Prof. Dr. Jehle leitet das Institut für biologischen Pflanzenschutz am Julius Kühn-Institut. Wie bewerten Sie das Potenzial von biologischem Pflanzenschutz – auch vor dem Hintergrund verschärfter Regeln im Pflanzenschutz und den Reduktionszielen der EU?
Prof. Dr. Johannes Jehle:Biologischer Pflanzenschutz ist vielfältig. Er zielt entweder darauf ab, natürliche Gegenspieler im Agrarsystem zu schützen und zu fördern oder solche Gegenspieler gezielt auszubringen, um mit ihnen das Auftreten von Schaderregern vorzubeugen oder solche direkt zu bekämpfen. Insofern müssen wir zwischen einem konservierenden biologischen Pflanzenschutz, also der Schutz und der Förderung spezifischer natürlicher Gegenspieler von Schadorganismen, und dem aktiven Ausbringen von Nutzorganismen unterscheiden. Die Palette biologischer Gegenspieler ist sehr groß und nur in Ansätzen erforscht, zu ihnen zählen typische Nützlinge (Schlupfwespen, räuberische Insekten, etc.), Mikroorganismen (bestimmte nützliche Bakterien und ihre Stoffwechselprodukte, Pilze und Viren), aber auch Infochemikalien (z.B. Lockstoffe oder repellente Düfte) und Pflanzenextrakte.
Biologische Mittel zeichnen sich durch eine hohe Selektivität und damit eine Risikoarmut für die Umwelt und die menschliche Gesundheit aus. Andererseits führt diese Selektivität zu wenigen Indikationen eines biologischen Wirkstoffes. Dadurch sind die Absatzmärkte der Mittel vergleichsweise klein und ihre Anwendung in der Regel teurer als konventionelle chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel.
An seine Grenzen stößt der biologische Pflanzenschutz, wenn man schnelle und durchschlagende Wirkung ähnlich chemischen Mitteln erwartet."
Die heutigen konventionellen Produktionssysteme unserer Nutzpflanzen haben sich im Kontext der Verfügbarkeit und breiten Anwendung chemischer Pflanzenschutzmittel entwickelt. Stehen diese Mittel nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung, müssen auch Produktionssysteme entsprechend angepasst werden. Chemische Mittel können nicht einfach durch andere Mittel oder Verfahren ersetzt werden. Präventive Maßnahmen, wie Resistenzzüchtung und Sortenwahl, Fruchtfolgen, Düngung und Bestandsüberwachung werden zukünftig wieder eine bedeutendere Rolle spielen, um das Auftreten von Schaderregern zu vermeiden. Diese Verfahren sind „Brandschutz“-Maßnahmen, die im Konzept des integrierten Pflanzenschutzes durch die „Feuerwehr“, also dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, ergänzt werden. Moderner Pflanzenschutz benötigt beides – Brandschutz und Feuerwehr.
Der biologische Pflanzenschutz ist am weitesten entwickelt bei der Bekämpfung von Schadinsekten und Milben (siehe Maiszünslerbekämpfung mit der Schlupfwespe Trichogramma). Die biologische Bekämpfung von Pilzkrankheiten ist deutlich weniger etabliert und eine biologische Unkrautbekämpfung wird – wenn überhaupt - nur in wenigen, kleinen Nischen möglich sein.
Was kann biologischer Pflanzenschutz schon heute und wo stößt er an seine Grenzen?
Prof. Dr. Johannes Jehle: Die Anwendung biologischer Pflanzenschutzverfahren wurde in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere bei Sonderkulturen mit hoher Wertschöpfung mit sehr großem Erfolg eingeführt. Am weitesten verbreitet ist er im geschützten Anbau (Gewächshäuser, Folientunnel) von Gemüse, Beeren und Zierpflanzen. Aber auch im Obst- und Weinbau gibt es vielfältige Einsatzmöglichkeiten und zahlreiche Verfahren. Geringste Verbreitung hat er im Ackerbau gefunden, andererseits besteht hier das größte Potential was den Einsatz in der Fläche betrifft.
Die öffentliche, finanzielle Förderung biologischer Maßnahmen führt zu einer verbesserten Akzeptanz bei Landwirten, wie man am dramatischen Flächenzuwachs der Maiszünslerbekämpfung mit Trichogramma in den letzten Jahren erkennen kann. Solche Förderungen sind wichtig, um die Kostendifferenz zwischen biologischen und konventionellen Bekämpfungsmaßnahmen zu überbrücken.
An seine Grenzen stößt der biologische Pflanzenschutz, wenn man schnelle und durchschlagende Wirkung ähnlich chemischen Mitteln erwartet. Das können nur einzelne biologische Mittel, wie z.B. Bacillus thuringiensis-Präparate zur Bekämpfung von Schadraupen. Weitere Herausforderungen sind Schädlingskomplexe, die mit derart spezifischen Mitteln nicht komplett kontrolliert werden können. Probleme gibt es auch bei der Bekämpfung von invasiven Schaderregern, welche durch die Klimaerwärmung zunehmend zu uns kommen. Für diese neuen Schaderreger stehen meist keine biologischen Verfahren zur Verfügung, sondern müssen erst entwickelt werden, während sie mittels einer Notfallzulassung mit chemischen Mitteln meist bekämpft werden können.
Wer bescheinigt dem Anwender eine verlässliche Wirksamkeit?
