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Ukrainischer Agrar-Rat: "Ohne Unterstützung verlieren wir die Viehwirtschaft"

Die DLG sprach mit dem Vorsitzenden des Ukrainischen Agrar-Rats über die kriegsbedingten Rückgänge bei der Schweine-, Milch- und Getreideproduktion.

Lesezeit: 9 Minuten

Russlands Aggression gegen die Ukraine zielt darauf ab, die Volkswirtschaft des Landes zu zerstören. Nach vorläufigen Schätzungen des ukrainischen Ministeriums für Agrarpolitik und Ernährung hat der Agrarsektor seit Ausbruch des Krieges allein 30 Mrd. Dollar verloren, davon entfallen 4 Mrd. Dollar auf direkte Verluste durch zerstörtes und gestohlenes Eigentum und 22 Mrd. Dollar auf entgangene Gewinne, erfuhr die DLG von Andriy Dykun, dem Vorsitzenden des Ukrainischen Agrar-Rats (UAC) und Gründer des Wohltätigkeitsfonds zur Rettung der Ukraine (SAVE UA Сharitable Fund).

Doch selbst unter den Kriegsbedingungen setzt der ukrainische Agrarsektor seine Arbeit fort und überlebt nicht nur, sondern bemüht sich auch dynamisch um die Wiederherstellung seines Vorkriegsvolumens.

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DLG:Herr Dykun, vor welchen Herausforderungen stehen die landwirtschaftlichen Erzeuger im siebten Kriegsmonat?

Dykun: Unter den Bedingungen des Krieges lassen sich die landwirtschaftlichen Erzeuger in der Ukraine in drei Gruppen einteilen: diejenigen, die nicht besetzt sind, die besetzt waren und es nicht mehr sind, und jenen, die unter Besatzung stehen.

Für Landwirte fern der Frontlinie besteht das Hauptproblem darin, die Produkte zu verkaufen. Wir alle wissen, dass die Häfen von Kriegsbeginn bis August geschlossen waren. Alle Agrarexporte wurden an die westlichen Grenzen umgeleitet, die auf solche Mengen nicht vorbereitet waren.

Bis zum 24. Februar exportierte die Ukraine jeden Monat 7 Mio. t landwirtschaftliche Erzeugnisse, davon 5 Mio. t über die Seehäfen. Im März dieses Jahres sank die Gesamtausfuhr auf 0,3 Mio. t. Doch bis August wurde diese Zahl schrittweise auf 4,5 Mio. t erhöht. Wenn die „grünen Korridore“ weiter funktionieren, erwarten wir positive Zahlen.

Es gibt jedoch ein weiteres Problem. Die blockierten Ausfuhren und hohen Lagerbestände haben dazu geführt, dass die lokalen Preise unter den Produktionskosten liegen. Und das bedroht die Aussaat im nächsten Jahr. Die Landwirte werden dafür einfach keine finanziellen Möglichkeiten haben.

Hoffen auf neues Getreideabkommen mit Russland

Wie können diese Probleme von den Landwirten aufgefangen werden? Welche Maßnahmen sollten von der Regierung ergriffen werden?

Dykun: Wir hoffen, dass dieses Problem durch die Verlängerung des „Istanbul-Abkommens“ – der Schwarzmeer-Getreide-Initiative – gelöst wird, und dass das Getreide weiterhin die ukrainischen Häfen verlassen wird. Wir hoffen auch, dass der Staat den Landwirten 20 bis 30 % des angesammelten Getreides zu normalen Preisen abkauft, damit unsere Bauernhöfe Geld haben, um die Aussaat im Frühjahr 2023 fortzusetzen.

Das ist ein erheblicher Betrag, nach unseren Schätzungen benötigen wir 4 Mrd. Dollar. Und in Kriegszeiten muss die ukrainische Regierung alle Mittel für militärische Zwecke einsetzen. Ohne die Hilfe unserer westlichen Partner ist es unwahrscheinlich, dass wir diese Summe erhalten. Aber es muss sein, denn sie wird uns helfen zu überleben und im Frühjahr die Felder zu bestellen.

Mit welchen Verlusten rechnet die Ukraine in der Getreideindustrie im Allgemeinen? Wie viel wird Ihrer Meinung nach in diesem Jahr geerntet werden?

Dykun: Nach unseren Schätzungen werden wir etwa 60 Mio. t ernten. Das Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung gibt 68 Mio. t an. Die Verluste sind zweifellos groß. Als Vergleich sollte man dabei aber nicht das letzte Jahr nehmen, das mit 107 Mio. t einen Rekord für die Ukraine darstellte. Immerhin erntete die Ukraine im Durchschnitt zuvor etwa 70 Mio. t pro Jahr.

