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10 Jahre Nervenkrieg um die Zukunft des Hofes

Lesezeit: 9 Minuten

Keine Betriebsentwicklung, keine Freizeit, kein normales Familienleben: Die Autobahn hat unser bisheriges Leben entscheidend verändert. Diese bittere Bilanz ziehen Silke (42) und Hans-Jürgen Iken (46) nach einem 10-jährigen Nervenkrieg um die Zukunft ihres Hofes. Das Landwirts-Ehepaar aus Hamberge bei Lübeck gehört mit seinen beiden 10 und 13 Jahre alten Kindern zu den Opfern der neuen Autobahn A 20, die von Stettin über Rostock und Lübeck quer durch Schleswig-Holstein und weiter an Hamburg vorbei nach Niedersachsen verlaufen soll. Der 60 ha große Milchvieh- und Ackerbaubetrieb muss einem geplanten Autobahnkreuz weichen, das sich wie ein Spinnennetz über große Teile der betrieblichen Flächen legt. Bange Frage: Sind wir betroffen? Am Anfang stand die Ungewissheit. Sind wir betroffen, oder bleibt unser Betrieb verschont? Niemand konnte oder wollte der Bauernfamilie diese Frage beantworten. Die Behörden hüllten sich in Schweigen. Mehr als zwei Jahre lang gab es keine konkreten Aussagen zum Verlauf der neuen Trasse. Trotzdem wirkten sich schon die Gerüchte negativ auf die Betriebsentwicklung aus. 1991 begannen die ersten Diskussionen um den Neubau der A 20. Familie Iken, die gerade erst einen neuen Boxenlaufstall für 40 Kühe gebaut hatte, wollte die Milchviehhaltung in den nächsten Jahren weiter ausbauen. Doch zunehmend verdichtete sich der Verdacht, dass die Anbindung der neuen Autobahn an die A1 in unmittelbarer Nähe ihres Betriebes erfolgen könnte. Wie bei einem Schicksalsschlag hing von einem Tag auf den nächsten die Zukunft des Betriebes in der Luft, berichtet Hans-Jürgen Iken. Plötzlich ging es am Mittagstisch nicht mehr um die anstehende Ernte oder die Milchleistung der Kühe. Stattdessen fragte sich die Familie: Verkraftet der Betrieb den Flächenverlust und die Autobahnnähe? Können wir hier überhaupt weitermachen? Von Anfang an war eine der schlimmsten Erfahrungen die Isolation. Die Familie fühlte sich als Opfer gebrandmarkt. Als erstes spürte sie dies auf dem Pachtmarkt für Land und Milchquoten. Obwohl der Trassenverlauf noch keineswegs sicher war, bekam Landwirt Iken bei Anfragen mehrfach zu hören: Ihr seid doch sowieso in drei Jahren weg, da wollen wir an Euch nicht mehr verpachten. Damit war schon sehr früh jede weitere, betriebliche Entwicklung eingeschränkt. Bei jeder anstehenden Reparatur oder neuen Maschinen musste sich Iken fragen: Lohnt sich die Geldausgabe überhaupt noch? Allein gelassen fühlten sie sich zunächst auch mit der Informationsbeschaffung. Weder Landwirtschaftskammer noch Bauernverband oder andere Organisationen konnten ihnen weiterhelfen. Mit weiteren Betroffenen gründeten sie daher eine Bürgerinitiative. Gemeinsam engagierte Rechtsanwälte und andere Experten machten ihnen klar, was auf sie zukommt und wie sie sich wehren können. Die Gemeinschaft und der Austausch gaben ihnen außerdem einen gewissen Halt. Bittere Tatsache: Der Hof kommt unter die Räder Nach zwei Jahren in Sorge und Ungewissheit standen Ikens Ende 1993 vor der bitteren Tatsache: Die Autobahn wird direkt vor ihrer Haustür verlaufen. Das Straßenbauamt legte dafür konkrete Pläne vor. Es folgten aufreibende Monate, in denen sich die Familie wappnete, um mit allen rechtlichen Mitteln für den Erhalt ihres Hofes zu kämpfen. Zu den bestehenden Sorgen kam jetzt der Zeitdruck, weil wichtige Fristen nicht versäumt werden durften. Silke Iken gab ihre eigentliche Tätigkeit als Architektin auf. Stattdessen wälzte sie tagelang Gutachten oder telefonierte mit Betroffenen oder Rechtsanwälten. Dabei drehte sich alles um das bevorstehende Planfeststellungsverfahren. Nur Einwände, die darin gegen den geplanten Straßenbau erhoben werden, finden später