Prof. Dr. Johannes Jehle: Mit Ausnahme der Nützlinge durchlaufen biologische Mittel eine Wirkstoffgenehmigung und Pflanzenschutzmittelzulassung nach der Verordnung (EG) 1107/2009, analog zu chemischen Mitteln. Hier gibt es also eine ähnlich strenge Prüfung, wobei die Datenanforderungen auf die biologische Natur dieser Mittel abgestimmt ist. Biologische Pflanzenschutzmittel sind auf ihre Wirksamkeit geprüft, allerdings werden in vielen Fällen nicht die Wirkungsgrade von chemischen Mitteln erreicht. Biologische Verfahren und damit auch ihre Wirksamkeit sind ebenso Witterungseinflüssen ausgesetzt wie der Schadorganismus selbst. Daher ist ihre Wirksamkeit – obwohl im Rahmen der Zulassung geprüft – viel plastischer als bei chemischen Mitteln. Manche biologischen Mittel erreichen nur mittlere Wirkungsgrade, diese sind dann häufig mit dem Zusatz „Nur zur Befallsminderung“ versehen. Wichtiger als in der Kategorie der Wirksamkeit des einzelnen Mittels zu denken, wird zukünftig das Denken im Anbausystem, also insbesondere auch in der Fruchtfolge, sein. Die Anbausysteme müssen so konzipiert werden, dass sich ein Schaderregerdruck erst gar nicht so stark aufbaut; hierzu können biologische Verfahren einen wichtigen Beitrag leisten.
Es geht nicht um die Abschaffung des chemischen Pflanzenschutzes, sondern um dessen Reduktion. Biologische Verfahren können hierzu einen bedeutenden Beitrag leisten."
Schließlich dürfen biologische Pflanzenschutzmittel nicht mit Biostimulanzien verwechselt werden, die nach der Düngeverordnung geregelt sind. Biostimulanzien dienen dazu, pflanzliche Ernährungsprozesse unabhängig vom Nährstoffgehalt des Produktes zu stimulieren und so die Wachstumsbedingungen der Nutzpflanzen verbessern. Hierdurch können auch positive Effekte hinsichtlich der Robustheit und Abwehrfähigkeit der Nutzpflanzen auftreten, doch sind diese Mittel in ihrer Funktion keine Pflanzenschutzmittel.
Derzeit ploppen immer wieder Meldungen über Start-ups auf, die vermeintlich innovativen biologischen Pflanzenschutz entwickeln. Befinden wir uns derzeit in einer „Welle“ von innovativen Entwicklungen?
Prof. Dr. Johannes Jehle: Von der Entdeckung eines neuen Organismus, der sich als biologischer Wirkstoff eignet, bis hin zur Inverkehrbringung vergehen sehr viele Jahre der Forschung, Feldversuche und Zulassung. In den vergangenen Jahrzehnten wurden biologische PSM insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen entwickelt, während sich die großen Multis auf den chemischen Pflanzenschutz fokussierten. Inzwischen spielen biologische Mittel in den Entwicklungsabteilungen und im Portfolio der klassischen PSM-Industrie eine zunehmend größere Rolle. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, weil darin auch ein großes Innovationspotential liegt.
Reduktion von chemischen PSM: mehrere Innovationen nötig
Können die landwirtschaftlichen Anwender in absehbarer Zeit tatsächlich neue, brauchbare Mittel erwarten?
Prof. Dr. Johannes Jehle: Seit einigen Jahren befinden sich mehr biologische Wirkstoffe als chemische Agenzien im Prozess der EU-Wirkstoffgenehmigung. Es ist also mit einer weitergehenden Verfügbarkeit zugelassener biologischer Mittel zu rechnen. Diese müssen dann als Bausteine sinnvoll in die Anbausysteme integriert werden. Eine mengenmäßige Reduktion chemischer Pflanzenschutzmittel, wie es die Farm-to-Fork-Strategie und die neue EU-Nachhaltigkeitsverordnung (SUR ) vorsieht, wird nicht durch die Verfügbarkeit biologischer Mittel allein bewerkstelligt werden können.
Hierzu werden eine verbesserte, weitgehend automatisierte Befallserkennung mit neuen digitalen Methoden, verbesserte Prognosemodelle, neuartige Sensortechniken in Kombination mit einer teilflächenspezifischen PSM-Applikation und einem standortangepassten Pflanzenbau notwendig sein. Auch Biodiversitätsfördernde Maßnahmen, die die Landwirte aktiv einsetzen, können helfen, das natürlich vorkommende Potential einer Schädlingsregulierung in der Landbewirtschaftung anzukurbeln. Unterstützend wirkt hier z.B. das vielfältige Angebot an neuartigen, ökologisch optimierten Saatgutmischungen für nichtproduktive Flächen (Blühmischungen, Buntbrachen etc.), deren Anbau auch finanziell im Rahmen der GAP gefördert werden kann.
Wie groß ist das Potenzial noch nicht entdeckter Organismen oder noch nicht entdeckter Wirkungsweisen, die im Pflanzenschutz zum Einsatz kommen könnten?
Prof. Dr. Johannes Jehle:Neuen Innovationen führen stets zu einer Verdrängung alter Techniken. Allerdings ist das Potenzial von Organismen die als biologische Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden können, sicherlich begrenzt. Heute werden Mikroorganismen als PSM zugelassen, die teilweise bereits vor 40 oder 50 Jahren entdeckt und beschrieben wurden. Was wir bis heute noch relativ wenig verstehen, sind die Wechselwirkungen zwischen Mikroorganismen im Boden, sowie zwischen Mikroorganismen und der Pflanze bzw. ihren Pathogenen. Diese Wechselwirkungen haben größten Einfluss auf die Ernährung und Gesundheit der angebauten Pflanzen. In diesem Bereich und in der Digitalisierung wird es in den kommenden Jahren die größten Fortschritte geben, die hoffentlich auch zu verbesserten resilienten Anbausystemen mit einer großen Strukturvielfalt und einem geringeren stofflichen Input mit Pflanzenschutzmitteln führen.