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Weidemilch wird zum Reizthema

Lesezeit: 8 Minuten

Das Projekt „Weideland Niedersachsen“ erhitzt die Gemüter. top agrar hat mit Initiatoren, Befürwortern und Gegnern gesprochen.


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Heiko Holthusen aus Harrierwurp bei Brake lässt seine Kühe auf die Weide. Das macht er schon seit 30 Jahren. Er bewirtschaftet einen reinen Grünlandbetrieb in einer der größten zusammenhängenden Grünlandregionen Deutschlands, der Wesermarsch entlang der Unterweser und der Nordseeküste (siehe Seite R 10).


Weidehaltung ist dort nichts Besonderes, sie hat eine lange Tradition. Doch Heiko Holthusen praktiziert sie auch aus Überzeugung. „Es gibt nichts Schöneres, als morgens die Kühe auf die Weide zu lassen“, schwärmt er. Die Milch liefert Holthusen an ein spezielles Weidehaltungs-Programm seiner Molkerei.


Neues Weideland-Programm:

Der Trend in Deutschland geht jedoch eindeutig zur Stallhaltung. Um dem entgegenzuhalten, hat das Land Niedersachsen vor einem Jahr das Programm „Weideland Niedersachsen“ ins Leben gerufen. „Weidegang von Milchkühen trägt wesentlich zum positiven Image der Milchwirtschaft bei, diesen guten Ruf der Milchwirtschaft müssen wir erhalten“, sagt der niedersächsische Landwirtschaftsminister Christian Meyer.


Zum Auftakt des Programmes überreichte Meyer dem Grünlandzentrum Niedersachsen/Bremen einen Zuwendungsbescheid in Höhe von 228 500 €. Dieses soll Kriterien für ein Weidemilch-Label definieren und eine Vermarktungsstruktur aufbauen, um die regionalen Warenströme zu garantieren und besondere Leistungen wie eben die Weidehaltung zu honorieren.


Die Georg-August-Universität Göttingen ist ebenfalls an dem dreijährigen Projekt beteiligt. Sie bekommt 47 000 € für die Untersuchungen zur Vermarktung und zum Marketing. „Grünland ist für die Milchproduktion weiterhin unerlässlich, aber wir sehen immer weniger Kühe darauf“, erklärt Dr. Cord Stoyke vom niedersächsischen Landwirtschaftsministerium.


Weidekühe als Imageträger:

Grünland sei aber nicht nur ein Produktionsfaktor für die Landwirtschaft, son-dern erfülle vielfältige Aufgaben und Schutzfunktionen im Gewässer- und Klimaschutz, der Artenvielfalt und dem Erhalt regionaltypischer Landschaften. „Wenn nach dem Wegfall der Milchquote die Milchproduktion an den Gunststandorten ausgeweitet wird, müssen die Weidekühe als Imageträger erhalten bleiben.“


Landwirt Holthusen hat 240 solcher schwarz-weißen Imageträger auf der Weide: „Ich arbeite gerne vielseitig, nicht nur im Stall, auch in und mit der Natur.“ Er und seine Frau Heike haben außer der Milchviehhaltung noch Ferienwohnungen und die Pensionspferdeaufzucht auf Weiden als Standbeine. So haben sie regelmäßig Kontakt mit Menschen, die nicht aus der Landwirtschaft kommen und keine Fachkenntnis haben. „Es wird viel über die Landwirtschaft geredet. Wir Landwirte müssen uns da noch viel mehr öffnen, unsere Betriebe zeigen und Wissen vermitteln“, wünscht er sich, „und unsere Wesermarsch ist nur deshalb so schön, weil wir sie als Kulturlandschaft bewirtschaften.“


Ähnlich sehen es Dr. Arno Krause, Geschäftsführer des Grünlandzentrums und Anne Francksen, die das Weidemilchprojekt koordiniert: „Wir möchten den Kommunikationsprozess rund um Weidehaltung und Weidemilch begleiten und möglichst breit akzeptierte Standards erarbeiten“, sagen sie.


Die Gesellschaft habe bestimmte Erwartungen, die über die eigentliche Produktqualität hinausgehen. In Umfragen seien die Verbraucher oft bereit, mehr für Produkte mit höherem Aufwand zu zahlen – um sich dann an der Ladentheke anders zu entscheiden. „Es würde der praktischen Landwirtschaft deutlich mehr Sicherheit geben, wenn die Mehrpreisbereitschaft den Ansprüchen an Produkt- und Prozessqualität entspräche“, erklärt Krause.


