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Bioprodukte frisch vor die Haustür

Lesezeit: 8 Minuten

Thilo und Sybille Junge sind echte Biopioniere: Seit 24 Jahren vermarkten sie ihre Milch per Liefer-service direkt an Endkunden. Nun ziehen sie auch männliche Kälber auf und bieten Fleischpakete an.

Als das Gatter des Boxenlaufstalls aufgeht, gibt es für die Kühe kein Halten mehr: Sie traben aus dem Stall und laufen auf die frische Weide neben dem „Selgenhof“, einer hessischen Staatsdomäne in Ulrichstein (Vogelsbergkreis). Es ist Ende April und für die Angler Rotviehkühe beginnt die Weidesaison. Knapp sieben Monate lang dürfen die Tiere nun die Hälfte des Tages hier verbringen.

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Sybille und Thilo Junge bewirtschaften den Betrieb seit 1994 nach Bio-Richtlinien. Sie haben den Betrieb vom Land Hessen gepachtet. Mittlerweile halten sie auf dem Hof 190 Milchkühe und 110 Jungtiere. Sie bewirtschaften 280 ha Grünland sowie 50 ha Acker. Darüber hinaus gehört eine eigene Molkerei mit angeschlossenem Lieferservice zum Betrieb. Das Ehepaar beschäftigt neben ihrem Sohn Frederik und einem Herdenmanager mehr als 25 Mitarbeiter sowie drei Azubis.

Hörner als Sinnesorgan

Für die Rasse Angler Rotvieh hat Thilo Junge sich bewusst entschieden: „Die Tiere haben robuste Klauen für den Weidegang und kommen mit der Weidefütterung durch ihr nicht zu hohes Leistungsniveau gut zurecht. Außerdem sind ihre Kälber kleiner, was die Geburten erleichtert.“ Momentan liegt die Milchleistung bei ca. 8000 kg pro Kuh und Jahr. Im Schnitt schafft jede Kuh etwa fünf Laktationen.

Eine Besonderheit fällt sofort auf: Alle Kühe sind behornt. „Für mich sind die Hörner einer Kuh vergleichbar mit jedem anderen Sinnesorgan. Die Kühe brauchen sie zur Wahrnehmung ihrer Umwelt“, ist der 60-Jährige überzeugt. Bislang gab es keine Unfälle auf dem Betrieb. Junge führt das auf ein durchdachtes Management und einen ruhigen Umgang mit den Tieren zurück, auf den er großen Wert legt. „Allen Tieren stehen im Stall knapp 10 m² Platz zur Verfügung. Dadurch sind sie deutlich entspannter“, erklärt Junge.

Die Weideflächen liegen unmittelbar um den Hof herum. Das Jungvieh steht ab einem Alter von einem Jahr den ganzen Sommer auf der Weide und wird nicht zugefüttert. Zum Belegen läuft ein Deckbulle in der Gruppe mit. Die Milchkühe weiden halbtags zwischen den Melkzeiten um 5 Uhr und 16 Uhr. Ab Mitte Mai bevorzugt Thilo die Nachtweide: „So entgehen die Tiere tagsüber der Hitze auf den Weiden und wir können sie besser mit Wasser versorgen. Denn nachts ist auch das Weidegras feucht“, erklärt der Betriebsleiter. Außerdem kann er die Kühe tagsüber im Stall besser kontrollieren.

Der Melkstand ist ein Doppel-Vierer-AutoTandem-Stand. „Für unsere Kuhzahl ist das eigentlich zu klein. Wir brauchen etwa vier Stunden pro Melkzeit“, gibt Junge zu. Allerdings stehen die Kühe in diesem System getrennt voneinander. „Das hat wiederum Vorteile wegen der Hörner. Die Kühe sind ruhiger, weil sie weniger Stress haben“, erklärt er.

