Personalmangel, Nachwirkungen der Corona-Pandemie, Inflation und Teuerung, soziales Ungleichgewicht: Die psychischen Belastungen bei Berufstätigen haben in den ersten Monaten dieses Jahres drastisch zugenommen.
Laut Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse sind die Fehlzeiten wegen seelischer Leiden vom ersten Halbjahr 2022 auf das erste Halbjahr 2023 um 85 % gestiegen – so stark wie nie in der jüngeren Vergangenheit. Demnach kamen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres auf 100 KKH-Mitglieder 303 Ausfalltage. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 164 Tage.
„Diese Entwicklung ist alarmierend, denn wir haben schon jetzt fast das Niveau des gesamten Jahres 2022 erreicht“, sagt KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick. „Mit Blick auf die Jahre zuvor liegen wir sogar schon über dem Durchschnitt.“ Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 registrierte die KKH 339 Fehltage pro 100 Mitglieder aufgrund von Depressionen, Anpassungsstörungen, Angststörungen & Co., 2021 und 2020 waren es 287 und im Vor-Corona-Jahr 2019 rund 274 Tage.
Immer mehr Menschen werden arbeitsunfähig
Neben dem Fehlzeitenhoch registriert die KKH auch eine Zunahme der Krankheitsfälle aufgrund seelischer Leiden. So stieg die Arbeitsunfähigkeitsquote (AU-Quote), also die Zahl der Krankschreibungen im Verhältnis zu den berufstätigen Mitgliedern, im ersten Halbjahr 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 32 %.
„Der besonders starke Zuwachs bei den Fehlzeiten deutet darauf hin, dass es zunehmend schwere, langwierige Fälle von psychischen Erkrankungen gibt“, sagt Antje Judick. Die Arbeitspsychologin beobachtet diese Entwicklung mit Sorge, auch mit Blick auf diejenigen Kollegen, die solche Arbeitsausfälle abfedern müssen und so selbst einen Burnout oder andere erschöpfungsbedingte psychische Erkrankungen entwickeln können. Die längsten Fehlzeiten von durchschnittlich 112 beziehungsweise 71 Tagen gingen im ersten Halbjahr 2023 auf wiederkehrende Depressionen und depressive Episoden zurück.
Akute Belastungsreaktionen
Am häufigsten diagnostizierten Ärzte hingegen akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen. Sie machen mit aktuell 41 % nicht nur die Mehrheit aller psychisch bedingten Krankschreibungen aus. Hier stieg die AU-Quote auch am stärksten an (plus 42 %).
„Dies zeigt wiederum, dass immer mehr Arbeitnehmer unter ungewöhnlichem Druck, großen Belastungen und Dauerstress stehen“, erläutert Judick. Besonders betroffen seien Beschäftigte in sozialen Berufen wie in der Alten- und Krankenpflege, in der Kinderbetreuung sowie im Verkauf.
forsa-Umfrage belegt Stress der Arbeitsnehmer
Eine forsa-Umfrage im Auftrag der KKH bestätigt den hohen Stresslevel bei Erwerbstätigen: So fühlen sich 90 % von ihnen zumindest gelegentlich gestresst, rund die Hälfte davon sogar häufig oder sehr häufig. Knapp 60 % der Berufstätigen sagen zudem, der Stress habe in den vergangenen ein bis zwei Jahren zugenommen.
Neben der Ausbildung beziehungsweise dem Beruf sowie aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel und Inflation (je 47 %) sind es vor allem die hohen Ansprüche an sich selbst, die Arbeitnehmer als besonders stressig empfinden. Dies geben 51 % der befragten Erwerbstätigen an.
Weitere Stressfaktoren sind etwa die ständige Erreichbarkeit über Smartphone und soziale Netzwerke (37 %) sowie finanzielle Sorgen (24 %). Darüber hinaus fühlen sich fast zwei Drittel der Berufstätigen unter Stress erschöpft und ausgebrannt. Bei jedem Dritten sind niedergedrückte Stimmungen und Depressionen die Folge. Jeder sechste Berufstätige leidet unter stressbedingten Angstzuständen.
Das Meinungsforschungsinstitut forsa hat im Auftrag der KKH 1.004 Personen im Alter von 18- bis 70-Jahren im Mai 2023 deutschlandweit repräsentativ telefonisch befragt, darunter 722 Erwerbstätige.