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So komplex lassen sich "die wahren Kosten von Lebensmitteln" berechnen

True Cost Accounting ermittelt die wahren Preise von Lebensmitteln, wenn Umwelt- und Folgekosten einbezogen würden. Ein Discounter macht mit dem komplexen Thema Marketing. Zum Hintergrund.

Lesezeit: 10 Minuten

Hinweis: Der folgende Text ist bereits im Jahr 2021 in der f3 - farm. food. future. erschienen und wird aus aktuellem Anlass noch einmal veröffentlicht.

4% Preisaufschlag auf konventionelle Äpfel, 30% auf Bio-Mozzarella und 173% auf konventionell produziertes Fleisch. Diese Preise haben die Universitäten Augsburg und Greifswald im Auftrag des Discounters Penny im Rahmen eines Experimentes berechnet. Das Ziel: Herausfinden, wie viel Lebensmittel wirklich kosten müssten, wenn man auch die Umwelt-Folgekosten mit einbezieht, die während der Produktion und der gesamten Lieferkette entstehen. Solche Überlegungen werden derzeit vielerorts angestellt. Die Fragestellungen bündeln sich unter dem Begriff „True Cost Accounting“ (z. dt.: Berechnung der wahren Kosten).

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Wahre Kosten von Rindfleisch

Das Thema ist komplex. Ein Beispiel soll es verständlicher machen: Nehmen wir ein konventionell produziertes Kilo Rindfleisch zu Hand. Mehrere Treiber werden in den aktuellen Marktpreis nicht einberechnet: Unter anderem Stickstoffaustragungen bei der Düngung der angebauten Futtermittel, Treibhausgasemissionen durch Methanausstoß und die verwendete Energie. In der Berechnung der „wahren Kosten“ werden diese Treiber über die Wertschöpfungskette bis zum Verkauf des Fleisches mit einbezogen. Da es sich um klimatisch relevante Stoffe handelt, könnten sie die Basis für gerecht verteilte CO2-Steuern sein und die Preisverzerrung wieder geraderücken.

Drei Treiber: Stickstoff, Treibhausgase, Energie

Das hofft jedenfalls Dr. Tobias Gaugler von der Universität Augsburg. Seine Studie „How much is the dish?“ ist das Fundament des Penny-Experiments. Die Studie befasst sich mit der Frage, ob Ladenpreise auch die Folgekosten einbeziehen. Um den Umfang der Studie einzugrenzen, werden die drei Treiber Stickstoff, Treibhausgase sowie Energie betrachtet.

Die Forscher betonen, kein „Bauernbashing“ betreiben zu wollen.
Auszug

„Wir sind im Grunde für eine objektive Datensammlung und -aufbereitung zuständig“, sagt Tobias Gaugler. „Ich sehe allerdings die Verantwortung zuvorderst bei der Politik und denke, dass die Preisverzerrung in Form von gerecht verteilten CO2-Steuern wieder geradegerückt werden kann.“ Die Forscher an den Universitäten Augsburg und Greifswald betonen, kein „Bauernbashing“ betreiben zu wollen. Es geht ihnen nicht darum aufzuzeigen, wie schlecht der Landwirt wirtschaftet, sondern dass sich der ganze Agrarsektor bzw. die ganze Wirtschaft systemisch verändern muss.

Denn: Derzeit werden diese „unsichtbaren“ Kosten von Produzenten und Händlern jeglicher Branchen verursacht, aber von der Gesellschaft und von künftigen Generationen getragen – beispielsweise in Form von Steuern. Darunter fällt etwa auch die Aufbereitung von verunreinigtem Grundwasser. Man spricht hier von externen Kosten bzw. externen Effekten, die bisher nicht in den Marktpreis für Lebensmittel inkludiert wurden und zu Preisverzerrungen führen. Würden von Anfang an die wahren Kosten transparent auf dem Preisschild stehen, könnte das die Kaufentscheidung der Verbraucher dahingehend beeinflussen, als dass eben nicht mehr jeden Tag Fleisch auf dem Einkaufszettel steht, so die Theorie der Forscher.

Die Berechnung

Für die Berechnung werden die externen Kosten ins Verhältnis zu den entsprechenden Erzeugerpreisen gesetzt. So ergibt sich der Preisaufschlag. „Wir haben die Durchschnittswerte der Preisaufschläge berechnet und dabei pflanzliche und tierische sowie konventionell und biologisch produzierte Produkte verglichen“, sagt Dr. Gaugler. Den größten Preisaufschlag gibt es bei konventionell produziertem Hackfleisch mit 173%. Pflanzlich produzierte Lebensmittel verzeichnen den geringsten Preisaufschlag von 13% im konventionellen und 6% im biologischen Bereich. „Obwohl es eigentlich mit in die Rechnung einbezogen werden müsste, lassen wir Themen wie soziale Folgekosten und Tierwohl bisher außen vor. Trotzdem sind die externen Kosten extrem hoch“, fügt er hinzu.

