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Strommarktexperte: „Das Jahr 2023 ist eine Zeitenwende in der Stromversorgung“

Erstmals haben in diesem Jahr Wind- und Solarenergie den gesamten deutschen Strombedarf stundenweise gedeckt. Dr. Christof Petrick von Energy2Market erläutert, was das für Biogasanlagen bedeutet.

Lesezeit: 8 Minuten

Der Ausbau der Wind- und Solarenergie schreitet voran. Vor allem die Photovoltaik stellt immer neue Rekorde auf: Von Januar bis Mai wurden 5 Gigawatt Solarstromleistung in Deutschland dazu gebaut. Das ist ein neuer Spitzenwert. Zudem speisten Solaranlagen am 4. Mai in Deutschland mehr als 40 GW Leistung ins Netz – ebenfalls ein neuer Rekord.

Das stetige Wachstum der sehr stark schwankenden Stromerzeugung hat extreme Auswirkungen auf den Strommarkt: So gab es am Sonntag, den 2. Juli mit -500 €/MWh einen neuen Negativrekord bei den Strompreisen.

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Das bedeutet: die Netzbetreiber mussten 500 €/MWh bezahlen, um Strom loszuwerden. Wie sich der Markt weiter entwickeln könnte und welche Chancen dabei für flexible Biogasanlagen bestehen, haben wir mit Dr. Christof Petrick vom Leipziger Stromhandelsunternehmen Energy2Market (e2m), diskutiert. Petrick leitet seit 2019 das Team Handel und Datenanalyse und beschäftigt sich intensiv mit den Preisentwicklungen an den Handelsmärkten und welche Faktoren hier wirken.

Im ersten Halbjahr 2023 haben wir mit fast 60 % erneuerbaren Energien im deutschen Strommix einen neuen Höchststand erreicht. Wind- und Solarstrom fallen jedoch sehr schwankend an. Welche Auswirkungen hat das auf die Stromversorgung?

Petrick: Wir erleben aktuell eine Zeitenwende. Noch nie haben allein Wind- und Solarenergie in Deutschland die gesamte Stromversorgung für einige Stunden gedeckt. Diese Zeiten werden ansteigen. Das ist die neue Wirklichkeit am Strommarkt und bedeutet: Die Grundlast ist im Jahr 2023 erstmals nicht mehr gefragt. Wer heute noch Grundlastkraftwerke wie Atom- oder Kohlekraftwerke fordert, redet am Thema vorbei.

Früher gab es in Deutschland einen Bedarf von 40 bis 50 GW Grundlast, den die großen fossilen und atomaren Kraftwerke abdecken konnten. Grundlast bedeutet: Die Kraftwerke fahren ohne Unterbrechung das ganze Jahr durch. Doch künftig müssen wir die Stromproduktion nicht mehr am Bedarf orientieren, sondern an der Residuallast.

Was bedeutet das?

Petrick: Die Residuallast ist der Strombedarf, der nicht durch Wind- oder Solarenergie gedeckt wird, es ist so zu sagen die Last, die von allen anderen Stromproduzenten bereitgestellt werden muss. Diese Residuallast schwankt viel stärker als der eigentliche Strombedarf in Deutschland. So konnten wir im April und Juli 2023 innerhalb von wenigen Stunden Schwankungen der Residuallast von über 40 GW beobachten – Schwankungen, die durch andere Kraftwerke gedeckt werden müssen. Denn die fluktuierenden Erzeuger produzieren Strom ohne Einsatzstoffkosten – anders, als Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerke oder Biogasanlagen.

Wer Strom in Zeiten mit viel Wind und Sonne produziert, muss mit negativen Strompreisen rechnen. Auf der anderen Seite sehen wir in Zeiten geringer Wind- und Sonnen Einspeisung besonders hohe Strompreise. Darum muss die Flexibilität im Strommarkt steigen.

Inwiefern?

Petrick: Schaut man sich die vergangenen Monate an, wird deutlich: Wir brauchen aktuell etwa 20 GW Leistung, die nur an 10 % der Jahresstunden gefragt ist, also etwa fünf Wochen. Das müssen also hochflexible Kraftwerke sein. So sinkt mit dem Ausbau der Wind- und Solarenergie auch die Residuallast in Summe weiter ab. So zeigen Prognosen, dass sie im Jahr 2026 an 15 % der Zeit den Strombedarf decken können, 2030 wären es dann schon 45 %.

In der gleichen Zeit werden die Gradienten weiter steigen. Das bedeutet: Flexible Kraftwerke müssen mehr Leistung in kürzerer Zeit zur Verfügung stellen. Zusätzlich bedeutet mehr installierte Leistung nicht unbedingt, dass auch der Strombedarf besser gedeckt wird. Denn der Netzausbau hinkt gerade dem Windkraftausbau hinterher. Um das Stromnetz zu schützen, werden wir immer noch viele Parks in Zeiten mit viel Wind und wenig Verbrauch abregeln müssen.

Wie lässt sich die Flexibilität erhöhen?

Petrick: Zum einen mit flexiblen Kraftwerken wie Biogasanlagen, Wasserkraftwerken und Pumpspeicherkraftwerken. Dazu kommen Batterien, die aber nur einen kleinen Teil der Flexibilität bieten können. Zum anderen brauchen wir flexible Verbraucher, die bei Bedarf Strom abnehmen. Hier sind Power to Heat oder Elektrolyseure zu nennen, die mithilfe von Strom Wasserstoff herstellen. Dieser lässt sich vielseitig einsetzen.

Eine Art Zwangsflexibilisierung werden wir übrigens auch bei den Atomkraftwerken in Frankreich erleben. Denn wenn künftig im Sommer sehr günstiger Solarstrom über die Grenze fließt, dürfte es in dieser Zeit höchst unrentabel sein, Atomstrom zu produzieren.