Was macht der Krieg mit der Tierhaltung im Land?

Was ist mit dem Viehbestand? Von welchen Verlusten und Verwertungsbedingungen ist die Rede? Denn im Vergleich zum Pflanzenbau ist dieser Bereich sehr viel schwieriger zu restaurieren.

Dykun: Der derzeitige Rückgang der kommerziellen Schweineproduktion wird auf 13 bis 15 % geschätzt, sodass die jährliche Schweinefleischproduktion wahrscheinlich auf 365.000 bis 380.000 Schlachtgewicht-Äquivalent im Vergleich zu 432.000 im letzten Jahr zurückgehen wird. Nach Angaben des Schweinezüchterverbandes kann die Branche in ein bis zwei Jahren das Produktionsniveau der Vorkriegszeit erreichen.

Einen Rückgang gibt es auch im Milchsektor. Nach Angaben des Verbandes der Milcherzeuger beliefen sich die Tierverluste in diesem Zweig am 1. September auf mehr als 50.000 Kühe.

Das Gesamtvolumen der Milcherzeugung sank in den zurückliegenden acht Monaten um 15 % auf 5,1 Mio. t. Trotz erheblicher Verluste an Milchkühen im industriellen Sektor ging die Milcherzeugung in den Betrieben aus diesem Bereich in den letzten acht Monaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nur um 7 % auf 1,7 Mio. t zurück. Die Verluste in den privaten Haushalten sind viel höher und betragen mehr als 18,6 %. Das entspricht einem Rückgang auf 3,4 Mio. t.

Wir erwarten jedoch für dieses Jahr akzeptable endgültige Zahlen. Bis Ende des Jahres wird das Milchangebot für die Verarbeitung nicht unter 2 Mio. t liegen. Im letzten Jahr standen für die Molkereien noch 2,48 Mio. t zur Verfügung. Die erzeugte Menge wird ausreichen, um die Arbeit dort fortzusetzen. Die restliche Milchmenge wird in Privathaushalten erzeugt und dort konsumiert oder an die ländliche Bevölkerung direkt vermarktet.

All dies ist nur noch mit der Unterstützung aller Branchen des Agrarsektors möglich. Wenn die Unterstützung nicht rechtzeitig gewährt wird, können wir den gesamten Sektor, insbesondere die Viehwirtschaft, verlieren.

Aufbau und Entschädigung

Was sollten zerstörte Bauernhöfe tun? Können wir davon ausgehen, dass die ordnungsgemäße Dokumentation von Verlusten dazu beitragen wird, die Gelder für verlorenes Eigentum zurückzugeben?

Dykun: Dies ist einer der Bereiche, an denen der UAC gemeinsam mit USAID-AGRO (USAID = United States Agency for International Development, auf Deutsch: Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung, Anm. d. Red.) arbeitet.

Gemeinsam mit internationalen Rechtsexperten und unseren Juristen haben wir eine Methodik zur Schadensregulierung entwickelt. Allein auf Ebene des UAC haben sich mehr als 100 Unternehmen bei uns beworben, und wir unterstützen sie jetzt dabei. Wir wissen, dass es im Falle eines Sieges Zugang zu russischen Geldern aus Reparationszahlungen geben wird, und dass es internationale Unterstützung geben wird.

Daher muss das, was durch die Feindseligkeiten verloren gegangen ist, ordnungsgemäß erfasst und rechtlich registriert werden. Wir leisten dazu unseren Beitrag. Ich glaube, dass diejenigen, die einen Antrag gestellt haben, teilweise oder vollständig für den Verlust des Eigentums und der Gewinne entschädigt werden.

Der Anstieg der Energiekosten kann das Aus für viele landwirtschaftliche Betriebe in der Ukraine bedeuten. Wird der massenhafte Bau von Biogasanlagen hier Abhilfe schaffen können? Was muss der Staat tun, damit ausreichend große Betriebe die Möglichkeit haben, sich und die umliegenden Dörfer mit Biogas beziehungsweise Biomethan zu versorgen?

Dykun: Das ukrainische Ministerkabinett hat vor Kurzem einen Beschluss gefasst, der die Einspeisung des erzeugten Biomethans in das allgemeine Gasnetz erlaubt. Außerdem kann dieser Kraftstoff ins Ausland exportiert werden. Das hat diesen Markt neu belebt, und Unternehmer haben bereits Pilotprojekte zur Erzeugung von Biomethan für herkömmliche Gasnetze gestartet.