Ansatz der True Cost Initiative

Was in den Universitäten noch reine Theorie ist, wird in der „True Cost Initiative“ in die Praxis umgesetzt. Verschiedene Unternehmen und Organisationen sind Teil dieser Initiative, um True Cost Accounting voranzutreiben. Darunter die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young, die GLS Bank, Unternehmen wie HiPP, Lebensbaum, Martin Bauer, Primavera und das Handelsunternehmen GEPA sowie die Entwicklungshilfe Organisation Misereor. Koordiniert wird die Initiative von der Beratung Soil & More und dem Think Tank TMG.

Gemeinsam wird eine Richtlinie entwickelt, die Natur-, Sozial- und Humankapital entlang der Wertschöpfungskette betrachtet. Im Vergleich zu anderen True Cost Ansätzen berücksichtigt die Richtlinie der Initiative nicht nur die zusätzlichen Kosten, sondern auch den potenziell generierten Nutzen landwirtschaftlicher Betriebe. Im Vergleich zu Dr. Gauglers Ansatz werden hier Boden und Wasser sowie Aspekte des Sozial- und Humankapitals einbezogen. Außerdem werden keine Durchschnittswerte berechnet, sondern die wahren Kosten für einzelne Produkte, basierend auf landwirtschaftlichen Primärdaten.

Die Pflege des Bodens zum Beispiel durch Untersaat, Zwischenfrucht und Kompost sind für uns Pflege der Kapitalanlage Boden und reduziert so Ausfallrisiken.
Tobias Bandel, Soil & More

„Die heutige landwirtschaftliche Praxis hat Auswirkungen auf die Profitabilität morgen. Die Pflege des Bodens zum Beispiel durch Untersaat, Zwischenfrucht und Kompost sind für uns Pflege der Kapitalanlage Boden und reduziert so Ausfallrisiken“, sagt Tobias Bandel, Mitgründer von Soil & More und Co-Koordinator der True Cost Initiative. Die Initiative versucht das Thema auf eine betriebswirtschaftliche und risikopräventive Ebene zu heben und Landwirten ein Tool an die Hand zu geben.

Dieses Tool soll nicht nur dem Betriebsleiter, sondern auch Interessengruppen wie Banken, Versicherungen und Lebensmittelproduzenten veranschaulichen, dass die geringere Profitabilität eines Betriebs heute, bei Einsatz von nachhaltigen Methoden, morgen eine Menge Geld einsparen kann. Für den Endverbraucher bedeutet das etwas höhere Preise heute, aber einen geringeren Preisaufschlag morgen. Die Beteiligten der Initiative sind sich einig: Auf Politik und Konsumenten können sie nicht warten, es muss jetzt gehandelt werden, um klimatische Veränderungen aufzuhalten.

Das Tool

Die Beratung Soil & More entwickelt eine Lösung, die wahren Kosten im Bereich Boden, Klima und Wasser auf landwirtschaftliche Ebene zu erheben. Dr. Gaugler spricht hier von einer Bottom-Up-Lösung im Gegensatz zu seinem Top-Down-Ansatz. Datenerhebungen und Auswertungen generieren einen Bericht, der zu diesen drei Faktoren die positiven und negativen Aspekte eines Betriebes oder Produktes berechnen.

Die Preispolitik des Handels legt Landwirten dermaßen die Daumenschrauben an, dass sie gar keinen Spielraum haben, eine Landwirtschaft zu betreiben, die sich systematisch auf das sich ändernde Klima einstellen kann.
Tobias Bandel, Soil and More

Dazu nutzt die Beratung eine Cloud Lösung und bestehende Tools wie das sogenannte „Cool Farm Tool“ und die allgemeine Bodenabtragsgleichung. Diese Methodik wird auf True Cost Ebene erweitert: „Wir arbeiten an einer Richtlinie, die beschreibt, wie man das Natur-, Sozial- und Humankapital in der Landwirtschaft und in der Lieferkette auf die positiven und negativen Externalitäten berechnet. Dieses Tool wird momentan erweitert und auf einigen Testbetrieben pilotiert“, sagt Tobias Bandel.

Ernst & Young fungiert als Berater und führt Qualitätschecks durch, indem sie einen sogenannten Audit Readiness Check durchführen. So kann veranschaulicht werden, inwiefern ein landwirtschaftliches System zum Beispiel seine Resilienz gesteigert hat. Denn Bandel ist der Meinung: „Mit der Anzahl von Regenwürmern kann ein Finanzkontrolleur nun mal nichts anfangen. Wir versuchen das ganze durch unsere Berechnungsmethoden greifbarer zu machen.“

Die Daumenschrauben des Handels

Darüber hinaus beschäftigt sich die True Cost Initiative mit den Beschaffungsorganisationen, also dem Handel. Tobias Bandel geht davon aus, dass dieser einen essentiellen Beitrag zur Lösung der Herausforderungen leisten kann. Er sagt: „Die Preispolitik des Handels legt Landwirten dermaßen die Daumenschrauben an, dass sie gar keinen Spielraum haben, eine Landwirtschaft zu betreiben, die sich systematisch auf das sich ändernde Klima einstellen kann.“

Dies ist auch der Grund, warum zunehmend Wirtschaftsprüfer, Versicherer und Rating Agenturen den Handel adressieren. Denn der Handel hat ein Beschaffungsrisiko und ist zunehmend dazu gezwungen, Naturkapitalrisiken zu berücksichtigen. Hier kommt mit dem sogenannten „SMlrisk“ auch ein Tool zum Einsatz, dass frühzeitig Klimaauswirkungen auf die landwirtschaftliche Lieferkette bewerten kann.