Weidemilch klar definieren!

Das gilt auch für die Weidemilch. Allerdings hat die Branche hier auf jeden Fall einheitliche Kriterien und Standards nötig. Denn was ist überhaupt Weidemilch?


Ist Weidemilch Milch, die auf Vollweide aus Gras erzeugt wurde? Vollweidesysteme gibt es in Irland, Neuseeland oder in der Schweiz. Diese Milch hat eine etwas andere Zusammensetzung des Milchfettes, insbesondere höhere Gehalte an mehrfach ungesättigten Fettsäuren wie Omega-3-Fettsäuren und höhere Gehalte der fettlöslichen Vitamine A, seiner Vorstufe ß-Carotin und Vitamin E. Dabei darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass in diesen Ländern die Kühe ein deutlich niedrigeres Leistungsniveau haben. In Deutschland wäre diese Milch dann nur ein Saisonprodukt.


Oder ist Weidemilch Milch von Kühen, die eine bestimmte Zeit Weidegang erhalten? So machen es zum Beispiel die Niederländer, unter anderem das Unternehmen FrieslandCampina, die mindestens sechs Stunden Weidegang an 120 Tagen fordern. Oder auch die Molkerei Ammerland mit ihrer „Ini-tiative Weidehaltung“, an die Familie Holthusen liefert.


Seit 2011 können die Milcherzeuger der Genossenschaft aus Wiefelstedt-Dringenburg an dem Programm „Initiative Weidehaltung“ teilnehmen. Die ersten 300 Betriebe bildeten damals eine separate Erfassungstour. Ende 2014 nahmen bereits 1 017 der rund 2 000 Milchlieferanten teil. Sie erhalten eine Aufwandsentschädigung von 500 €.


Die Milch wird unter der Marke Ammerländer vermarktet und als Ammerländer Milch mit einem Aufdruck Initiative Weidehaltung ausschließlich im Nordwesten Deutschlands im regionalen Einzelhandel und im Markendiscount verkauft. „Unsere Marke steht für Regionalität, die Höfe liegen in einem Umkreis von maximal 80 km um die Molkerei. Alle Betriebe bieten ihren Tieren sechs Stunden Weidegang an 120 Tagen, einige bis zu 200 Tage“, erklärt Geschäftsführer Ralf Hinrichs. „Weil wir die Weidemilch getrennt erfassen und das nachvollziehbar dokumentieren, haben wir eine Transparenz, die zu einer hohen Verbraucherakzeptanz führt.“


Transparenz gefordert:

Transparenz und nachvollziehbare Kriterien in der Weiterentwicklung von Weidemilch fordern auch die Verbraucherzentralen. Denn teilweise nicht belegte oder näher konkretisierte Werbeattribute wie Heumilch, Alpenmilch oder GVO-freie Milch gibt es in der Ernährungsbranche schon genügend.


„Für Weidemilch muss es einheitliche Standards geben. Weidemilch darf nur als solche gekennzeichnet sein, wenn sie den einheitlichen Kriterien entspricht“, verlangt Anneke von Reeken von der Verbraucherzentrale Niedersachsen.


Auch Sönke Voss, verantwortlich für den Bereich Landwirtschaft/Rohstoffe beim Deutschen Milchkontor DMK, verweist auf nachvollziehbare Kriterien für Weidemilch. Ein hoher einheitlicher Standard in der gesamten Milchbranche sei entscheidend, um den Ansprüchen an Qualität und Transparenz zu genügen.


Das DMK führt derzeit keine als Weidemilch bezeichneten Produkte. Voss: „Unsere Milcherzeuger kommen aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Die Betriebe weisen daher eine heterogene Betriebsstruktur mit unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten, strukturellen Entwicklungen und betrieblichen Möglichkeiten auf.“


Keinen Druck aufbauen!

Kristine Kindler, Geschäftsführerin der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen beklagt den Druck auf die Branche: „Aktuell wird von verschiedenen Seiten Druck aufgebaut, Weidemilch zu erzeugen bzw. Kühen sommerlichen Weidegang zu ermöglichen. Dass Kühe auf der Weide und ihre Weidemilch das Image einer Region steigern, ist unstrittig. Es ist aber anzuerkennen, dass je nach Standort und individuellen Gegebenheiten eines jeden Milchviehbetriebs Weidegang nicht immer möglich oder sinnvoll ist.“ Bei hohen Niederschlagsmengen kann es Probleme mit Schlamm und verdreckten Eutern geben, bei hohen Temperaturen mit Hitzestress.


