Einloggen / Registrieren

Startseite

Schlagzeilen
Newsletter
Messen & Termine
Themen
Wir für Euch
Heftarchiv
Sonstiges

Bürokratieabbau Agrarantrag 2024 Maisaussaat Erster Schnitt 2024

topplus Aus dem Heft

Hat die Kuh bald ausgedient?

Lesezeit: 10 Minuten

Fermentation betreibt die Menschheit seit Jahrtausenden. Ihre biotechnologische Weiterentwicklung namens Präzisionsfermentation wird die Milch- und Rindfleischindustrie umwälzen. So jedenfalls lautet die These der amerikanischen Denkfabrik „RethinkX“.


Das Wichtigste zum Thema Perspektiven dienstags, alle 14 Tage per Mail!

Mit Eintragung zum Newsletter stimme ich der Nutzung meiner E-Mail-Adresse im Rahmen des gewählten Newsletters und zugehörigen Angeboten gemäß der AGBs und den Datenschutzhinweisen zu.

Seit Jahren werden analoge Fleischersatzprodukte hergestellt. Aber oft waren die pflanzlichen Alternativen in Geschmack und Beschaffenheit nicht gut genug, um Fleischesser in nennenswerter Zahl zum Umstieg zu bewegen. Mittlerweile hat die Produktentwicklung Quantensprünge gemacht und spricht mehr als nur Vegetarier an. Pflanzliche Lebensmittel, die auf Basis von Verfahren wie der Präzisionsfermentation (PF) gewonnen werden, haben diese Mängel nur noch selten. Zurzeit wird das Verfahren vor allem für die Anreicherung und damit Aufwertung von pflanzenbasierten Produkten genutzt. Dadurch verbessert sich neben Qualität und Geschmack die oft pro-blematische Proteinversorgung: Essenzielle, durch den Körper nicht selbst herstellbare Aminosäuren können maßgeschneidert erzeugt werden.


Das ist keine Zukunftsmusik, sondern bereits Realität: Das kalifornische Start-up „Impossible Foods“ ist eines der führenden Hersteller von Hackfleisch-Alternativen auf Basis dieses modernen Verfahrens. Es setzt Häm-Protein ein, das es mittels der präzisen Fermentation gewinnt. Dadurch imitiert es den eisenreichen Geschmack des roten Blutfarbstoffes. So erhält das Produkt einen täuschend echten, fleischigen Geschmack und die saftige Optik. Das 2011 gegründete Start-up hat mittlerweile durch die Rezepturentwicklung außerdem eine nahezu perfekte, hackfleischähnliche Textur für das gute Mundgefühl geschaffen. Das Unternehmen produziert neben Burger Patties Würste, Chicken Nuggets, Fleischbällchen und ganze Gerichte. Die Produkte wurden bis August 2022 in 20000 Läden und über 40000 Restaurants weltweit gelistet. Das Start-up hat bisher 2,1 Mrd. US $ an privaten Investorengeldern eingesammelt.


Auch das Start-up „Beyond Meat“, US-Marktführer, setzt das PF-Verfahren ein. Das 2009 gegründete und 2019 an der Börse eingeführte Unternehmen strebt an, bis 2024 Preisgleichheit zu aus Rindfleisch produzierten Burgern zu erreichen. Obwohl die Preisparität noch nicht erreicht wurde und der Börsenkurs des Unternehmens derzeit im Sinkflug ist, steigen noch immer etablierte Hersteller wie Kellogg, Nestlé, Tyson Foods oder Frosta in den Milliardenmarkt ein.


Forscher der amerikanischen Denkfabrik RethinkX erwarten für 2030, dass durch PF-Inhaltsstoffe angereichertes Fleisch günstiger sein wird, als sog. zellbasiertes Fleisch, also solches, das in der Petrischale gezüchtet wird (siehe „Alternative Proteine“, Seite 25). Somit ist zu erwarten, dass die mittels der PF schneller zu erreichende Kostenparität schneller die Umwälzung im Hackfleischsegment auslöst. Schneller auch, als dies durch die zellbasierte Fleischproduktion erreicht werden kann. Zudem sind in dem pflanzenbasierten Burger von Impossible Foods z.B. nur 2% präzisionsfermentiertes Häm-Protein, wodurch die Skalierung schneller möglich wird.


