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Reserveantibiotika – was ist künftig noch erlaubt?

Lesezeit: 8 Minuten

Mitte September stimmt das EU-Parlament darüber ab, welche Antibiotika künftig nur noch bei Menschen angewendet werden dürfen. Tierärzte warnen vor einem Therapienotstand.


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Jeder Antibiotikaeinsatz fördert die Bildung von Resistenzen. Daran lässt sich nicht rütteln. Die Bakterien versuchen, sich der für sie tödlichen Wirkung des Antibiotikums zu entziehen, indem sie sich anpassen und verändern. Sie entwickeln gegen den eingesetzten antimikrobiellen Wirkstoff eine Resistenz. Dabei gilt: Je häufiger ein Antibiotikum eingesetzt wird, desto größer ist die Resistenzgefahr.


Deshalb wird seit Langem gefordert, den Einsatz der Antiinfektiva auf ein Minimum zu beschränken. Das gilt für die Human- ebenso wie für die Tiermedizin. Beides gehört zusammen, denn Resistenzen kennen keine Artengrenze. Sie können sich rasch zwischen Mensch, Tier und Umwelt verbreiten. Experten fordern deshalb einen sogenannten One-Health-Ansatz, bei dem alle Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tier und Umwelt berücksichtigt werden.


Reserveantibiotika definieren


Die häufige Anwendung bestimmter Antibiotikaklassen hat ihre Wirksamkeit gegen einige Erreger bereits deutlich vermindert. Gleichzeitig sind neue antimikrobielle Wirkstoffe aufgrund extrem hoher Forschungs- und Entwicklungskosten in nächster Zeit kaum zu erwarten. Und wenn, dann wird ihr Einsatz ohnehin der Humanmedizin vorbehalten sein.


Aus diesem Grund sollen einige der vorhandenen Wirkstoffgruppen jetzt für die Behandlung lebensbedrohlicher Infektionen bei Menschen reserviert werden. Die Rede ist von sogenannten Reserveantibiotika. Bei Tieren dürfen diese Substanzen dann künftig nicht mehr eingesetzt werden, auch nicht in Einzelfällen.


In der Tierarzneimittelverordnung (EU) 2019/6, die im Jahr 2019 verabschiedet wurde und im Januar 2022 in allen EU-Mitgliedstaaten in Kraft tritt, sollen jetzt die Kriterien festgelegt werden, nach denen die antimikrobiellen Wirkstoffe künftig eingeteilt werden.


Als Reserveantibiotika, die künftig nur noch in besonderen Fällen in der Humanmedizin eingesetzt werden sollen, sind die Fluorchinolone sowie die Cephalosporine der dritten und vierten Generation im Gespräch. Um die Zuordnung von Makroliden und Colistin wird noch gerungen.


Wissenschaftlich fundiert


Die EU-Kommission hat dazu einen Vorschlag erarbeitet. Er basiert auf wissenschaftlichen Auswertungen der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) und wurde in enger Abstimmung mit der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), dem Europäischen Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC), der Welttiergesundheitsorganisation (OIE) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) formuliert.


Einigen Abgeordneten des EU-Parlaments gehen die Vorschläge der Kommission jedoch nicht weit genug. Getrieben durch die Deutsche Ärztekammer hat die Fraktion Die Grünen einen Entschließungsantrag eingebracht und so den Kommissionsvorschlag am 13. Juli 2021, als im zuständigen EU-Ausschuss darüber abgestimmt wurde, auf den letzten Metern zu Fall gebracht.


Jetzt soll das EU-Parlament Mitte September abschließend darüber abstimmen, welche Wirkstoffklassen künftig für die Humanmedizin reserviert werden. Und es besteht die Gefahr, dass die Parlamentarier die von den Grünen geforderte Verschärfung akzeptieren, um nicht noch einmal das gesamte Paket neu verhandeln zu müssen.


