Seit vielen Jahren lasse ich mir die Haare von einer befreundeten Milchbäuerin schneiden – abends nach der Stallarbeit. Einmal drübergeschoren, Augenbrauen und die Haare in den Ohren gestutzt und gut ist’s!
Kürzlich saß ich nach langer Zeit wieder einmal in einem richtigen Salon. Von meinem Sohn – stolzer Träger eines Vollbartes – bekam ich einen Gutschein: Haare schneiden und Messerrasur beim Kultbarbier. Dessen Wartezimmer ist immer voll. Ein halbes Dutzend Schönheitskünstler scheren dort ein Schaf nach dem anderen.
Die Rasur war so gründlich, dass mich mein Spiegelbild wieder an das Milchgesicht meiner Jugend erinnerte. Und an meinen Großvater, wie er samstags mit geschärftem Messer und eingeschäumtem Gesicht in Todesverachtung am Stubentisch vor dem Spiegel saß. Nicht immer ist’s gut gegangen. Mich wundert es, dass dieser Barbier so gut auf der „Retro-Welle“ surft.
Diese Liebe zu den guten Dingen von früher bezieht sich offenbar auch auf die Ernährung. Seit zwei Wochen betreiben wir eine Zapfanlage für Rohmilch am Hof. Es war eine schwere Geburt: Lohnt sich der Aufwand in unserer Lage? Gibt es genügend Menschen, die Milch direkt aus dem Kuhstall und im Schatten des Misthaufens kaufen? Was, wenn die Leute die Milch nicht abkochen und die unangenehmen Folgen für ihre verweichlichten Gedärme mir in die Schuhe schieben?
Nach den ersten Wochen stelle ich erleichtert fest: Ja, es gibt diese „ewig gestrigen Retro-Stil Fetischisten“, die den unverfälschten Geschmack von Milch genießen wollen. Mein Wartezimmer ist zwar nicht so voll wie beim Barbier, aber es freut mich ungemein, dass meine Milch nicht mehr nur anonym versickert, sondern ich Menschen treffe, welche sie trinken.
Ich muss mich auch bei diesem Barbier bedanken für diese Erkenntnis. Und natürlich auch für die Verschönerung meines Kopfes. Ohne ihn wäre das längst überfällige neue Foto nicht so wunderschön geworden und wie man sieht, sind die Ohren noch dran.Herzlichst
Ihr Hans Neumayer