Der anhaltende Photovoltaik-Boom in Deutschland übertrifft schon jetzt die Ausbauziele der Bundesregierung für das Gesamtjahr 2023. Von Januar bis August 2023 sind laut Internationalem Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) über 700.000 neue Solaranlagen mit einer Leistung von rund 9,2 GW in Betrieb gegangen. Und die Windenergie hat mit einem Brutto-Zubau von 2.436 Megawatt (MW) Leistung nach drei Quartalen bereits den Vorjahreswert (2.405 MW) übertroffen. Über ein Drittel der diesjährigen Neuanlagenleistung wurde in Schleswig-Holstein (869 MW) errichtet. Auf den Plätzen zwei und drei im Länderranking folgen Niedersachsen (424 MW) und Nordrhein-Westfalen (333 MW). Gerade in Schleswig-Holstein und Niedersachsen müssen gerade Windenergieanlagen bei Netzengpässen im Rahmen von Redispatch 2.0 sehr häufig abgeregelt werden.
Extreme Auswirkungen auf den Strommarkt
Das stetige Wachstum der sehr stark schwankenden Stromerzeugung hat extreme Auswirkungen auf den Strommarkt: So gab es am Sonntag, den 2. Juli mit -500 €/MWh einen neuen Negativrekord bei den Strompreisen. Das bedeutet: die Netzbetreiber mussten 500 €/MWh bezahlen, um Strom loszuwerden. „Wir erleben aktuell eine Zeitenwende. Noch nie haben allein Wind- und Solarenergie in Deutschland die gesamte Stromversorgung für einige Stunden gedeckt. Diese Zeiten werden ansteigen“, erwartet Dr. Christof Petrick vom Leipziger Stromhandelsunternehmen Energy2Market (e2m).
Schwankungen nehmen zu
Die Entwicklung zeigt auch: Erstmals ist im Jahr 2023 die Grundlast ist nicht mehr gefragt. Grundlast bedeutet: Die Kraftwerke fahren ohne Unterbrechung das ganze Jahr durch. Früher gab es in Deutschland einen Grundlastbedarf von 40 bis 50 GW, den die großen fossilen und atomaren Kraftwerke abdecken konnten. „Doch künftig müssen wir die Stromproduktion nicht mehr am Bedarf orientieren, sondern an der Residuallast“, sagt Petrick.
Die Residuallast ist der Strombedarf, der nicht durch Wind- oder Solarenergie gedeckt wird, es ist quasi die Last, die von allen anderen Stromproduzenten bereitgestellt werden muss. „Diese Residuallast schwankt viel stärker als der eigentliche Strombedarf in Deutschland. So konnten wir im April und Juli 2023 innerhalb von wenigen Stunden Schwankungen der Residuallast von über 40 GW beobachten“, sagt Petrick. Diese Schwankungen müssen durch andere Kraftwerke gedeckt werden. Wer Strom in Zeiten mit viel Wind und Sonne produziert, muss mit negativen Strompreisen rechnen. Auf der anderen Seite gibt es in Zeiten geringer Wind- und Sonnenstromeinspeisung besonders hohe Strompreise. Darum muss laut Petrick die Flexibilität im Strommarkt steigen: Flexible Kraftwerke müssen mehr Leistung in kürzerer Zeit zur Verfügung stellen.
Bundesregierung setzt auf Wasserstoff
Biogas spielt allerdings in der Strategie der Bundesregierung immer noch kaum eine Rolle. Anfang August teilte das Bundeswirtschaftsministerium erste Eckpunkte für eine „Kraftwerksstrategie“ mit. „Es geht darum, die Umstellung unseres Kraftwerksparks auf Wasserstoff einzuleiten und damit die Weichen für die Erreichung der Klimaneutralität des gesamten Stromsektors zu stellen“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Die Hauptpfeiler zur Dekarbonisierung seien erneuerbare Energien, Flexibilität im System und Speicherung, aber für einige Stunden des Jahres auch steuerbare Kraftwerke.
Dazu will die Bundesregierung bis 2035 bis zu 15 Gigawatt an Wasserstoffkraftwerken ausschreiben, die vorübergehend mit Erdgas betrieben werden können, bis sie an das Wasserstoffnetz angeschlossen sind. Von diesen 15 Gigawatt sollen in einem ersten Schritt 10 GW bis 2026 ausgeschrieben werden und dann eine Evaluierung folgen, bevor die verbleibenden 5 GW ausgeschrieben werden können. „Die verbleibenden Mengen entfallen auf andere steuerbare Kraftwerkskapazitäten wie beispielsweise Biomasse-Anlagen oder Großbatteriespeicher“, teilt die Bundesregierung auf Anfrage der CDU-Bundestagsfraktion mit.
Biogas bleibt unverzichtbar
Jedoch bleibt zum aktuellen Zeitpunkt unklar, wie die damit assoziierten Mengen an Wasserstoff bereitgestellt werden sollen. „Allein für die Verstromung benötigt Deutschland bei systemdienlicher Fahrweise (ca. 1.000 Volllaststunden pro Jahr) schätzungsweise 50 TWh (1,5 Mio t) an grünem oder blauem Wasserstoff, was knapp dem gesamten heutigen Wasserstoffverbrauch Deutschlands entspricht“, schreiben die Autoren in einem Hintergrundpapier zur Nationalen Biomassemassestrategie, das das Beratungsunternehmens DWR eco und der Stromhändler energy2market im Oktober herausgegeben haben. Wichtige Argumente daraus:
• Wasserstoff und ein flexibler Stromverbrauch können den Flexibilitätsbedarf in einem klimaneutralen Stromsystem 2035 nicht alleine befriedigen. Die vorerst geringen Mengen Wasserstoffmengen werden primär in Sektoren wie etwa der Stahl- oder Chemieindustrie benötigt. Zudem gäbe es reine Wasserstoffturbinen heute noch nicht auf dem Markt.
