Das Bundeslandwirtschaftsministerium und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) setzen ihre Hoffnungen auf eine Fortsetzung des ukrainisch-russischen Getreidedeals, zielen aber weitere Schlüsse aus den Entwicklungen der vergangenen Monate. Das im Juli von den Vereinten Nationen und der Türkei jeweils mit Kiew und Moskau geschlossene Abkommen läuft planmäßig bis zum 19. November und wird nur dann fortgesetzt, wenn keine der Parteien sich dagegen ausspricht.
Zwar gibt es Anzeichen für ein Einlenken Russlands, wie heute auch vom Deutschen Raiffeisenverband festgestellt wurde. Dennoch hat Russland gezeigt, dass es hier durchaus noch kurzfristige Überraschungen oder Eskalationen geben könnte.
Zahl der „akut Hungernden“ fast verdreifacht
Bei einer Diskussion zur aktuellen Situation im Schwarzmeerraum betonten die Parlamentarische BMEL-Staatssekretärin Dr. Ophelia Nick heute in Berlin die „herausragende Bedeutung“ des Transitkorridors. Sie widersprach auch der Behauptung Moskaus, das Abkommen habe seine Wirkung verfehlt.
Ungeachtet dessen hat sich die Hungersituation international weiter verschärft. Der Direktor des UN-Welternährungsprogramms für Deutschland, Österreich und Liechtenstein, Dr. Martin Frick, wies darauf hin, dass sich die Zahl der akut Hungernden in den vergangenen drei Jahren auf rund 345 Millionen Menschen erhöht und damit fast verdreifacht habe. Das hat ihm zufolge nicht allein mit der internationalen Versorgungslage bei Getreide, sondern auch mit der wirtschaftlichen Situation der ärmeren Staaten zu tun. Viele von denen seien nach Covid bereits ökonomisch und finanziell „erschöpft“ gewesen, erläuterte Frick. Die explodierenden Agrarpreise nach Beginn des russischen Angriffskriegs hätten diese Länder daher überfordert.
Inflation verschärft die Krise
Laut Lutz Depenbusch vom Verband Entwicklungspolitischer und Humanitärer Hilfe (VENRO) hat sich die Lage dieser Länder auch nicht wirklich entspannt, obwohl die Agrarmärkte mit Beginn des Transitabkommens wieder zurückgelaufen waren. In vielen Staaten hätten die Krisen der vergangenen Jahre nämlich zu Inflationsraten von bis zu 700 % geführt. Getreide vom Weltmarkt bleibe daher für sie trotz niedrigerer Dollar-Preise sehr teuer.
Denis Drechsler vom Agricultural Market Information System (AMIS) ergänzte, dass die Börsenpreise bei den wichtigsten Getreidearten immer noch um die Hälfte höher notierten als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Er ist aber optimistisch, dass Russland sich einer Fortsetzung des Getreidedeals nicht verweigern wird, da das auch im russischen Interesse wäre.
Agrarproduktion weltweit nachhaltig steigern
Die Leiterin der OECD-Direktion Handel und Landwirtschaft, Marion Jansen, hält eine Fortsetzung der Schifftransporte kurzfristig für entscheidend; nicht zuletzt zur Beruhigung der internationalen Terminmärkte. Mittel- und langfristig müsse jedoch die Agrarproduktion global nachhaltig gesteigert werden, um eine wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können, forderte Jansen. Frick plädierte in diesem Zusammenhang dafür, die lokalen Märkte zu stärken und beispielsweise die afrikanischen Empfängerländer in die Lage zu versetzen, sich in Zukunft vorrangig selbst zu versorgen.
Vorerst dürfte sich an deren Abhängigkeit an Importen von Weltmarkt jedoch wenig ändern, weshalb alle Beteiligten auf möglichst stabile Exporte aus der Ukraine setzen. Dafür müssen nach Überzeugung von Dr. Per Brodersen von der German Agribusiness Alliance aber auch die alternativen Transitstrecken per Schiene oder Straße ausgebaut werden. Ihm zufolge hakt es hier aber insbesondere an den Grenzübergängen, wo sich die Ware oft staut. Schuld daran sind laut Brodersen mitunter auch Fälle von Korruption auf „EU-Seite“, weshalb er den europäischen Autoritäten dringend rät, hier genauer hinzuschauen.