Was ist Präzisions-fermentation?


Die Präzisionsfermentation ist ein biotechnologischer Prozess, der es ermöglicht, Mikroorganismen genetisch so zu programmieren, dass man fast jedes komplexe organische Molekül produzieren kann. Dazu gehört die Produktion von Proteinen (einschließlich Enzymen und Hormonen), Fetten (einschließlich Ölen) und Vitaminen. Die Produktion erfolgt nach genauen Spezifikationen, in großer Menge und letztlich zu Grenzkosten, die sich mit den Kosten von Zucker vergleichen lassen. PF ist also eine biotechnologische Weiterentwicklung der Fermentationsverfahren, die die Menschheit seit Jahrtausenden nutzt. Durch dieses Verfahren werden mikrobielle Wirte wie Pilze, Algen usw. als „Fabriken“ genutzt oder genetisch formuliert, sodass diese in ihren Zellen spezifische Inhaltsstoffe produzieren können. Diese ermöglichen die Verbesserung von pflanzlichen oder zellbasierten Produkten, von sensorischen Merkmalen bis zu funktionalen Eigenschaften.


Das Good Food Institute, eine europäische NGO, identifiziert in einem Bericht von 2020 68 Unternehmen, die PF-Technologie einsetzen, um tierfreie Alternativen zu Fleisch, Eiern oder Milchprodukten zu produzieren. Die tatsächliche Anzahl könnte höher sein, da der Bericht nur die bekannten Projekte repräsentiert. Etwa zwei Drittel der Unternehmen verfolgen eine Business-to-Business-Strategie (B2B). Als „Food-as-a-Service-Modell“ bieten sie ihr biotechnologisches Know-how als Service für etablierte Hersteller an, sodass diese nicht jedes Produkt selbst entwickeln und in den Markt bringen müssen. So nutzen die Start-ups ihre Kernkompetenz „neue Technologien und extrem kurze Innovationszyklen“, anstatt die neuen Produkte langwierig selbst in den Markt einzuführen. Dieser B2B-Serviceansatz wird dazu führen, dass PF schneller zur Disruption, also Marktumwälzung, führen kann. Letzteres ist durch den gezielten Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotik in den Versuchslaboren möglich. Dadurch wird nicht nur der Innovationszyklus kürzer. Auch die Kosten der Forschung werden reduziert. Das honorieren Risikokapitalgeber weltweit durch die stark ansteigende Zusage von Wagniskapital. Im Jahr 2021 flossen insgesamt fünf Milliarden US $ an Unternehmen, die alternative Proteine produzieren und vermarkten. Davon flossen rund 1,7 Mrd. US $ zu Start-ups, die auf Fermentation setzen (siehe Übersicht Seite 24).


Das Potenzial von PF lässt sich einerseits an dem starken Anstieg des weltweit investierten Risikokapitals absolut gesehen ablesen, andererseits aber vor allem gegenüber den anderen neuen Technologien im Alternative-Proteine-Markt seit 2019.


Was heißt das für die Milch?


Wer an Kühe denkt, denkt zuerst an Milch bzw. ihre Verarbeitungsprodukte. Seit Jahren ist dieser Markt zumindest in allen OECD-Ländern mit internationaler Konkurrenz extrem unter Druck. Im Bereich von bi- und multilateralen Handelsabkommen bleiben viele Milchprodukte ein sogenanntes Sensitives Produkt, weil viele Staaten es durch geringe Zollsenkungen schützen wollen und müssen, wenn es bestehen soll. Denn in der Regel ist die Milchwirtschaft durch Quoten oder Förderungen stark staatlich gestützt. Dennoch sind die Margen oft sehr dünn. Wenn der Deckungsbeitrag von Fleisch und anderen Nebenprodukten aus der Milchproduktion durch zuvor beschriebene Tendenzen noch stärker unter Druck gerät, kann das für viele Betriebe das Aus bedeuten. Aber durch PF wird auch die Milch selbst unter Druck geraten.