Milch in Mehrweg-Flaschen

Als Junges den Selgenhof übernahmen, gab es noch kein Biosortiment im Lebensmitteleinzelhandel. Deshalb mussten sie ihre Biomilch zunächst als konventionelles Produkt ohne Mehrerlös verkaufen. Ab 1998 bauten sie dann einen eigenen Vermarktungsweg auf.

Heute verarbeiten sie knapp die Hälfte ihrer Milch in der hofeigenen Molkerei. Das sind etwa 700000 Liter pro Jahr. Den Rest verkaufen sie an die Biomolkerei Coburg. In der Selgenhof-Molkerei wird die Milch bei 72°C pasteurisiert. Auf Homogenisieren verzichten sie, um die ursprüngliche Qualität des Milchfetts zu erhalten. Dadurch rahmt die Milch jedoch etwas schneller auf. Haltbar ist sie bis zu acht Tage lang.

Die fertige Milch füllen die Mitarbeiter in Mehrweg-Flaschen aus Kunststoff ab. Sie können 200 bis 300 Mal wieder befüllt werden. Für jede Flasche berechnet Junge seinen Kunden 1 € Pfand. Die Fahrer des Lieferservice sammeln das Leergut auf ihren Auslieferungsfahrten wieder ein. Vor dem Wiederbefüllen werden die Flaschen gespült. Sie sind fertig bedruckt und brauchen deshalb kein Etikett. Das spart Reinigungsmittel und schont die Umwelt. „Damit haben unsere Flaschen eine bessere Umweltbilanz als Glasflaschen oder mit Kunststoff beschichtete Karton-Einweg-Verpackungen“, betont Thilo Junge.

Zusätzlich zu Trinkmilch stellen die Mitarbeiter in der Selgenhof-Molkerei Schlagsahne, Naturjoghurt, Fruchtjoghurt, Butter und Buttermilch her. ▶

Lieferservice in die Städte

Weil der Vogelsbergkreis so dünn besiedelt ist, hat Thilo Junge nach Eröffnung der Molkerei begonnen, einen Lieferservice einzurichten. „Am Hof war keine Laufkundschaft vorhanden. Also mussten wir den Absatz anders sichern“, erklärt er die Situation von damals. Heute liefern seine Fahrer die Milchprodukte nach Gießen, Bad Homburg und sogar bis in das ca. 100 km entfernte Frankfurt am Main aus. „In den Städten ist die Kundendichte und teils auch die Kaufkraft höher. Dort sind bessere Verkaufsbedingungen für unsere Biomilch“, sagt er.

Etwa die Hälfte der Waren liefert der Landwirt an den Lebensmitteleinzelhandel. Die andere Hälfte geht direkt an Endkunden. Pro Lieferung berechnet er 1,10 €. Eine Mindestbestellmenge gibt es nicht. Die Kunden können alle Produkte über einen Online-Shop bestellen. Die meisten nutzen ein festes Abo. „Am beliebtesten sind Milch und Butter“, sagt Junge. Einen Liter Milch verkauft er für 1,45 €, ein Päckchen Sauerrahmbutter kostet 3,49 €.

Der Fuhrpark des Selgenhofs besteht aus insgesamt sechs Fahrzeugen. Sie sind von montags bis samstags unterwegs. Jede Liefertour wird zweimal wöchentlich abgefahren. Die Fahrer stellen die Waren auch an einem vereinbarten Ort ab und sammeln Leergut ein, sodass die Kunden für die Lieferung nicht zwingend zu Hause sein müssen. Sie erhalten dann eine Monatsrechnung und bezahlen per Lastschrift. Den Lieferservice nutzen überwiegend Stammkunden. „Viele unserer Kunden bestellen schon jahrelang bei uns. Sie schätzen die Qualität unserer Produkte. Einen stichfesten Joghurt oder eine Sauerrahmbutter bekommen sie nicht überall“, lautet Junges Fazit.