Berücksichtigung. Das Verfahren endet mit dem Planfeststellungsbeschluss. Anschließend gilt für das überplante Gebiet bis zum Beginn der Bauarbeiten eine Veränderungssperre. Daher müssen geplante Baumaßnahmen bis dahin abgeschlossen sein, oder es muss zumindest eine gültige Baugenehmigung vorliegen. Auch Einwände gegen Behinderungen des Betriebes während der mehrjährigen Bauzeit können nur im Planfeststellungsverfahren erhoben werden. Dazu zählt z. B. die Beweissicherung der Gebäudezustände. Nur damit lassen sich Schäden durch den Baufahrzeugverkehr, Baugruben usw. nachweisen. Gleichzeitig musste das Ehepaar prüfen, ob die Zuwegung zum Betrieb, der Schulweg für die Kinder, der Zugang zu den Viehweiden oder der Grundwasserspiegel der Äcker beeinträchtigt werden. Hierfür schrieben wir mehrseitige Stellungnahmen oder saßen stundenlang beim Rechtsanwalt, beschreibt Landwirtin Silke Iken den immensen Zeitaufwand. Die wichtigste Frage aber lautete: Ist der Betrieb überhaupt noch existenzfähig? Um das vor dem Planfeststellungsbeschluss zu klären, wurde ein Gutachter beauftragt. Und dieser kam zu einem niederschmetternden Ergebnis: Die Autobahn würde den Betrieb von allen Grünlandflächen abschneiden. Schon während der Bauzeit könnten die Kühe nicht mehr auf die Weide, weil bisherige Zuwegungen zum Hof gekappt würden. Eine wirtschaftliche Milchviehhaltung sei damit nicht mehr möglich. Meine Eltern, meine Frau und ich waren schockiert, dass wir nach fünf Generationen auf diesem Hof ohne eigenes Verschulden alles aufgeben müssen, blickt Hans-Jürgen Iken zurück. Auch die Kinder litten unter der neuen Situation. Als klar wurde, dass sie Freunde und vertraute Umgebung verlieren werden, wurden sie immer mutloser und wollten sogar nicht mehr zur Schule. Ihre Betroffenheit machte uns zusätzlich zu schaffen, erinnert sich die Mutter. Zwei Jahre Kampf um die Entschädigung Obwohl ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, steckte die Familie den Kopf nicht in den Sand. Sie musste lernen, sich mit der veränderten Situation abzufinden. Jetzt hieß die neue Strategie nicht mehr, den Hof um jeden Preis zu verteidigen. Von nun an stand der Kampf um den Aufbau einer neuen Existenz im Vordergrund. Doch es sollte weitere zwei Jahre dauern, bis auch nur ein Teilbetrag der Entschädigungssumme ausgezahlt wurde. In dieser Zeit hing der Betrieb finanziell völlig in der Luft. Nach dem Gutachten, das die Existenzbedrohung bescheinigte, hofften Ikens noch auf eine schnelle Entschädigung durch den Bund. Mit diesem Kapital hätten sie sich auf die Suche nach einem neuen Betrieb machen können. Das Land Schleswig-Holstein beauftragte einen Sachverständigen zur Wertermittlung für Gebäude und Flächen. Anschließend gab das Straßenbauamt ein Entschädigungsangebot ab. Doch dieses war der Familie viel zu niedrig. Der uns diktierte Gutachter hatte ohne nachvollziehbaren Grund die Gebäudewerte absolut zu niedrig angesetzt. Man wollte uns mit einem Bruchteil des tatsächlichen Wertes abspeisen, macht der Landwirt seinem Ärger Luft. Weil er und seine Frau das Angebot ablehnten, schloss sich ein Enteignungsverfahren an. Alle für den Straßenbau benötigten Flächen gingen dabei zunächst ohne Entschädigung in den Besitz des Bundes über, damit die Bauarbeiten nicht behindert wurden. Wir hofften jedoch zumindest auf eine Abschlagszahlung, um überhaupt Geld für einen neuen Betrieb zur Verfügung zu haben, erläutert der Betriebsleiter. Doch Monat um Monat verging, es passierte nichts. Fast zwei Jahre lang lief der Betrieb auf Sparflamme weiter eine verlorene Zeit. Jeden Tag rechnete die Familie damit, dass die Bauarbeiten beginnen und sie das Geld bekommen. Mit diesem Startkapital hätten sie sich sofort nach einem Ersatzbetrieb umsehen können. Wir haben daher nur noch das nötigste auf