Tierärzte schlagen Alarm


Der Europäische Tierärzteverband (FVE)und der deutsche Verband Praktizierender Tierärzte (bpt) reagieren darauf alarmiert. Sie unterstützen den wissenschaftlich basierten Vorschlag der EU-Kommission. Sie warnen jedoch eindringlich vor einer weiteren Verschärfung der Kriterien wie sie die Grünen fordern.


Die Argumente der Tierärzteschaft sind stichhaltig. „Den wenigsten Politikern bzw. Hunde- und Katzenbesitzer*innen dürfte bewusst sein, dass Antibiotika, die auf der Reserveliste stehen, künftig nicht nur für die Anwendung bei lebensmittelliefernden Tieren verboten sind, sondern auch zur Behandlung von Pferden, Hunden und Katzen“, gibt bpt-Präsident Dr. Siegfried Moder zu bedenken.


Drohender Therapienotstand


Für die Behandlung von Tieren stehen im Vergleich zur Humanmedizin ohnehin nur wenige Antibiotikaklassen zur Verfügung. Die jetzt geforderte Verschärfung würde zum Wegfall der Hälfte aller derzeit noch für Tiere zugelassenen Antibiotika führen. Das hätte bei vielen Erkrankungen einen Therapienotstand zur Folge.


Die Auswirkungen auf das Wohl und die Gesundheit der Tiere wären erheblich, fürchten die Veterinärmediziner. Dazu einige Beispiele aus der Praxis:


  • Rinder: Werden auch Makrolide den Reserveantibiotika zugeordnet, hätte dies ernsthafte Folgen für die Mastitisbehandlung bei Kühen. Denn nur gut die Hälfte der dafür verantwortlichen Staphylococcus aureus-Erreger reagiert noch empfindlich auf Penicillin. Die restlichen 40% werden derzeit mit dem Makrolidwirkstoff Tylosin behandelt.


Wäre Tylosin künftig nicht mehr für die Behandlung von Kühen zugelassen, könnte knapp die Hälfte der von Staphylococcus aureus verursachten Mastitiden nicht mehr behandelt werden.


Große Probleme gäbe es auch bei der Behandlung von Atemwegserkrankungen in der Mast mit One-Shot-Präparaten, die die Wirkstoffe Tulathromycin, Gamythromycin oder Telithromycin enthalten. One-Shot-Präparate sind hier sowohl aus Sicht des Tier- als auch des Arbeitsschutzes die erste Wahl, weil sie nur einmal verabreicht werden müssen. Bei einem Makrolidverbot stünden sie künftig aber nicht mehr zur Behandlung von Tieren zur Verfügung.


  • Schweine: Auch bei Schweinen würde die Behandlung komplexer Atemwegserkrankungen, an denen mehrere Erreger beteiligt sind, deutlich erschwert. Anstelle eines One-Shot-Antibiotikums, das mehrere Erreger abdeckt, müssten verschiedene Präparate eingesetzt werden, was die Resistenzproblematik eher verschlimmert als verbessert. Wichtige One-Shot-Präparate, die die Wirkstoffe Tulathromycin, Gamythromycin oder Telithromycin enthalten, könnten ihre Zulassung für Schweine ganz verlieren.


Aber auch die Behandlung akut an PIA erkrankter Schweine mit Tylosin oder unter der Ödemkrankheit leidender Ferkel mit Colistin wäre nicht mehr möglich.


  • Geflügel: Zur Behandlung akuter E.coli-Infektionen bei Legehennen mit septikämischem Verlauf (Toxinanflutung im Blut) steht zurzeit eigentlich nur Colistin zur Verfügung. Sollte es für die Behandlung von Tieren künftig nicht mehr zugelassen sein, wären Coliinfektionen bei Legehennen künftig nicht mehr therapierbar.


Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von Tylosin aus der Gruppe der Makrolide zur Behandlung der Mykoplasmose bei Hühnern und Puten. Auch hier gibt es keine vergleichbar wirksamen Behandlungsalternativen. Die Tiere müssen bei ersten Krankheitsanzeichen aber schnell antibiotisch behandelt werden, da sie sonst qualvoll ersticken können.


Mykoplasmen sind zudem an Gelenkproblemen beteiligt. Hühner und Puten im fortgeschrittenen Infektionsstadium können nicht mehr aufstehen, um Wasser oder Futter aufzunehmen.


  • Pferde: Zur antibiotischen Behandlung von Lungenerkrankungen bei Fohlen und Uterusentzündungen bei Stuten sind Cephalosporine und Makrolide die Mittel erster Wahl. Würden beide Wirkstoffgruppen für Tiere verboten, wäre eine Behandlung deutlich erschwert.


Gefahr für Menschen


Aber auch für die menschliche Gesundheit und die Lebensmittelsicherheit hätte ein weitreichendes Antibiotikaverbot für Tiere ernsthafte Konsequenzen. Denn mehr als die Hälfte aller Erkrankungen beim Menschen werden durch Zoonoseerreger hervorgerufen, d.h. sie sind vom Tier auf den Menschen übertragbar. Dazu gehören unter anderem die Leptospirose, Infektionen mit dem gefürchteten Krankenhauskeim MRSA (Methicillinresis-tenter Staphylococcus aureus) sowie Durchfallererkrankungen, die durch E.coli-Bakterien, Salmonellen oder Campylobacter ausgelöst werden.


„Mit Blick auf die Resistenzbildung ist eine weitere Einschränkung der für Tiere noch zugelassenen Antibiotika sogar kontraproduktiv“, gibt bpt-Präsident Dr. Moder zu bedenken. Denn wenn nur wenige Antibiotika zur Verfügung stehen, erhöhe sich dadurch der Selektionsdruck auf die Bakterien. Die Bildung von Resistenzen werde dadurch beschleunigt statt verlangsamt.


Wirkstoffspektrum erhalten


Um kranke Tiere weiterhin tierschutzgerecht und gezielt behandeln zu können, ist es nach Auffassung der Tierärzteschaft daher wichtig, ein möglichst breites Spektrum von antimikrobiellen Wirkstoffen zu erhalten.


Dass Tierärzte und Landwirte verantwortungsvoll mit antimikrobiellen Wirkstoffen umgehen können, beweist allein schon die Tatsache, dass es gelungen ist, den Antibiotikaeinsatz bei Masttieren in den letzten elf Jahren um rund 60% zu reduzieren. Inzwischen ist der Antibiotikaverbrauch in der Human- deutlich höher als in der Veterinärmedizin.


Bereits seit 20 Jahren werden in den deutschen Nutztierbeständen zudem freiwillig Antibiotikaleitlinien angewendet, die die Bundestierärztekammer gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Leitender Veterinärbeamter (ArgeVet) erarbeitet hat.


Zum verantwortungsvollen Umgang mit antimikrobiellen Wirkstoffen gehört auch, dass in bestimmten Fällen wie z.B. der Behandlung mit Fluorchinolonen oder Cephalosporinen der dritten und vierten Generation zuvor ein Resistenztest durchgeführt werden muss. So schreibt es die Tierärztliche Hausapothekenverordnung (TÄHAV) vor. In der Humanmedizin sind Wirksamkeitstests dagegen immer noch die Ausnahme.


An einem Strang ziehen


Beim europäischen Tierärzteverband FVE ist man davon überzeugt, dass sich die Resistenzproblematik in der Humanmedizin selbst dann nicht lösen ließe, wenn in der Tiermedizin überhaupt keine Antibiotika mehr eingesetzt werden dürften. Der Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen sei vielmehr eine Gemeinschaftsaufgabe der Human- und der Veterinärmedizin, die sich nur gemeinsam und mit dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen One-Health-Ansatz lösen lasse.


henning.lehnert@topagrar.com


konstantin.kockerols@topagrar.com

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