Denn Milch besteht zu fast 90% aus Wasser. Feste Proteine (Kasein und Molke) machen nur 3,3% der Gesamtzusammensetzung aus. Zu 4,9% besteht Milch aus Zucker (hauptsächlich Laktose), zu 3,4% aus Fetten und zu 0,7% aus Vitaminen und Mineralien. Die RethinkX-Forscher konstatieren deshalb, dass zur Disruption der Milch durch PF nur 3,3% der wichtigen funktionellen Proteine ersetzt werden müssen, um den Zusammenbruch der klassischen Milcherzeugung zu bewirken.


Ist das absurd? Oder logisch? Zunächst weiß die Branche, dass Milch nicht besonders transportwürdig ist. Weder als Rohmilch, noch als Fertigprodukt. Dies zeigt sich darin, dass die meisten Molkerei-Standorte selten über den Umkreis von 200 km hinaus Milch vom Erzeuger abholen. Außerdem geht selten Frischmilch in den Export. Zumindest das Überseegeschäft fokussiert Milchpulver und Käse als Exportware, da diese Produkte hoch transportwürdig sind. Was wäre also, wenn man die Milch nicht mehr hin und her transportieren müsste, sondern Fermentationstanks direkt vor die Tore der Stadt oder – Urban Farming sei Dank – gleich auf die Dächer der Supermärkte stellen würde? Dies würde eine wichtige Kostenkomponente und einen Umweltnachteil der klassischen Milchproduktion reduzieren.


Auch das Thema Methan spielt der Präzisionsfermentation in die Karten: Rinder sind wesentlich beteiligt an der Methan-Emission. 2021 war die Landwirtschaft für 65% der gesamten deutschen Methan-Emissionen verantwortlich. Wenn man bedenkt, dass das Gas Methan gegenüber dem Gas CO2 etwa 25-mal schädlicher für unser Klima ist, dürfte es keine gewagte Hypothese sein, Politik und Gesellschaft ein Interesse am neuen Verfahren zu unterstellen.


Derselbe Nährwert, Aber ein kleinerer CO2-Fußabdruck


Und was sagt der Markt? Gibt es ähnlich erfolgreiche Start-ups wie im Hackfleischsegment? Ja, dies ist der Fall. Federführend ist das Start-up „Perfect Day Foods“ aus Kalifornien, dem es gelungen ist, auf Basis von PF nicht-tierisches Molkenprotein-Isolat (MPI) zu entwickeln, welches dasselbe Nährwertprofil und dieselbe kulinarische Funktionalität wie Molkeprotein aus Kuhmilch hat. Im Gegensatz dazu ist es vegan, frei von Laktose, Cholesterin, Hormonen und Antibiotika und hat einen kleineren ökologischen Fußabdruck als herkömmliches MPI. Dieser Inhaltsstoff ist ideal, um ein reichhaltiges, cremiges, geschmeidiges Ess-erlebnis zu bieten. Es eignet sich v.a. für Produktanwendungen, die Löslichkeit, Gelierung, Wasserbindung, Schaumbildung, Hitzestabilität und Emulgierung erfordern. Das nicht-tierische MPI weist einen Proteingehalt von ca. 95% auf, mit einem Profil aus essentiellen Aminosäuren, die das Wachstum, den Erhalt der Muskelmasse, die Sättigung und die Gewichtskontrolle unterstützen. Es eignet sich für gefrorene Desserts/Eis, Weichkäse, Energieriegel, Sportlernahrung, Getränke in Pulverform, Ready-to-Drink-Getränke und mehr.


Die Gründer nutzten diese Technologie zunächst, um ein Eis herzustellen. Seit der ersten Finanzierungsrunde im Mai 2014 hat das Start-up bis Oktober 2021 in nur sieben Jahren knapp 750 Mio. US $ eingesammelt. Mittlerweile bietet das Unternehmen noch Käse und Milch sowie den B2B-Service für etablierte Produzenten an, Proteine als Food-as-a-Service Modell zu nutzen. Dies ermöglicht ihnen eine schnellere Skalierung.