dem Betrieb getan, so der Landwirt. Erst als Mitte 1998 die ersten Baufahrzeuge anrückten, floss ein Teil des Geldes. Doch mit dem Baubeginn kamen weitere Probleme: Weil die wichtigste Weidefläche des Betriebes für den Straßenbau benötigt wurde, konnten die Kühe nur noch im Stall gehalten werden. Das Futter mussten Ikens auf weit entfernten Naturschutzflächen ernten die einzigen Flächen, die sie noch nutzen konnten. Das Melken wurde zur Quälerei, die Milchleistung sank um 25 %, die Arbeit machte keinen Spaß mehr, denkt Iken mit Grausen an diese Zeit zurück. Auf der Suche nach einer neuen Existenz Mit der ausgezahlten Mindestentschädigung konnten sich die Familie endlich auf die Suche nach einem Ersatzbetrieb machen. Doch auch dieses nervenaufreibende Unterfangen zog sich über fast zwei Jahre hin. Die Mehrfachbelastung wurde zur Zerreißprobe. Die ersten Angebote von Maklern oder Landgesellschaften, waren indiskutabel. Es handelte sich dabei nur um Resthöfe oder Betriebe ohne wirtschaftliche Perspektive. Daraufhin schaltete das BetriebsleiterEhepaar eigene Suchanzeigen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften, meldeten sich schriftlich und telefonisch auf viele Verkaufsanzeigen und verfuhren tausende von Kilometern, um Betriebe und Flächen in vier Bundesländern zu prüfen. Nebenbei mussten sie melken und sich um den laufenden Betrieb kümmern. Weitere Erschwernisse kamen hinzu. So mussten die Kinder weil die Busverbindungen bereits weggefallen waren täglich mit dem Auto zur Schule oder zu Freunden gefahren werden. Nur durch die Unterstützung meiner Eltern konnten wir das durchstehen, blickt Iken zurück. Etwas einfacher wurde es, als sie im April 2000 die Kühe endgültig abschafften. Seither sichern nur noch die Erlöse aus dem Ackerbau die Existenz bis Ende des Jahres 2002. Dann sollen wir hier ausgezogen sein, das Straßenbauamt plant schon unsere Hofgebäude als Baustellenunterkunft ein, beschreibt Iken die für einen engagierten Betriebsleiter mehr als belastende Situation. Ende des Nervenkrieges nicht in Sicht Immerhin: Bei der Suche nach einem neuen Zuhause ist die Familie inzwischen doch noch fündig geworden. Den bisher ausgezahlten Teil der Entschädigung investierte sie in Ländereien in MecklenburgVorpommern. Zukünftig wollen Ikens nur Ackerbau betreiben; zum Aufbau einer neuen Kuhherde mit Stall würde das Kapital aus der Entschädigung nicht ausreichen. Doch damit ist der Leidensweg der Familie nicht beendet. Denn eine Hofstelle existiert auf dem neuen Besitz noch nicht. Außerdem sind die meisten Flächen verpachtet und können erst ab 2005 selbst bewirtschaftet werden. Ihren Lebensunterhalt sichern sie bis dahin nur über die Pachteinnahmen. Wir müssen uns dort jetzt irgendwo einmieten, um die neue Hofstelle aufzubauen, so die nächsten Pläne von Silke und Hans-Jürgen Iken. Parallel dazu verhandeln sie noch um den Restbetrag der Entschädigung. Wie lange sich das hinziehen wird, wissen sie nicht. Rückblickend hat die Autobahn das Leben der Familie völlig auf den Kopf gestellt. Zehn Jahre lang war die nervliche und zeitliche Belastung durch den Vielfrontenkrieg immens. Doch auch finanziell wurden Ikens durch zahlreiche Kosten und Mindereinnahmen immer mehr an den Rand der Existenzbedrohung getrieben: Schaden durch zehn Jahre fehlende Betriebsentwicklung; dadurch auch entsprechend niedrigere Entschädigungssumme; entgangene Einnahmen, weil Silke Iken ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte; Anwalts- und Maklerkosten; Kosten für unzählige Telefonate und Briefe; tausende verfahrene Kilometer für die Betriebssuche; Kosten für die Umsiedlung, den Aufbau der neuen Hofstelle und den Maschinenpark. Ikens trauriges Fazit: Diese Kosten erstattet einem niemand! H. Neuman

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