Wie können Biogasanlagen jetzt davon profitieren?

Petrick: Wichtig ist, dass sich alle Biogasanlagenbetreiber klar machen: Der kontinuierliche Grundlastbetrieb wird unnötig und damit unrentabel. Stattdessen ist größtmögliche Flexibilität gefragt, sowohl im Strom- als auch im Wärmebereich.

Wir haben festgestellt, dass aktuell die größten Erlösmöglichkeiten in einer Kombination von Day-Ahead-Markt und Regelenergie liegen. Beim Day-Ahead-Markt erhält der Betreiber von uns einen Fahrplan, den die Anlage automatisch abfährt. Dazu gehören etwa zwei bis vier Starts des BHKW am Tag. Der Betreiber produziert dann nur in den Zeiten Strom, in denen er wirklich gefragt ist. Am Wochenende und an Feiertagen sollte die Anlage dagegen ruhen.

Die Regelenergie war ja in der Vergangenheit nicht immer lukrativ, vor allem, weil auch andere Erzeuger wie Batterien oder Windparks hier eingestiegen sind. Was macht den Markt hierfür aktuell attraktiv?

Petrick: Die Regelenergie war noch nie so lukrativ wie in diesem Jahr. Darum werden auch extrem hohe Preise gezahlt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Bislang haben vor allem konventionelle Kraftwerke diesen Markt bedient. Nach Beendigung der Kälteperiode gehen viel Kraftwerke, die sowohl Wärme, als auch Strom produzieren aus dem Markt. Damit entfallen auch deren Regelenergiegebote.

Ein weiterer sehr wichtiger Player in dem Markt ist die Wasserkraft. Doch sie produziert im Sommer bei niedrigen Wasserständen weniger. Mit dem Atomausstieg und der zunehmenden Stilllegung von Kohlekraftwerken fällt weiter Leistung weg.

Und zuletzt steht im Oktober erstmals eine Repräqualifikation von Anlagen in der Regelenergie an. Das gab es noch nie. Das bedeutet, dass Anlagen überprüft werden, ob sie noch flexibel produzieren und damit für die Regelenergie geeignet sind. Einige Anbieter werden hier rausfallen, da sie die Kosten für erneute Präqualifikation scheuen. Alle diese Gründe zusammen führen dazu, dass Regelenergie aktuell sehr gefragt ist.

Können Sie dazu Zahlen nennen?

Petrick: Im Juni und Juli hatten wir extrem hohe Preise im Regelenergiemarkt. Anlagenbetreiber können sich aktuell, über sehr hohe Mehrerlöse freuen. Im der Spitze gab es dreistellige Erlöse in €/MW pro Stunde, insbesondere für die SRL.

Wie knapp das Angebot aktuell ist, konnten wir am 4. Juli sehen: Da hatten wir in einer Zeitscheibe 2.152 MW im Angebot für die negative Sekundärregelleistung. Der Bedarf lag bei 1.878 MW, es gab also nur 274 MW Reserve. Eine so geringe Differenz gab es noch nie. Sollte der Bedarf einmal nicht gedeckt sein, starten die Übertragungsnetzbetreiber eine Notfallausschreibung, dann explodieren die Preise ins Unermessliche. Da würde quasi jeder Preis bezuschusst werden.

Viele flexible Biogasanlagen setzen auch auf die saisonale Fahrweise, bei der sie im Sommer weniger Strom produzieren und somit Einsatzstoffe sparen, im Winter dafür mehr, weil sie da den Großteil der Wärme verkaufen können. Auch hoffen sie auf höhere Strompreise in der dunklen Jahreszeit. Bringt das auch Flexibilität im Markt?

Petrick: Die saisonale Verschiebung ist keine wirkliche Flexibilität. Diese ist nur mit der täglichen Anpassung zu schaffen. Wir haben einmal ausgewertet, dass die Strompreise zwischen Sommer und Winter im Mittel nur zwischen 80 und 160 €/MWh, also 8 bis 16 ct/kWh schwanken. Der Unterschied der Spotmarktpreise innerhalb eines Tages ist wesentlich höher.

Das Fazit daraus: Eine saisonale Verschiebung kann in Bezug auf Einsatzstoffe und Wärmeverkauf sinnvoll sein. Aber die Anlagen sollten auch im Winter eine gewisse Flexibilität haben und nicht Grundlast fahren. Nur so können sie von Strompreisschwankungen profitieren. Zudem ist ein großer Wärmespeicher wichtig. Denn was bringt es, wenn man Wärme verkauft, aber gleichzeitig Strom produziert, der zu negativen Preisen angeboten werden muss?

Wenn Anlagen so flexibel werden müssen, dass sie nur noch wenige Wochen im Jahr Strom produzieren, muss sich die Investition ja über sehr hohe Strompreise amortisieren. Ein anderes Modell wäre eine Prämie für die Bereitstellung der Kapazität. Wird das jetzt kommen?

Petrick: Eine Kapazitätsprämie könnte – ähnlich, wie die heutige Flexibilitätsprämie im EEG – Sicherheit für die Investoren geben. Allerdings gehe ich davon aus, dass flexible Biogasanlagen künftig mehrere Produkte anbieten werden, um wirtschaftlich zu sein, also Strom, Wärme und Gas. Dafür denkbar wäre eine Kombianlage, die die meiste Zeit des Jahres Biomethan produziert und ins Gasnetz einspeist.

Bei hohen Strompreisen könnte sie die Biomethanproduktion stoppen und mit einem großen BHKW Strom und Wärme liefern. Mit diesem Modell machen sich Anlagenbetreiber unabhängiger von der Politik und können verschiedene Märkte bedienen.

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