Ansatz eines Discounters

Beim oben genannten Experiment hat der Penny-Supermarkt acht Produkte berechnen lassen und verkauft diese in seinem Vorzeigemarkt „Penny Grüner Weg“, der im September 2020 in Berlin-Spandau eröffnete. (Anm. der Redaktion: Aktuell hat Penny die Aktion ausgeweitet, top agrar berichtet.) Diese Produkte tragen zwei Preisschilder: Den herkömmlichen Marktpreis und den sogenannten „wahren Preis“. Die Kunden zahlen allerdings nach wie vor den herkömmlichen Preis. Wozu also das Ganze?

Das Experiment hat erstmals die Aufmerksamkeit einer breiteren Masse auf das Thema True Cost Accounting gelenkt. Es geht dem Discounter im ersten Schritt darum, das Konzept durch die Aktion zu thematisieren und zu testen, wie Kunden sich den erhöhten Preise gegenüber verhalten. „Der Discounter unterwirft sich mit dieser Aktion einem großen Versprechen und wird, so hoffe ich, weitere Taten folgen lassen“, erklärt Dr. Tobias Gaugler. „Wir arbeiten momentan mit dem Penny-Team daran, die Idee weiterzuentwickeln.“ Wie diese Taten aussehen werden, ist allerdings noch unklar.

Aus Unternehmenssicht

Auch Unternehmen sind in die Thematik eingestiegen, denn sie haben Interesse an einer einheitlichen Methodik für die Erfassung der wahren Kosten. Bisher können Unternehmen sowohl ihre positiven als auch negativen Effekte auf die Umwelt nicht wirklich bilanzieren. Nur wenn Unternehmen mit gleichem Maßstab gemessen werden, wird die Basis für die Preisgestaltung gerecht sein.

„Durch den Ansatz von True Cost Accounting würden nachhaltiges Wirtschaften und nachhaltige Investitionen gefördert und belohnt“, davon ist Dr. Johannes Knubben, Nachhaltigkeitsmanager bei HiPP, überzeugt. Die Unternehmen versuchen damit Pionierarbeit für das ganze Wirtschaftssystem zu leisten. „Ich denke, dass jeder Teil der Wertschöpfungskette seine Verantwortung wahrnehmen und externe Kosten in seinem Bereich berücksichtigen muss“ ergänzt Dr. Knubben. „Profiteur ist in erster Linie die Gesellschaft, da sie ja heute bereits versteckte Aufwände zahlen muss.“

Was bedeutet das für den Landwirt?

„Die meisten Landwirte, denen ich die Frage stelle, was sie auf ihrem Betrieb tun würden, wenn Geld keine Rolle spiele, haben viele Ideen, die sie vor allem in der Bodenverbesserung gerne umsetzen würden“, sagt Tobias Bandel von Soil & More. „Allerdings fehlt ihnen oftmals das Geld. Mit der momentanen Preispolitik und der Wertschöpfung der Gesellschaft ist der Landwirt in ein Korsett gezwungen, was ihm wenig Flexibilität erlaubt.“

Die Initiative ist momentan mit zwei großen deutschen Banken im Gespräch. Deren Interesse: Ein einfaches Indikatorenset, an dem sie erkennen können, welche Aufwendungen der Landwirt hat, um zum Beispiel den Boden zu verbessern. Landwirte, die heute also wegen zusätzlicher Präventivmaßnahmen schlechtere Profitabilität haben, bekommen trotzdem Chance auf einen Kredit. Denn die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass sie ihn in ein paar Jahren zurückzahlen können.

Neben den Anreizen von Versicherung und Krediten sollen die Landwirte aber auch einen fairen Preis für ihre Produkte erhalten, um umweltfreundlicher handeln zu können. „Die Abnehmer, also die Handelsunternehmen, müssen durch entsprechende Gesetze dazu gebracht werden, bestimmte Auflagen zu erfüllen, damit ihre Praktiken nicht zu externen Kosten führen“, betont Tobias Bandel. „Es ist aber im eigenen Interesse, heute mehr in die Wartung des Naturkapitals in der Lieferkette zu investieren, um morgen lieferfähig zu sein, egal was die Politik sagt“ ergänzt er. Warum ist der Handel daran interessiert? Weil er abhängig von der Lieferbarkeit von Agrarstoffen ist und der Landwirt im Rahmen der klimatischen Veränderungen mehr finanziellen Spielraum für Anpassung braucht.

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