Dies sind nur zwei Aspekte, welche die Forscher von RethinkX aufzeigen, warum die Disruptionspotenziale für diese Branche so hoch sind. PF eignet sich aber nicht nur, um bestimmte Inhaltsstoffe oder Endprodukte zu ersetzen, sondern auch dafür, um bestehende Produkte gezielt anzureichern oder die Form-/Strukturgebung zu verändern. Wie bei Fleisch können hier die pflanzenbasierten Milchprodukte wie Hafer-, Sojamilch und Co. in Geschmack, Inhaltsstoffen usw. verbessert werden. Damit dürfte die Marktentwicklung noch beschleunigt werden.


Was bedeutet Das für die Deutsche Landwirtschaft?


Verbände, Politik, Forschung, Bildung, Förderinstitutionen, Industrie und Urerzeugung sollten massiv darüber nachdenken, diese Technologie einzuführen, um bei einer Skalierung dabei zu sein. Wer das nicht für möglich hält, kann sich an die rasende Geschwindigkeit bei der letzten großen Marktentstehung durch Biogas erinnern. Ob die Forscher von RethinkX und dem Global Food Institut hinsichtlich ihrer zeitlichen Einschätzung „Disruption der Kuh 2030“ recht behalten, ist schwer zu sagen. Dass diese Technologie aber auf einem kaum umkehrbaren Vormarsch ist, ist deutlich zu spüren und zu erkennen.


Ob die Kuh deshalb verschwindet, ist ebenfalls schwer zu sagen. Vermutlich ist die Welt nicht schwarz oder weiß. Aber dass neue Konkurrenten den Markt für Rindfleisch sowie für Milch und Inhaltsstoffe der Milch streitig machen, ist wahrscheinlich. Durch die engen Margen, die seit Jahren die finanziellen Puffer auf vielen Betrieben aufgebraucht haben, ist ein schnelles Handeln nötig. Denn noch werden zumindest in den erfolgreichen Milchviehbetrieben Gewinne erzielt, die zum Teil dafür eingesetzt werden sollten, neue Cash Cows aufzubauen. Und nicht jeder wird traurig sein, nicht morgens um 5 Uhr im Melkstand zu stehen, v.a., wenn ihm die Biogaserzeugung bereits vertraut ist.


Die verbleibende Fläche wiederum kann für Weidehaltung genutzt werden, wozu der Verbraucher aber sicher zahlungsbereiter sein muss, als heute. Oder aber für den Erhalt der Futtermenge, wenn die Obergrenzen für Stickstoff etc. die Erntemengen reduzieren. Auch die Sicherstellung der Nationalen Wasserstoffstrategie, also der „grünen Wasserstofferzeugung“ benötigt eine massive Ausweitung der Erzeugung erneuerbarer Energien.


Alternative Proteine


Was ist was?


Zellbasierte Proteinprodukte: Sogenanntes In-vitro-Fleisch, das in der Petrischale in einer Nährlösung gezogen wird. Basis sind tierische Stammzellen.


Pflanzenbasierte Proteinprodukte: aus rein pflanzlichen Inhaltsstoffen wie z.B. Lupinen, Erbsen, Bohnen, Hanf oder Hafer hergestellter Fleisch- oder Milchersatz.


Proteinprodukte auf Basis der Präzisionsfermentation: Gentechnisch programmierte Mikroorganismen stellen mithilfe von (Hefe-)Pilzen oder Algen fast jedes organische Molekül her (Proteine, Fette, Vitamine).


Ihr Kontakt zur Redaktion:eva.piepenbrock@topagrar.com

Die Redaktion empfiehlt

top + Schnupperabo: 3 Monate für 9,90 € testen

Alle wichtigen Infos zur Maissaussaat 2024 | Tagesaktuelle Nachrichten, Preis- & Marktdaten

Wie zufrieden sind Sie mit topagrar.com?

Was können wir noch verbessern?

Weitere Informationen zur Verarbeitung Ihrer Daten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Vielen Dank für Ihr Feedback!

Wir arbeiten stetig daran, Ihre Erfahrung mit topagrar.com zu verbessern. Dazu ist Ihre Meinung für uns unverzichtbar.