• Importierter Wasserstoff könnte dagegen m Jahr 2035 zu Stromgestehungskosten von 160 bis 180 €/MWh (16 - 18 ct/kWh) führen.
• Durch die Vergärung von Wirtschaftsdünger und anderen Reststoffen werden Methanemissionen vermieden. Der CO₂-Fußabdruck der Stromerzeugung aus Biogas ist je nach Zusammensetzung der Reststoffe größtenteils negativ und kann zu einer Vermeidung von 420 g CO₂/kWh (Äquivalent) erreichen. Damit ist die Biogaserzeugung deutlich klimaschonender als die Wasserstoffverstromung: So fallen bei der Verstromung von Erdgas 350 g CO₂/kWh an. Bei grünem Wasserstoff sei ein Klimanutzen nur gegeben, wenn der für die Produktion bezogene Netzstrom weniger als 180g CO₂/kWh verursacht. Der Strommix in Deutschland hatte im Jahr 2022 noch einen Emissionsfaktor von 434 g CO₂/kWh.
• Die geplanten 23 GW an regelbarer Kraftwerksleistung wären nur ein kleiner Anteil des im Jahr 2035 benötigten Flexibilitätsbedarfs in Höhe von 76 GW. Allein bis 2030 gehen jedoch infolge des Atom- und Kohleausstiegs ca. 35 GW an steuerbarer Erzeugungskapazität vom Netz. Darum sind nach Ansicht der Autoren kurz-und mittelfristig aktivierbare Flexibilitätspotenziale nötig, um den gleichzeitig stark anwachsenden Anteil an volatiler EE-Erzeugung auszugleichen.
• Der aktuelle Biogasanlagenpark in Deutschland könne als einzige verlässliche Flexibilitätsoption auf Erzeugungsseite einen wesentlichen Beitrag zu der sich abzeichnenden Flexibilitätslücke in Höhe von ca. 50 GW leisten.
• Der Biogasanlagenpark müsste insgesamt 37 TWh Strom produzieren. Zum Vergleich betrug die Stromerzeugung aus Biogas 2020 ca. 30 TWh. Der zusätzliche Bedarf an biogenen Ressourcen wäre minimal, die vorhandenen Potenziale müssten lediglich systemdienlicher eingesetzt werden, fordern die Autoren.
Das Fazit von DWR und e2m: Die Nationale Biomassestrategie müsse den Anlagenbetreibern Planungssicherheit bieten. Dazu gehören neben einem gesicherten Zugang zu nachhaltiger Bio- masse auf Basis von Reststoffen auch stärkere Anreize für einen höheren Flexibilisierungsgrad, d.h. eine höhere Überbauung der Anlagenkapazität. Zudem müsse die flexible Vor-Ort-Verstromung in der NABIS deutlich von anderen energetischen Verwertungspfaden wie der Verfeuerung von Festbrennstoffen (Holz) oder auch der Herstellung von biogenen Kraftstoffen abgegrenzt werden.
Effizienz und Innovation ignoriert
Auch die Effizienz- und Innovationspotenziale der Biogaserzeugung versteht die Bundesregierung nicht richtig, kritisiert Kurt Kretschmer, Leiter Energiepolitik bei Energy2market: „Künftig kann Biogas auf Basis von Reststoffen und mit Hilfe technologischer Innovationen sowie einer systemdienlicheren Fahrweise noch deutlich ressourceneffizienter verstromt werden. So führt die Biogaserzeugung auch nicht, wie häufig behauptet, zu Nutzungskonflikten mit anderen Biomassenutzungspfaden.“
Besonders mit Blick auf die noch in diesem Jahr erwartete NABIS fordert Kretschmer daher ein deutliches Umdenken in der Bundesregierung: „Die systemdienliche und nachhaltige Biogasverstromung ist von anderen energetischen Verwertungsformen wie der Biokraftstoffproduktion abzugrenzen und mit Blick auf die energie- und klimapolitischen Ziele als unverzichtbar einzustufen. Die von der Bundesregierung avisierte pauschale Schlechterstellung der energetischen Verwertung gegenüber der stofflichen Verwertung muss dringend korrigiert werden.“
Andernfalls, so macht das Papier deutlich, wird der Biogasbranche der Zugang zu Biomasse und damit die Geschäftsgrundlage entzogen. Einer der wenigen planbaren Flexibilitätspfeiler im deutschen Stromsystem, aber auch eine wichtige Ertragssäule landwirtschaftlicher Betriebe drohe damit wegzubrechen.
Als Impuls zum bevorstehenden NABIS-Prozess hat Energy2market in seinem Whitepaper eine Biomassenutzungshierarchie („Biomasse-Ampel“) hergeleitet. Das Konzept bewertet den systemischen Nutzen verschiedener Biomasseanwendungen und soll dazu dienen, eine zielgerechte Allokation von biogenen Ressourcen sicherzustellen.
Das Whitepaper können Sie hier herunterladen.
Die Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarischen Anfrage finden Sie hier.