Klar ist auch, dass Weidehaltung arbeitsintensiv und für Hochleistungskühen nicht ohne Probleme ist: Es gibt deutliche Unterschiede im Zuwachs des Grünlandes in den einzelnen Nutzungsterminen. Diese müssen erfasst und berücksichtigt werden, um eine gleichmäßige Futter- und Nährstoffaufnahme sicherzustellen. Sonst sinkt die Milchleistung oder es entstehen große Weidereste und Futterverluste.


In einem von 2011 bis 2013 durchgeführten Projekt der Landwirtschaftskammer Niedersachsen auf vier Weidebetrieben ergaben sich Maximalwerte von 95 dt Trockenmasse oder knapp 65 000 MJ NEL je Hektar. Allerdings war das Ertragspotenzial von Weideflächen auf verschiedenen Standorten erwartungsgemäß sehr unterschiedlich, sodass das regelmäßige Messen des Aufwuchses unabdingbar ist. Die relativen Anteile des Weidefutters an der Deckung des Gesamtenergiebedarfes der Kühe lagen lediglich zwischen 22,4 und 28,4 %. Somit stellte das Weidegras in den vier Betrieben lediglich ein Zusatzfutter dar.


„Wer Milch aus Gras ermelken will, muss hungrige Kühe auf die Weide schicken“, stellt Dirk Albers, Leiter der Feldversuchsstation für Grünlandwirtschaft und Rinderhaltung der Landwirtschaftskammer, fest. Wer höhere Milchleistungen bei Weidegang erzielen wolle, müsse höhere Kraftfuttergaben verabreichen und unbedingt für einen Strukturausgleich in Form von Silagen oder Heu sorgen, damit die Tiere nicht an Pansenstörungen erkranken.


Stundenweide nicht akzeptiert.

Außerdem sollten die Kühe bei Weideaustrieb im Frühjahr nur halbtags geweidet werden und weiter eine strukturreiche Ration im Stall über mindestens 14 Tage erhalten, erklärt der Rinderfachmann weiter. So können sich die Pansenbakterien auf die neue Fütterungssituation einstellen. Zu schnelles Umstellen führt zu Pansenstörungen und späteren Folgeerkrankungen.


Bei Frischmelkern und Hochleistungstieren mit einer Tagesmilchmenge über 30 Liter und Färsen über 25 Liter rät Albers bei Weidegang zu besonderer Aufmerksamkeit.


Diese Tiere befinden sich oft ohnehin in einem Energiedefizit und können ihren Energie- und Nährstoffbedarf mit Weidegras und den oben genannten Kraftfuttermengen nicht decken. Die Folgen sind eine Vergrößerung des Energiedefizites, eine deutliche Abnahme des Körpergewichtes und in­folgedessen das Auftreten von Stoffwechselentgleisungen wie Ketose, Fruchtbarkeitsstörungen und Klauenerkrankungen.


„Nicht nur aus Gründen des Tierwohls sollten diese Tiere nur stundenweisen Weideaufenthalt bekommen und das Gros ihres Futters im Stall erhalten, wo Energie- und Nährstoffdichte der Ration ebenso wie die Futteraufnahme kontrolliert werden können“, sagt Albers.


Doch hier entsteht ein weiteres Problem: Der Verbraucher akzeptiert den stundenweisen Auslauf auf der „Jogging- oder Siestaweide“ für Frischmelker nicht als Weidemilch. Die Wissenschaftler der Uni Göttingen fanden in ihren Umfragen zum Marketingtrend Weidemilch heraus, dass die Akzeptanz und damit auch die Zahlungsbereitschaft für die Bezeichnung Weidemilch mit abnehmender Beweidungsdauer und steigender Zufütterung im Stall sinkt.


Künftig mehr Weidekühe?

Nicht nur deshalb ist derzeit offen, ob das Weideland-Projekt in Niedersachsen zu mehr Milchkühen auf der Weide führen wird.


Familie Holthusen wird ihren Kühen auf jeden Fall weiterhin Weidegang anbieten. Denn sie sind von den Vorteilen der Weidehaltung und dem für sie bewährten Bewirtschaftungssystem überzeugt. Angelika Sontheimer

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