Die deutsche Wirtschaft wäre von einem möglichen Lieferstoff von Erdgas aus Russland extrem betroffen. „Erdgas ist für die Industrie der wichtigste Energieträger“, erklärte Dr. Timm Kehler, Vorstand der Interessenvertretung der Gaswirtschaft „Zukunft Gas“, am Donnerstag auf der Auftaktveranstaltung der neuen Diskussionsreihe „Gas in Zukunft – Neue Quellen, Neue Pfade“. Kehler machte auch deutlich, dass man Deutschland nicht isoliert betrachten dürfte. Es gäbe vielschichtige Lieferketten in ganz Europa.
Viele Verflechtungen
Deutschland verbraucht aktuell etwa 1000 Terawattstunden (TWh, entspricht 1 Mrd. kWh oder 0,1 Mrd. m³) Erdgas. Wie sich der Verbrauch aufteilt, erklärte Dr Stefan Ulreich, Professor für Energiehandel, Risikomanagement, Energiepolitik und Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Biberach:
- 37 % des Erdgases verbraucht die Industrie,
- 31 % die Haushalte,
- 13 % der Sektor Gewerbe, Handel, Dienstleistungen,
- 9 % die Energiewirtschaft für die Stromerzeugung,
- 9 % Fernwärme und -kälte.
Wichtigster Energieträger
In der Industrie ist Gas mit 31,2 % der wichtigste Energieträger, gefolgt von Strom (21 %), Stein- und Braunkohle (16 %) und Mineralöl (16 %), erklärte Christian Seyfert, Hauptgeschäftsführer vom Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) „Vor allem die chemische Industrie nutzt das Gas als Brennstoff, aber auch als Rohstoff“, erklärte Seyfert.
Die Branchen mit dem höchsten jährlichen Gasbedarf:
- Chemische Industrie: 59 TWh,
- Ernährung, Genussmittel: 31 TWh,
- Metall (Erzeugung und Bearbeitung): 26 TWh,
- Papier: 19 TWh,
- Glas, Keramik: 17 TWh.
Einige der Auswirkungen lassen sich auch erst zeitverzögert erkennen, z.B. in der Landwirtschaft: „Die Düngerwirtschaft ist stark vom Erdgas abhängig. Sollte die Düngerproduktion eingeschränkt sein, würde das im nächsten Jahr zu weniger Erträgen führen“, erklärt Ulreich.
Ebenso hätten Einschränkungen in der Ziegelproduktion mittelfristig Auswirkungen auf die Bauwirtschaft.
Vorschläge zum Einsparen und zu neuen Quellen
Europa ist der wichtigste Abnehmer für russisches Erdgas. „Der Verbrauch liegt aktuell bei etwa 155 Mrd. m³ pro Jahr“, erklärt Ulreich. Das sind 45 % der EU-Gasimporte und 40 % des Gasverbrauchs in der EU. 140 Mrd. m³ stammen dabei von Lieferungen aus Pipelines, 15 Mrd. m³ in Form von Flüssiggas (LNG).
Am 16. März hatte die Internationale Energieagentur (IEA) untersucht, inwiefern Europa bis zum Herbst 2022, also bis zur nächsten Heizsaison, unabhängiger von russischem Gas werden könnte. Die IEA hat dazu folgende Vorschläge aufgelistet:
- Mehr LNG-Importe aus anderen Regionen würde 20 Mrd. m³ ersetzen,
- Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken und Einsatz von Biomasse in Kraftwerken: 13 Mrd. m³,
- Pipelineimporte aus Norwegen: 10 Mrd. m³,
- Reduktion der Raumtemperatur um 1 °C: 10 Mrd. m³,
- beschleunigter Ausbau von Wind- und Solarenergie, um Erdgas in der Stromerzeugung. zu ersetzen: 6 Mrd. m³,
- Methanleckagen abdichten: 2,5 Mrd. m³,
- Umstieg auf Elektrowärmepumpen: 2 Mrd. m³,
- Mehr Energieeffizienz: 2 Mrd. m³.
Abhängigkeit bleibt bestehen
Für die IEA gilt auch Biomethan aus heimischer Produktion als Alternative. Allerdings sind die Analysten davon ausgegangen, dass sich nennenswerte Mengen nicht mehr in diesem Jahr mobilisieren lassen.
„Trotz dieser zum Teil sehr ambitionierten Maßnahmen ließe sich nur 24 % des russischen Erdgases ersetzen, es bliebe ein Importbedarf aus Russland von knapp 90 Mrd. m³“, sagt Ulreich.
Die Auflistung zeigt: Die deutsche Wirtschaft wäre extrem von einem russischem Gaslieferstopp betroffen. „Wir sollten daher jetzt alles tun, um so viel Gas wie möglich in allen Bereichen einzusparen“, drängt Kehler.