Ammen säugen Kälber

Seit einigen Monaten geht Familie Junge einem neuen Herzensprojekt nach: Sie ziehen einige der männlichen Kälber kuhgebunden auf. „Wir möchten die Kälber nicht mehr so früh von den Kühen trennen und eine soziale Interaktion ermöglichen“, erklärt Thilo Junge die Absicht.

Etwa die Hälfte der Kühe wird mit Sperma des Angler Rotvieh und die anderen mit Sperma einer Fleischrasse belegt. Die Kreuzungskälber sowie die männlichen Zuchtkälber lässt Junge an Ammenkühen aufziehen. Eine Amme säugt je nach Milchleistung zwei bis drei Kälber. Die Aufzucht der Kälber an ihren eigenen Müttern hat sich als wenig erfolgreich erwiesen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man eine säugende Kuh oft nicht gleichzeitig melken kann. Denn durch einen natürlichen Reflex hält sie die Milch beim Melken zurück“, erklärt der Landwirt. Weil aber nicht die ganze Milch zur Kälberaufzucht benötigt wird, würde dies einen finanziellen Verlust bedeuten.

Die Ammen stehen in einer Gruppe aus mehreren Kühen und Kälbern zusammen. „Die Aufzucht erfordert eine gute Tierbeobachtung. Wir müssen genau kontrollieren, dass kein Kalb unterversorgt ist“, beschreibt Junge. Die Ammenkühe füttert er mit der Frischmelker-Ration. Die Kälber können durch ein Gitter in einen extra Bereich schlüpfen. Dort stehen ihnen Müsli und Heu zur Verfügung.

Für die weiblichen Nachzuchtkälber kommt die muttergebundene Aufzucht nicht infrage. „Wir haben einige wenige Kühe, die an Paratuberkulose leiden. Die Darmkrankheit wird über Erreger im Kot übertragen. Wir wollen ein weiteres Verbreiten in der Herde vermeiden“, erklärt der Betriebsleiter. Deshalb trennt er die Kälber direkt nach der Geburt von den Kühen und zieht sie mit Vollmilch auf.

Die männlichen Angler-Kälber und einige der Fleischkreuzungen verkauft Junge nach 2,5 Wochen Säugezeit. Die Mastkälber bleiben bis zu ihrer Schlachtung im Alter von neun Monaten mit den Ammen zusammen. „So erfolgt die Trennung von Kuh und Kalb etwa zur gleichen Zeit wie in der freien Natur“, erklärt Junge. Aktuell lässt Junge zwei Tiere pro Monat in einem regionalen Bio-Schlachthof schlachten und zerlegen. Danach hängt das Fleisch eine Woche ab, bevor es in Teilstücken vakuumiert wird.

Das Fleisch vermarktet der Landwirt ebenfalls über seinen Onlineshop und den Lieferservice. Er bietet 4 kg-Fleischpakete für 30 € pro kg und teilweise auch Einzelstücke an. Derzeit gelingt es ihm, bis auf die Knochen das gesamte Tier zu vermarkten. „Auch bei den Innereien wie Herz, Leber oder Niere haben wir eine große Nachfrage“, freut sich Junge. Dank dieses Vermarktungskonzeptes rentiert sich die kuhgebundene Aufzucht „Durch die gute Qualität und die transparente Herkunft akzeptieren unsere Kunden den höheren Preis“, lautet sein Fazit.

Bleibt der Hof in der Familie?

Thilo Junge steht auf der Weide und lässt seinen Blick über die Kühe wandern: „Der Selgenhof ist mein zu Hause geworden“, sagt der Landwirt. Gemeinsam mit seinem Sohn und seinem Herdenmanager plant er momentan einen neuen Kuhstall, in dem er seinen Kühen noch mehr Tierwohl bieten kann. Auch eine Erweiterung der Molkerei wünscht sich die Familie. Diesen Plänen muss das Land Hessen als Eigentümer allerdings erst zustimmen.

Ihr Kontakt zur Redaktion:anna.huettenschmidt@topagrar.com

Zukunft Milch, Mast, Mutterkuh

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