mit seinem ältesten Sohn verzankt, die Ehepartnerin nicht genehm ist, der Jüngere schon eine Familie hat, der Ältere aber keine Anstalten macht, zu heiraten. In diesen Fällen sind Konflikte und zehrende Streitigkeiten vorprogrammiert, die die ganze Familie entzweien können. Deshalb ist es gerade auf den Höfen wichtig, sich die Bedeutung der Geschwisterfolge für die Persönlichkeitsentwicklung klar zu machen – und nicht vorschnell einen Hoferben zu krönen. Je transparenter dabei die Entscheidungen, je mehr Gewicht die Fähigkeiten des Einzelnen bekommen und je offener darüber in der Familie gesprochen wird, desto eher kann man Streitpunkte im Erbfall vermeiden. Denn der Kampf ums Erbe ist der letzte Kampf um die Anerkennung der Eltern. Er wird unerbittlich und mit harten Bandagen geführt.


Der Platz der Toten:

Der frühe Tod eines Kindes hinterlässt seelische Narben, besonders bei den Eltern, aber auch bei den Geschwistern. Ganz klar: Die verstorbenen Kinder behalten ihre Rolle in der Familie, auch wenn sie nicht mehr anwesend oder sehr jung verstorben sind. Bewusst oder unbewusst wird das Geschwisterkind dann oft überbehütet und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt. Verstirbt der Hofnachfolger früh, kann das neben der normalen Trauer dramatische Folgen für das Zusammenleben haben. Wird ein jüngeres Geschwisterkind in die Rolle des Hofübernehmers gedrängt, das vorher nie infrage gekommen wäre, kann das eine große Bürde sein, besonders, wenn die Erwartungen der traumatisierten Eltern den bereits gefassten Lebensplänen des Jüngeren entgegenstehen. Auch in tragischen Situationen gilt: Je offener die Familie über Gefühle und Erwartungen spricht, desto eher lassen sich Schuldgefühle abbauen, die Trauer überwinden und ein neues Leben aufbauen. Wer Trauer und enttäuschte Erwartungen in sich hi­nein­frisst, macht es sich schwer – und den anderen unmöglich, sich „richtig“ zu verhalten. Auch hier können Familienaufstellungen Rollen klären und erklären.


Schutzraum:

Das Leben in der Familie und mit Geschwistern ist ambivalent. Auf der einen Seite ist die Familie der Schutzraum, in dem man so sein darf, wie man ist, wo man bedingungslos geliebt wird. Auf der anderen Seite sind die gegenseitigen Erwartungen nirgends so groß wie in der eigenen Familie.


Sich immer wieder zuzuhören, offen zu sein für die Belange der anderen, wertschätzend miteinander umzugehen, über eigene Gefühle und Erwartungen sprechen: das ist harte Arbeit. Aber auch die Grundlage für ein Familienleben, das weder einengt noch erstickt, sondern Raum bietet für Wachsen und Gedeihen. Kinder, die in solch offener, respektvoller Atmosphäre aufwachsen, können mit Konflikten später gut umgehen.

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