Biomethan für das Gasnetz oder Biogas, aus dem Strom für den Eigenbedarf und für die umliegenden Dörfer erzeugt wird, kann ein Ausweg aus der aktuellen Situation auf dem Energiemarkt sein. Es kann auch zu einer zusätzlichen Einkommensquelle für landwirtschaftliche Betriebe werden.

Zwei Faktoren können diesen Wirtschaftszweig fördern: staatliche Unterstützung und klare Spielregeln für diesen Markt. Die erste Möglichkeit kann sofort ausgeschlossen werden, da der Staat in Kriegszeiten kein Geld dafür bereitstellen wird. Aber der Staat kann transparente, gleiche und wettbewerbsfähige Bedingungen für alle schaffen, die dieses Geschäft betreiben wollen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um den Agrarsektor nach dem Krieg wieder aufzubauen?

Dykun: Wir müssen einen Mehrwert schaffen, und das geht nicht ohne weiterverarbeitende Betriebe. Die ukrainischen Landwirte können und wollen heute mit der Wertschöpfung beginnen. Dabei sollte es sich um große Unternehmen für die Verarbeitung von Agrarrohstoffen handeln. Oder wir müssen uns nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten in landwirtschaftlichen Genossenschaften zusammenschließen, die auch in der Verarbeitung tätig sind.

Wir müssen auch lernen, wie wir auf einem Hektar mehr produzieren können als bisher. Um diese Prozesse auf nationaler Ebene zu organisieren, brauchen wir aber Wissen. Wir haben bereits Verhandlungen mit der Universität Iowa über die Gründung einer landwirtschaftlichen Universität aufgenommen, die den ukrainischen Landwirten helfen soll, effizienter zu werden, das heißt auf der gleichen Fläche mehr zu produzieren.

Wo können die Betriebe sonst noch Unterstützung finden?

Dykun: Schon in den ersten Kriegstagen haben wir mit der Arbeit des humanitären Zentrums begonnen. Wir haben bereits Erfahrung darin, Menschen und Unternehmen in Krisensituationen zu helfen, wie etwa 2014 zu Beginn des Krieges mit Russland, während der Pandemie und ab dem 24. Februar dieses Jahres. Dieses Mal ist alles viel umfangreicher, und so habe ich mit Unterstützung der UAC, dem Verband der Milchproduzenten (AMP) und die Association of Pig Breeders (APB) den leistungsfähigen Wohltätigkeitsfonds SAVE UA gegründet.

Unsere Hauptaufgabe besteht darin, die Ernährungssicherheit in der Ukraine zu gewährleisten. Dies kann nicht erreicht werden, wenn wir den Agrarsektor jetzt nicht unterstützen. Seit den ersten Kriegstagen haben wir den landwirtschaftlichen Erzeugern geholfen. Wir beziehen unsere Kollegen und Unternehmen aus den europäischen Ländern ein. Gemeinsam mit USAID, der Schweizer Regierung und dem AMP haben wir schon drei Projekte zur Unterstützung des Agrarsektors gestartet.

Im September schloss sich die EuroTier 2022, die führende europäische Fachmesse für Tierhaltung, unserer Initiative an. Wir haben eine Partnerschafts-Spendenaktion organisiert. Wir sind dankbar, dass die Organisatoren der Ausstellung im Rahmen dieser Zusammenarbeit von jeder verkauften Eintrittskarte einen Euro spenden, der dem Wiederaufbau mehrerer vom Krieg betroffener landwirtschaftlicher Erzeuger zugutekommen wird.

Wir hoffen auch, am Stand der ukrainischen Landwirtschaftsverbände während der Ausstellung zusätzliche Mittel zu sammeln. Außerdem planen wir, den Messebesuchern am Stand ein Live-Feedback von ukrainischen Experten sowie aktuelle Statistiken und Experteneinschätzungen zum tatsächlichen Zustand des ukrainischen Agrarsektors zu bieten. Wir werden versuchen, den Dialog zwischen den Besuchern und den am Stand der Verbände vertretenen Unternehmen im Hinblick auf eine weitere produktive Partnerschaft zu erleichtern.

In diesem Jahr kann man also durch die Teilnahme an der EuroTier als Aussteller oder Besucher den ukrainischen Agrarsektor unterstützen und ihm helfen, seine Erholung zu beschleunigen. Wir ermutigen die Aussteller und Besucher aber auch zu Spenden, um die ukrainischen Landwirte für eine weitere produktive Partnerschaft zu unterstützen.

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