Die Versorgung mit Lebensmitteln funktioniert auch in der Corona-Krise hervorragend. Für Landwirte, Verarbeiter und vor allem für den Handel ist das ein Kraftakt, weil der Außer-Haus-Verzehr von Lebensmitteln praktisch zum Erliegen gekommen ist und sich dadurch die Warenströme extrem in Richtung Einzelhandel verschoben haben. Und weil viele Verbraucher allen Appellen zum Trotz mehr Vorratshaltung betreiben, als dies notwendig und sinnvoll ist. Trotzdem steht der Nachschub. Die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen einen hervorragenden Job.
Dennoch könnte Covid-19 die Wertschöpfungskette Nahrungsmittel fundamental verändern. Plötzlich ist die Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln wieder ein großes Thema. 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Risiko einer begrenzten Verfügbarkeit von Lebensmitteln fast völlig in Vergessenheit geraten. Das ist leichtfertig, wie das Corona-Virus zeigt. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass ein Virus oder andere schwer krankmachende Strukturen es plötzlich schaffen, sich flächendeckend über kontaminierte Lebens- und Futtermittel zu verbreiten. Die Erkenntnis ist nicht neu. BSE und EHEC lassen grüßen.
Aus der EHEC-Krise nichts gelernt
Typisch deutscher Alarmismus werden Sie jetzt denken. Wirklich? Haben Sie die Schockwellen der BSE-Krise von 2000 schon vergessen? Oder die Folgen des EHEC-Falls von 2011? Damals erkrankten in Deutschland über 4.000 Menschen vermutlich durch verunreinigten Bockshornkleesamen aus Ägypten. 53 Menschen starben an der Infektion. Es dauerte quälend lange Tage und Wochen bis die Behörden den Ursachen der EHEC-Infektionen auf den Grund kamen.
Auch die Folgen für die Märkte waren verheerend: BSE und EHEC lösten jeweils massive Preis- und Absatzschocks bei Rindfleisch und Gurken, Tomaten und Salat aus. EU, Bund und Länder griffen den betroffenen Landwirten finanziell unter die Arme, um deren Liquidität zu schützen und bei BSE organisierte der Staat ein gigantisches Sicherheitssystem, dessen Kosten weitgehend der Steuerzahler trug und bis heute trägt. Grundsätzlich hinterfragt wurde die Wertschöpfungskette Lebensmittel aber nie.
Weitermachen wie bisher?
Wollen wir das nach dieser Krise auch wieder so halten? Oder ist es notwendig, Produktion, Verarbeitung und Vermarktung unserer Lebensmittel vom Acker bis zum Teller einem Stresstest zu unterziehen. Dabei stellen sich viele Fragen:
- Wie zuverlässig funktioniert die weltweite Lebensmittelkontrolle?
- Wie nachhaltig und wie fair ist die globale Nahrungsmittelproduktion? Können wir uns die unterschiedlich hohen Umwelt-, Tier-, Klimaschutz- und Sozialstandards in der Welt inhaltlich und wirtschaftlich auf Dauer noch leisten?
- Wie ist es um die Versorgungssicherheit mit Futtermitteln in Europa bestellt, wenn plötzlich kein Soja mehr aus Süd- oder Nordamerika käme?
- Wer erntet unser Obst und Gemüse und wer schlachtet unsere Tiere, wenn von heute auf morgen die Saisonarbeitskräfte und Werkvertragsnehmer aus Osteuropa fehlen?
- Müssen wir aus Sicherheitsgründen wieder mehr Lagerhaltung betreiben? Wer ist dafür verantwortlich, der Staat oder jeder Einzelne?
- Sind Nahrungsmittel im globalen Handel anders zu bewerten als Waren, die nicht zur Grundversorgung gehören?
- Sind regionalere Wertschöpfungsketten die Lösung? Und wenn ja, was ist eine Region: ein Bundesland, ein Nationalstaat oder die Europäische Union?
- Was wollen die Verbraucher? Ist Versorgungssicherheit für sie ein Thema?
Versorgungssicherheit wird wieder zum Thema
Erste Signale sprechen für eine gestiegene Sensibilität. „Mir ist es wichtig, dass wir in Deutschland weiterhin eine funktionierende Landwirtschaft haben“, rief mir kürzlich eine Nachbarin aus sicherer Entfernung über den Gartenzaun zu. Das geht anderen offenbar auch so. Aktuell verzeichnen viele Direktvermarkter deutlich mehr Kunden als üblich. Der Preis rückt in den Hintergrund, wenn Nahrungsmittel vermeintlich knapp werden.
Was ist nun zu tun? Einfach die nationale Karte spielen und regionale Wertschöpfungsketten verordnen, greift sicher zu kurz. Beispiel Irland: Die Iren können die Milch und das Rindfleisch, das sie produzieren, beim besten Willen nicht komplett selbst verzehren. Aber was sollen sie sonst mit ihrem Grünland machen? Sie müssen exportieren, um dafür andere Lebensmittel zuzukaufen, die auf der grünen Insel nicht oder nicht in ausreichender Menge produziert werden können. Das heißt, es ist nicht sinnvoll, den internationalen Handel komplett einzustellen.
Aber wie finden wir Maß und Mitte? Wie kommen wir zu Rahmenbedingungen für die Agrar- und Ernährungswirtschaft,
- die eine Nutzung der natürlichen Standortvorteile einzelner Regionen ermöglicht,
- die faires und nachhaltiges Wirtschaften überall auf der Welt sicherstellt und
- die zugleich die wachsenden Risiken der Versorgungssicherheit im Auge behält?
Wer sich ehrlich macht, wird zugeben, dass die Europäische Union und die Welthandelsrunde auf diese Fragen in den vergangenen 20 Jahren keine Antworten gefunden haben.
Wir brauchen eine Zukunftskommission Landwirtschaft und Lebensmittel
Und jetzt? Wer im Großen keine Antworten findet, muss im Kleinen beginnen. Wissen wir in Deutschland, was wir wollen, wie unsere Land- und Ernährungswirtschaft in Zukunft aussehen soll? Die Antwort lautet: Nein, wir wissen es nicht. Das macht die kritische Debatte der vergangenen Jahre über die Zukunft des Pflanzenschutzes und der Tierhaltung sehr deutlich.
Die Bundeskanzlerin hat nicht ohne Grund eine „Zukunftskommission Landwirtschaft“ ins Leben gerufen. Deren Aktionsradius ist allerdings viel zu eng angelegt. Für eine echte gesellschaftliche Debatte muss Frau Merkel nicht nur die Landwirte mitnehmen, auch die Verarbeiter, die Umwelt- und Tierschutzverbände und vor allem der Lebensmittelhandel und die Verbraucher müssen mit ins Boot.
Wir brauchen eine „Zukunftskommission Landwirtschaft und Lebensmittel“, in der die Vertreter der gesamten Wertschöpfungskette sitzen. Sonst springen wir bei den Zukunftsfragen viel zu kurz. Und wir brauchen für diese Zukunftskommission eine Moderatorin oder einen Moderator, die bzw. der unabhängig ist, strategisch denkt und vernetzt arbeitet. So wie Jochen Borchert das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung leitet.
Noch stehen wir bei der Corona-Krise am Anfang. Niemand weiß derzeit wirklich, ob die beschlossenen Maßnahmen greifen. Jeder in der Branche sollte trotzdem schon jetzt die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, wie es danach weitergehen soll!